Erinnern mit Fiktion und Fakten
Zwei Neuerscheinungen zur Colonia Dignidad

„Diese Seiten sind die Fiktion der Realität und die Realität der Fiktion“, heißt es im Nachwort der Erinnerungen von Ilse an Colonia Dignidad. Denn im Gegensatz zur deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile sind die vorliegenden Erinnerungen fiktiv: „Die Memoiren von Ilse sind nicht nur von einer Frau, sondern von vielen mit der Stimme einer einzigen.“ Emma Sepúlveda Pulvirenti – geboren in Argentinien, aufgewachsen in Chile und heute Autorin und Universitätsprofessorin in den USA – erzählt in den Erinnerungen von Ilse die Geschichte der Colonia Dignidad: Von der Aussiedlung einer Gruppe rund um den christlichen Laienprediger Paul Schäfer von Deutschland nach Chile und dem Leben in der abgeriegelten Siedlung berichtet sie in Ich-Perspektive. Der Alltag dort ist geprägt von strengen Hierarchien, Zwangsarbeit und sexuellem Missbrauch (siehe LN 501 und LN 588).
Währenddessen rauscht das politische Geschehen in Chile an der jungen Ilse vorbei: Von deutschen wie chilenischen Behörden Anfang der 60er Jahre begrüßt, wird in Reaktion auf Salvador Allendes Wahlsieg 1970 Antikommunismus zum Bindeglied zwischen der Führung der Colonia Dignidad und extrem rechten Kräften in Chile. Diese kommen 1973 in die Siedlung, um den Putsch gegen Allende vorzubereiten. Der Geheimdienst DINA lässt während der Diktatur unter Pinochet in der Siedlung politische Gefangene foltern und verschwinden. Viele dieser Ereignisse kann Ilse als junge Frau nur andeuten.
Sie beobachtet jedoch, wie chilenische Kinder, die ins siedlungseigene Krankenhaus kommen, gegen den Willen der Eltern zwangsadoptiert werden. Es sind die Familien dieser Kinder und geflohene Bewohner*innen, deren Bemühungen nach der Diktatur schließlich zum Ende der Sektensiedlung als solche und 2005 zur Festnahme Paul Schäfers führten. Ilse selbst gelingt schon vorher die Flucht aus der Siedlung.
Die Perspektive der jungen Frau macht die Erinnerungen an die Colonia Dignidad besonders eindrücklich. Szenen der physischen, psychischen und sexualisierten Gewalt werden deutlich geschildert und machen es stellenweise schwer, weiterzulesen. Den Frauen wird in der Siedlung die eigene Identität und Sexualität geraubt, sie werden gedemütigt und gefoltert sowie bis zur Besinnungslosigkeit mit Hormonen und Psychopharmaka vollgepumpt.
Die Erinnerungen von Ilse an Colonia Dignidad geben einen Einblick, wie Indoktrinierung und soziale Kontrolle das Leben der Bewohner*innen geprägt haben. Manche Fragen bleiben aber offen. So gibt Sepúlveda ihre Quellen nur stellenweise an und hat die Namen zahlreicher Personen in verwirrender Weise abgewandelt. Es fällt schwer, Ilses Schilderungen und der chronologisch erzählten, komplexen Geschichte der Sektensiedlung in Gänze zu folgen. Oft bleibt es bei einer schmerzhaften Nacherzählung der endlosen Gewalt, ein klarer Handlungsstrang fehlt. Das Leben nach der Colonia Dignidad und die Fragen der Aufarbeitung kommen relativ kurz.
Immer wieder kommt beim Lesen die Frage auf, die sich bei der Geschichtsaufarbeitung in fiktiven Formaten oft stellt: Was ist Fiktion, was Realität? Unbedingt empfohlen sei Leser*innen, die sich mit der tatsächlichen Geschichte der Colonia Dignidad befassen möchten, daher zur Ergänzung ein Dossier des Fritz-Bauer-Forums, in dessen Reihe die Erinnerungen nun auf Deutsch erschienen sind.
