ENDLICH ABHEBEN
Die Bevölkerung des französischen Übersee-Departements hat es satt, von Paris vernachlässigt zu werden
Diesen 1. Mai musste man in Französisch-Guayana ohne die traditionellen, glückbringenden Maiglöckchen auskommen. Es wurden keine geliefert. Die seit Wochen anhaltenden sozialen Proteste ungekannten Ausmaßes in dem Übersee-Departement behindern unter anderem die Einfuhr der gewohnten Importe. Schon zu Ostern seien die Florist*innen um ihr Geschäft gebracht worden, jetzt hofften sie auf den Muttertag, informierte franceinfo zum Maifeiertag. Dabei sind die Maiglöckchen eine kleinere Sorge, die sich mit Schmunzeln und Schulterzucken hinnehmen ließe, während der Grund für die Massendemonstrationen, den Aufruf zum unbefristeten Generalstreik, die Blockaden von Straßen, Häfen und Flughäfen bis hin zur Besetzung des Weltraumbahnhofs in Kourou in einer ernsten sozialen Schieflage zu suchen ist.
Fotos: Santiago Engelhardt
Jünger und ärmer als im europäischen Mutterland sind die Menschen in Französisch-Guayana, die Lebenshaltungskosten dagegen sind teurer. Doch die Bewohner*innen des Übersee-Departements wollen sich die Benachteiligung nicht mehr gefallen lassen. Sie sind EU-Angehörige wie ihre französischen Mitbürger*innen, bezahlen mit dem Euro und haben es satt, in 7.000 Kilometer Entfernung von ihrer Pariser Regierung vergessen oder ignoriert zu werden. Besonders in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur fordern sie substanzielle Investitionen, um den Entwicklungsrückstand zum Rest der Europäischen Union aufzuholen. Der Weltraumbahnhof in Kourou, der vom 1980 gegründeten europäischen Raumtransportunternehmen Arianespace betrieben wird, steht dabei symbolisch für die enorme Kluft: Außerhalb des hochentwickelten Technologiezentrums haben 30 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu Trinkwasser oder Elektrizität; 20 Prozent – bei den unter 25-Jährigen sogar 40 Prozent – finden keine Arbeit. Damit nicht genug, belegen viele weitere Zahlen die Misere des ärmsten Departements Frankreichs, dem letzten nicht-autonomen Gebiet auf dem südamerikanischen Kontinent. Dass die Bevölkerung durch eine hohe Geburtenrate und Zuwanderung schnell wächst, verschärft die Probleme.
Im Bildungssektor mangelt es an Schulen. Die Quote der Schulabbrüche liegt ebenso erschreckend hoch wie die beim Analphabetismus. In der Gesundheit mangelt es an Ärzt*innen. Auf die gleiche Einwohnerzahl kommen in Französisch-Guayana nur halb so viele Allgemeinmediziner*innen und sogar viermal weniger Fachärzt*innen als im Mutterland. Zu den medizinischen Herausforderungen zählen eine erhöhte Sterblichkeit von Kindern und Müttern ebenso wie die Dengue-, Chikungunya- und Zika-Viren.
Die französisch-guayanische Wirtschaft ist wenig diversifiziert, größte Arbeitgeber sind das Raumfahrtzentrum Kourou und der öffentliche Dienst. Ansonsten mangelt es an Investitionen. Aufgrund der geltenden EU-Handelsreglementierungen darf das Übersee-Departement außerdem keine Produkte aus südamerikanischen Ländern importieren, die nicht den EU-Standards entsprechen, was zu seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit und Isolierung führt. Daneben wurden die Transportwege vor allem im Landesinneren kaum ausgebaut. 90 Prozent der Bevölkerung leben an der Küste, doch ein Drittel der 22 guayanischen Kommunen verteilt sich auf acht Millionen Hektar tropischen Regenwald. Das entspricht 90 Prozent eines Gesamtterritoriums, das etwa der Fläche Österreichs gleichkommt. Diese Ortschaften sind nicht über Straßen zu erreichen, nur die größten verfügen über direkte Wasser- oder Luftverbindungen in die Küstenregion. Zum Teil müssen mehrere Stunden im Boot zurückgelegt werden, um auch nur eine ärztliche Grundversorgung zu erhalten.
