“Einsturzgefahr!“
Uruguays SchülerInnen und Studierende protestieren gegen die Bildungspolitik der neuen liberal-konservativen Koalitionsregierung
Ende Oktober 1999 ging das linke Bündnis Encuentro Progresista-Frente Amplio (EP-FA) mit 39, 5 Prozent der Stimmen erstmals als stärkste Partei aus den nationalen Wahlen hervor. Tabaré Vázquez, ehemaliger Bürgermeister von Montevideo und Präsidentschaftskandidat der EP-FA, hatte gute Chancen auch die Stichwahlen vom 28. November desselben Jahres zu gewinnen. Doch ein Bündnis des zweitplatzierten Kandidaten der Liberalen Colorado-Partei Jorge Batlle mit den deutlich unterlegenen konservativen “Blancas” verhinderte schließlich einen Wahlsieg der Linken und Batlle wurde zum neuen Präsidenten Uruguays gewählt.
Ein Jahr später hält eine massive Streik- und Protestwelle, getragen von SchülerInnen und Studierenden, das Land in Atem. Es geht den Protestierenden nicht etwa um eine weitergehende Erhöhung des Bildungsbudgets auf die von der UNESCO empfohlenen 6 Prozent, sondern schlicht und einfach um die Einhaltung der von der Regierung eingegangenen Verpflichtungen. Der Zustand der Schulen und die allgemeinen Lernbedingungen sind miserabel. Die Proteste nahmen ihren Anfang, als am 29. August in Montevideo das Liceo Zorrilla von SekundarschülerInnen besetzt wurde. Sie forderten außer den erwähnten 4,5 Prozent die Zurücknahme einer Reihe von neuen Schulgesetzen, die unter anderem ein verschärftes Verhaltensreglement sowie die Einschränkung der Versammlungsfreiheit der SchülerInnen beinhalten. Im Oktober 2000 folgten weitere Schulbesetzungen in der Hauptstadt und erstmals auch im Landesinneren. Und am 24. Oktober schloss sich die zentrale Vertretung der StudentInnen der staatlichen Universidad de la República den Protesten an. Der unbefristete Generalstreik wurde beschlossen und mehrere Institute besetzt.
Neue Formen des Widerstandes
Der November war geprägt von einer Ausweitung der Aktionen auf die großen Gewerkschaften Uruguays. Unter dem Motto “Alle für die Universität” gingen Mitglieder der Universitäten, StudentInnen und SchülerInnen zusammen mit GewerkschafterInnen, ArbeiterInnen und PolitikerInnen im Rahmen einer Massendemonstration auf die Straße. Der Dachverband der Gewerkschaften PIT-CNT führte am 10. November einen Generalstreik durch, und bis jetzt ist ein Ende der Protestaktionen nicht absehbar.
Der seit fast drei Monaten andauernde Konflikt beschäftigt die uruguayanische Öffentlichkeit nicht nur wegen seiner dramatischen Ausweitung, sondern auch wegen des Auftretens völlig neuer Formen des Widerstandes. Die Bewegung der SchülerInnen des Jahres 2000 hebt sich von den altbekannten Organisationsformen des StudentInnenprotestes in grundlegenden Fragen deutlich ab. Große Teile der etablierten Gesellschaft reagieren mit Ratlosigkeit und Unverständnis auf eine neue Generation von Jugendlichen, die die hierarchische Ausrichtung der Erwachsenenwelt prinzipiell in Frage stellt.
Der Soziologe Gustavo Leal beobachtet seit einigen Jahren das Verhältnis zwischen SchülerInnen und Behörden. Er arbeitet bei der Nichtregierungsorganisation El Abrojo und ist außerdem Berater des Interamerikanischen Institutes des Kindes. Leal spricht in seiner Analyse der Vorkommnisse bewusst nicht von einer Schülerbewegung, sondern von „SchülerInnen in Bewegung“, und meint damit die Vielfalt der gestellten Forderungen. Jede einzelne Schule definiert ihre eigene Plattform und bewahrt trotz der notwendigen Koordination mit den anderen Instituten ein großes Maß an Autonomie. Diesen Wechsel von dem Modell einer zentralisierten Führungsebene zu den weitaus horizontaleren Organisationsformen der neuen Jugendbewegung führt der Soziologe auf die politische Entwicklung der letzten 15 Jahre zurück.
Die StudentInnenbewegung der 60er Jahre hatte auf einige wenige Schlüsselfiguren gesetzt, die eine bestimmte Haltung repräsentierten. Nach dem Ende der Militärdiktatur in Uruguay im Jahr 1985 bis zum Anfang der 90er Jahre hatte dieses Modell der starken Führungspersönlichkeiten, die als Identifikationsfiguren für die Massen zu dienen hatten, in den sozialen Bewegungen seine maximale Ausprägung gefunden. Im Verlauf der 90-er Jahre hatten diese Organisationen jedoch verstärkt einen Verlust an Mitgliedern und politischem Gewicht zu verzeichnen. Viele lösten sich auf, was unter anderem auf den Untergang des sozialistischen Blockes nach dem Ende des kalten Krieges zurückzuführen ist.
Bruch mit alten Formen
Als Antwort auf diese Entwicklung kam dann ein verstärktes Streben nach mehr Demokratie und Autonomie, sowie eine größere Flexibilität in den Protestbewegungen. Dieser Bruch mit den alten Formen äußert sich vor allem in dem Prinzip der kollektiven Führung, welches die SchülerInnen praktizieren. Gustavo Leal vergleicht das Phänomen mit einer Rückkehr zu den griechischen Versammlungen, bei der die Mitsprache von unten das Hauptanliegen war. Es gibt weder allgemein akzeptierte Führungsgremien noch fest definierte VertreterInnen. Alles funktioniert nach den Regeln der Rotation. Die SprecherInnen, die die Verhandlungen mit den Behörden führen und der Presse gegenübertreten, wechseln täglich.