Einen fundierteren Blick auf die Aufarbeitung der Geschichte und Zukunft der ehemaligen deutschen Sektensiedlung wirft der Band Colonia Dignidad. Auseinandersetzung um eine Gedenkstätte. Elke Gryglewski, Evelyn Hevia Jordán, Jan Stehle und Jens-Christian Wagner berichten darin über den zehnjährigen Dialogprozess mit unterschiedlichen Opfergruppen der Colonia Dignidad. Die vier Herausgeber*innen sind seit 2014 in unterschiedlichen Rollen an diesem Prozess beteiligt. Der bebilderte Band lässt auf beeindruckende Weise erahnen, wie viel Arbeit hinter der Aufarbeitung systematischer Menschenrechtsverletzungen steckt.
Zunächst erläutert Jan Stehle (siehe LN 569/570) die Verbrechensgeschichte der Colonia Dignidad, die Rolle der Bundesrepublik und den Stand der strafrechtlichen Aufarbeitung – eine gute Grundlage, um die folgenden Kapitel einordnen zu können. Elke Gryglewski berichtet von den Herausforderungen der Verständigung mit und zwischen den einzelnen Opfergruppen. Jens Christian Wagner, Experte für NS-Gedenkstätten, erläutert die bestehenden Pläne für einen Gedenkort in der ehemaligen Colonia Dignidad, die als touristischer Ort unter dem Namen Villa Baviera fortbesteht. Evelyn Hevia Jordán schildert dann die konkrete Arbeit mit den Betroffenen im 2014 begonnenen Dialogprozess.
Die Arbeit der 2017 von der deutschen und chilenischen Regierung einberufenen Kommission wird in einem Interview von Ute Löhning vorgestellt. Sie spricht mit dem vierköpfigen Gremium (darunter Gryglewski und Wagner), das 2021 beauftragt wurde, ein Gedenkstättenkonzept vorzulegen. Dabei geht es auch um die politischen Hindernisse, die die Errichtung bis heute verzögern: Die Verantwortung werde zwischen Deutschland und Chile hin- und hergeschoben, es fehlten „klare politische Entscheidungen“. Gryglewski zeigt sich „enttäuscht, dass gerade in der Amtszeit dieser beiden Regierungen (Scholz und Boric, Anm. d. Red.), von denen wir am meisten erwartet haben, bisher am wenigsten passiert ist.“ Im Juni 2024 gab es die überraschende Ankündigung: Chiles Regierung plant, zentrale Orte auf dem Gelände der Villa Baviera für die Errichtung einer Gedenkstätte zu enteignen (siehe LN 601/602). Da die Ankündigung mit der Entstehung des Buches zusammenfiel, wurde das Interview durch eine Aktualisierung ergänzt.
Zwischen den Beiträgen wurden kurze Statements von an den Dialogprozessen Beteiligten eingeschoben, die immer wieder loben, dass der Prozess die Begegnung einst verfeindeter Gruppen ermöglicht habe. Dieses sorgfältige und stets transparente Vorgehen habe die Selbstorganisation der Betroffenen ermöglicht und den Weg zu einer umfassenden Aufarbeitung mit dem Ziel der Nicht-Wiederholung bereitet.
Der Band ist eine unbedingte Empfehlung für Leser*innen, die sich für die Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad oder Menschenrechtsverletzungen im Allgemeinen interessieren. Er zeigt, wie eine komplexe Verbrechensgeschichte aufgearbeitet werden kann – und, warum ein Ort des Gedenkens so wichtig ist: erstens für die Trauer und persönliche Verarbeitung der Geschehnisse durch Opfer und Angehörige, zweitens zur Dokumentation und strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen, drittens zur Bildung kommender Generationen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Prozess bald tatsächlich zur Errichtung einer Gedenkstätte führt. Klare politische Entscheidungen lassen seit Borics Ankündigung vor einem halben Jahr leider auf sich warten. Umso besser, dass der Band an diese wichtige Aufgabe erinnert.
Emma Sepúlveda Pulvirenti // Erinnerungen von Ilse an Colonia Dignidad // Übersetzt von Mathias Sasse // Buxus Edition // Bochum // 2024 // 250 Seiten // 19 Euro
Elke Gryglewski, Evelyn Hevia Jordán, Jan Stehle, Jens-Christian Wagner (Hrsg.) // Colonia Dignidad. Auseinandersetzungen um eine Gedenkstätte // Wallstein Verlag // Göttingen // 2024 // 186 Seiten // 18 Euro