Wohin steuert Französisch-Guayana? Auf jeden Fall soll es so nicht weitergehen
Mit 42 Morden und 2.338 Raubüberfällen im Jahr 2016 bei einer Einwohnerzahl von ca. 282.000 ist Französisch-Guayana auch das unsicherste Departement mit der höchsten Gewaltrate. Die systematisch unterbesetzte Polizei muss sich außerdem mit illegalem Goldabbau und Immigration sowie dem rasant zunehmenden Drogenhandel auseinandersetzen, wobei die geographischen Gegebenheiten die Aufgabe umso mehr erschweren. Angesichts all dieser Missstände forderte die Protestbewegung drei Milliarden Euro, die sie am 21. April per Unterschrift von der französischen Regierung zugestanden bekam.
Diesem Abkommen war die Verkündigung eines „Notfallplans“ über knapp 1,1 Milliarden Euro am 5. April vorausgegangen. Der wurde als ungenügend abgelehnt, die Proteste fortgeführt. Zum Vergleich: Der für 2017 verabschiedete Haushalt Französisch-Guayanas beträgt 800 Millionen Euro, eine Steigerung zum Vorjahr, in dem er bei 662 Millionen Euro lag. Die Beharrlichkeit der guayanischen Bevölkerung steht vor dem Hintergrund früherer Enttäuschungen. So hatte der französische Präsident François Hollande bei seinem Besuch im Dezember 2013 einen „Pakt für die Zukunft“ versprochen: „Besiegeln wir diesen Pakt noch vor Ende des Jahres 2014, um zu zeigen, was wir Guayana schuldig sind.“ Der Vertrag kam nie zustande. Als nun im März 2017 so viele Menschen auf die Straße gingen, dass ihr Protest als „historisch“ betitelt wurde, gestand die ehemalige Justizministerin Christiane Taubira, die selbst in Cayenne geboren wurde, ein, dass die Probleme nie richtig angegangen worden seien. Stattdessen habe man die notwendige Medizin jahrelang entweder tröpfchenweise oder in homöopathischen Dosen verabreicht, so ihre Erklärung gegenüber den Medien. Dutzende Organisationen haben sich zusammengeschlossen, um Paris klarzumachen, dass Französisch-Guayana diesmal auf seinen Rechten bestehen wird. Während sie Raketen und Flugzeuge am Start hinderten, gaben sie ihrer Bewegung den Namen Pou Lagwiyann Dékolé – „Damit Guayana abhebt“.