Die Weigerung der Jugendlichen der Forderung der Erwachsenen nach traditionellen Repräsentationsformen nachzukommen, verunsichert diese zutiefst. JournalistInnen und Beamte suchen vergeblich nach soliden Organisationen mit bekannten Gesichtern, so wie sie es von früher gewöhnt waren. Das führt zu einem akutem Kommunikationsproblem. Eine Gesellschaft, die auf neue Erscheinungen im Allgemeinen und die Jugend im Speziellen mit genereller Skepsis reagiert, ist mit Schülern konfrontiert, die gegenüber den Schulbehörden, den Medien und der Polizei tiefes Misstrauen empfinden.
Dieses Misstrauen hat viele Ursachen. Viele Aktivisten mussten schlechte Erfahrungen machen, nachdem sie ihre Identität bekannt gegeben hatten. Teil des reformierten Schulgesetzes ist die Einführung eines Strafkataloges, der die Bildung einer politischen Organisation und die Besetzung einer Schule als schwere Vergehen einstuft und entsprechend harte Sanktionen festschreibt. Politische Aktivität an der Schule kann sehr schnell Verweise und mehrmonatige Schulausschlüsse nach sich ziehen. Die mit der im Jahr 1996 verabschiedeten Bildungsreform eingeführten Gesetze sind Ausdruck einer autoritären Bildungspolitik, die vom ehemaligen Präsidenten Sanguinetti initiiert wurde und nun unter seinem Nachfolger und innerparteilichen Konkurrenten Batlle ihre Kontinuität findet. Der Bildungsminister Antonio Mercader vertritt im Umgang mit den Protestierenden die harte Linie, die seine Partei, die Blancos, in der Öffentlichkeit propagiert.
Journalisten sind in der Berichterstattung über die Proteste mit offener Feindseligkeit konfrontiert. Nur selten und ungerne werden Interviews gegeben. Man wirft der nationalen Presse mangelnde Objektivität und die systematische Verfälschung der von den Schülern gemachten Aussagen vor. Auch die Polizei hat bis jetzt weitgehend auf vertrauensbildende Maßnahmen verzichtet und sich auf die „filmische Dokumentation“ der Proteste konzentriert.
Diese Umstände brachten viele Jugendliche dazu, sich in der Öffentlichkeit nur noch vermummt zu zeigen, was einen weiteren Schrei der Empörung in der Erwachsenenwelt verursachte. Die Behörden verlangen zu wissen, mit wem sie sprechen, da sonst ein Dialog unmöglich sei, während die Schüler ihre Anonymität mit einem Mangel an Garantien für eine Nicht-Sanktionierung rechtfertigen.
Trotzdem beteuern sowohl Bildungsbehörden als auch die Regierung immer wieder ihr Verständnis und ihre Dialogbereitschaft. Selbst der Präsident sagt: „Mit den Schülern muss man reden.“ Auch das ist ein Novum: 1996 hatte es anlässlich der der anstehenden Bildungsreform ebenfalls zahlreiche Streiks und Schulbesetzungen gegeben. Damals war die Haltung der offiziellen Seite vollkommen kompromisslos, an einen Dialog war nicht einmal zu denken. Nach den ersten Besetzungen diesen Jahres wurde auf Initiative des Rates der Sekundarstufe eine Kommission einberufen, die zusammengesetzt aus Inspektoren, Lehrern und Schülern die Möglichkeiten einer eventuellen Änderung der umstrittenen Gesetze ausloten sollte. Jedoch bereits die Forderung der Schüler nach Beschlussfähigkeit der Kommission überspannte die Kompromissbereitschaft der Behörden und verhinderte von Anfang an die erhofften Verhandlungserfolge. Leal konstatiert hier im Vergleich zur Protestbewegung des Jahres 96 eine weitaus pragmatischere Ausrichtung der Schüler, die viel stärker auf konkrete Verhandlungsergebnisse fixiert seien.
Die breite Solidarisierung mit den Belangen der Sekundarschüler von Seiten der Studierenden und der Gewerkschaften ist auf den grundsätzlichen Charakter ihrer Forderungen zurückzuführen. Gustavo Leal verweist auf den Bruch der Konvention über die Rechte des Kindes, den die Beschneidung ihrer Meinungsfreiheit darstellt. Er fordert eine grundsätzliche Demokratisierung des Bildungssystems. Die Gewerkschaften nahmen die Auseinandersetzungen der letzten Wochen zum Anlass für eine Generalmobilisierung gegen die neoliberale Politik der neuen Regierung. Trotz völlig unterschiedlicher Geschichte und teilweise anderen Motiven verfügen auch StudentInnenbewegung und „SchülerInnen in Bewegung“ über eine gemeinsame Basis. Sie teilen die Forderung nach einer spürbaren Erhöhung des Bildungshaushaltes, der mit 2,9 Prozent des Bruttoinlandproduktes der niedrigste aller Länder Lateinamerikas ist. Der Ruf Uruguays als eine Hochburg der demokratischen Bildung ist damit längst nicht mehr gerechtfertigt.
Am 4. Dezember bestimmte eine Vielzahl von leuchtend gelben Bauhelmen das Bild von Montevideos zentraler Verkehrsader Avenida 18 de Julio. Hunderte Studenten hatten das Hauptgebäude der größten staatlichen Universität in eine riesige Baustelle verwandelt. Auf ihren Schildern stand: “Achtung, Einsturzgefahr!“
Der Autor dankt dem Instituto Cuesta Duarte, Montevideo, dessen Unterstützung bei der Recherche für den Beitrag unersetzlich war.