Neben den Gewerkschaften hat bisher das Kollektiv der 500 Frères contre la délinquance, der „500 Brüder gegen die Kriminalität“, eine besonders aktive Rolle gespielt. Der gewaltsame Tod eines Mannes am 11. Februar in einem Arbeiter*innenviertel von Cayenne war die Geburtsstunde dieser Gruppierung. Entgegen ihrer furchteinflößenden Erscheinung – schwarze Kleidung, schwarze Masken – sind die Mitglieder gänzlich unbewaffnet, die schwarzen Masken dienen zu nichts Anderem als aufzufallen und gehört zu werden. Am 17. März stürmten die 500 Frères eine Veranstaltung der Umweltministerin Ségolène Royale und präsentierten Lösungsvorschläge, um für mehr Sicherheit zu sorgen. Beispielsweise wurden eine mobile Polizeieinheit, die man zur Verstärkung rufen könnte, oder auch die Abschiebung ausländischer Gefängnisinsass*innen in ihre Heimatländer vorgeschlagen. Am 20. März schlossen sich die 500 Frères streikenden Arbeiter*innen eines Subunternehmens des Raumfahrtzentrums von Kourou und Beschäftigten eines nahen Krankenhauses an, die gemeinsam mit Anwohner*innen die Zufahrtswege zum Weltraumbahnhof blockierten. Drei geplante Raketenstarts mussten auf unbestimmte Zeit verschoben werden; die dadurch verursachten Kosten werden auf eine halbe Million Euro pro Tag geschätzt. In den Folgetagen wurden Barrikaden auf den
Überlandstraßen im gesamten Departement errichtet, Häfen und Flughäfen blockiert. Schulen mussten schließen. Hunderte Studierende und weitere Beschäftigte schlossen sich den Protesten an, die Kollektive der Indigenen und Bushinengués, Nachfahr*innen entlaufener Sklav*innen, brachten ihren eigenen Katalog an Forderungen ein. Am 27. März riefen die 37 Mitgliedgewerkschaften des Dachverbands UTG zum unbefristeten Generalstreik auf, und einen Tag später gingen 10.000 Menschen in der Hauptstadt Cayenne und weitere 4.000 in Französisch-Guayanas zweitgrößter Stadt Saint-Laurent-du-Maroni auf die Straße. Spätestens jetzt mussten die Kandidat*innen im französischen Wahlkampf Stellung beziehen.
Der wirtschaftsliberale Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron beging den Fauxpas, von unnützen Blockaden einer „Insel“ zu sprechen, sodass er sich des unmittelbaren Spotts erwehren musste. Während Marine Le Pen Milliardenzahlungen für sinnlos erklärte und allein den Stopp der illegalen Immigration als sinnvolle Lösung erachtete, sprach der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon den Protestierenden auf einer Kundgebung in Rennes seine volle Solidarität aus. Doch 80.000 guayanische Wahlberechtigte üben kaum Einfluss auf das Gesamtergebnis aus. Dass Mélenchon in der ersten Wahlrunde im Departement Französisch-Guayana die meisten Stimmen holte, dicht gefolgt von der rechtsradikalen Marine Le Pen, und das bei einer ohnehin geringen Wahlbeteiligung von unter 35 Prozent, ist daher wohl wenig aussagekräftig. Bedeutender ist die Anzahl der votes blancs, Stimmenthaltungen in Form von weißen Blättern oder leeren Briefumschlägen, sowie der votes nuls, ungültiger Stimmen, die zusammengenommen fast 16 Prozent ausmachten gegenüber lediglich 2,55 Prozent im französischen Gesamtergebnis. Ein Zeichen mehr, wie misstrauisch man den Politiker*innen in Französisch-Guayana gegenübersteht.
Zwar wurde der Vertrag vom 21. April, der den einmonatigen Stillstand im Departement beendete, auch zur Erleichterung vieler Inhaber*innen kleinerer Geschäfte sowie der Taxifahrer*innen und Hoteliers, inzwischen offiziell veröffentlicht, doch begleitet das Misstrauen auch weiterhin die aktuell laufenden Arbeitsverhandlungen im Krankenhaus Andrée-Rosemon de Cayenne (Char) und in der französischen Elektrizitätsgesellschaft EDF. Am 2. Mai mussten 27.500 Haushalte wegen absichtlich herbeigeführten Stromausfällen vier Stunden lang ohne Strom auskommen, am Tag danach legten die Arbeiter*innen im Hafen von Cayenne aus Solidarität mit den verhandelnden Angestellten die Arbeit nieder. Pou Lagwiyann Dékolé hat für die Verhandlungen von Char und EDF ein Ultimatum von 48 Stunden gesetzt. Allerdings ohne anzukündigen, was folgen soll, wenn es innerhalb der Frist zu keiner Einigung kommt. Am 7. Mai findet die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Noch im Anschluss an die Vertragsunterzeichnung am 21. April hatte ein Mitglied der 500 Frères erklärt: „Sobald die neue Regierung im Amt ist, werden wir in Aktion treten. Der Staat schuldet uns nicht zwei, sondern sieben Milliarden Euro!“