Nummer 300 - Juni 1999 | Ökonomie

Erlaßjahrkampagne 2000

Reale Machtverhältnisse bleiben unberücksichtigt

Der folgende Artikel stellt die Kampagne Erlaßjahr 2000 in ihren wesentlichen Inhalten und Forderungen vor und setzt sich mit der Argumentation der Kampagne auseinander. Trotz aller Kritik an verklärenden Formulierungen und Gedankenfäden der Kampagne sollte dieser Artikel nicht als generelle Kritik an ihrem Anliegen mißverstanden werden.

Susan Aderkas

Die Kampagne Erlaßjahr 2000 wurde im Jahr 1997 gegründet, ist nunmehr in circa 50 Ländern aktiv und wird vor allem durch Hilfswerke, Landeskirchen, Bistümer, Orden, Eine-Welt-Läden, Partnerschaftskreise, Kirchengemeinden und Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) getragen. In Deutschland haben sich bereits mehr als 1300 solcher Gruppen der Kampagne angeschlossen.
In Anlehnung an das biblische Erlaßjahr soll den armen und sehr hoch verschuldeten Ländern der Erde ein „weitreichender Teil ihrer Auslandsschulden“ erlassen werden. Mit der Streichung soll ein Schuldenstand erreicht werden, der im Vergleich zum Bruttosozialprodukt des Landes erträgliche Dimensionen annimmt und dessen Bedienung im Verhältnis zu den Exporterlösen zumutbar scheint.
Mit dem Schuldenerlaß sollen folgende Teilziele erreicht werden:
– die armen Länder von der Last untragbarer
Schulden zu befreien,
– eine zukunftsfähige Entwicklung durch einen
einmaligen Akt des Schuldenerlasses zugunsten der armen Länder zu ermöglichen;
– dem unverhältnismäßig hohen Transfer von
knappen Ressourcen aus den armen Ländern
entgegenzuwirken;
– den armen Ländern der Welt einen Weg zu
wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit zu
eröffnen;
– dem wirtschaftlichen und sozialen Verfall
entgegenzuwirken.
Es ist offensichtlich, daß korrupte Machtstrukturen gepaart mit neoliberaler Politik kein Garant dafür sind, daß die durch einen Schuldenerlaß frei gewordenen Gelder den notleidenden Bevölkerungsschichten zugute kommen werden. Die Erlaßjahr-Kampagne sieht daher die Einzahlung eines Teils der erlassenen Schuld in der jeweiligen Landeswährung in einen Gegenwertfonds zur „Deckung sozialer Grundbedürfnisse“ vor. Die Einrichtung dieser Fonds soll durch Vertreter der Gläubiger- und Schuldnerländer vertraglich vereinbart, und deren Verwaltung durch eine angemessene Beteiligung von Kräften der Zivilgesellschaft für eine sozial gerechte und transparente Verteilung der Mittel sorgen.
Die Formulierung „angemessene Beteiligung von Kräften der Zivilgesellschaft“ wird an keiner Stelle des Kampagnenmaterials konkretisiert und ist für den Fall, daß die Forderung nach Schuldenerlaß eingelöst wird, unzulässig pauschal. Im Info-Blatt 2 des Rechtshilfefonds für die Landkämpfe in Mittelamerika der Infostellen El Salvador und Guatemala sowie des Infobüros Nicaragua wird die fehlende Konkretisierung der Identität dieser zivilen Kräfte, eine nähere Definition, was genau unter angemessener Beteiligung zu verstehen ist, sowie der Rolle des Staates, mit dem die Gläubiger die entsprechenden Vereinbarungen treffen werden, kritisiert. Am Beispiel Nicaraguas – eines der hochverschuldeten Länder, indem sich bereits ein Konsortium von NROs (FOCAD) zur Verwaltung eines Gegenwertsfonds gebildet hat – bliebe die Kampagne die Antworten auf folgende berechtigte Fragen schuldig:
– Wen vertreten diese selbsternannten Sachwalter der „Deckung sozialer Grundbedürfnisse“ eigentlich? Sind sie von den „Armen“ beauftragt? Und welches Wörtchen haben die „Armen“ mitzureden?
– Wie können KleinproduzentenInnen mit ungeklärten Besitztiteln, die deshalb bei Kreditvergaben nicht berücksichtigt werden, von den Fonds profitieren?
– Welche Beteiligung von FOCAD an einem eventuellen Gegenwertfonds aus einer teilweisen Schuldenstreichung wird das politische Kräfteverhältnis in Nicaragua vermutlich real
erlauben?
Außer der Frage nach der Verwaltung dieser Gegenwertfonds wird auch die nach dem Nutzen dieser Fonds gestellt, wenn durch Mittel aus dem Fonds ermöglichte soziale Projekte, Kleinstkredite etc. durch restriktive, von den Gläubigern diktierte Strukturanpassungsprogramme zunichte gemacht bzw. konterkariert werden, das heißt privaten KleinstunternehmerInnen durch erzwungene soziale Kürzungen am anderen Ende wieder eine erhöhte finanzielle Last aufgebürdet wird.
Wie auch immer sich die Verwaltung im Konkreten gestalten wird und welcher Anteil der erlassenen Schuld letztendlich in den Fonds fließen wird, sind Aspekte, die in beträchtlichem Ausmaß von der Stärke der sozialen Bewegungen in den einzelnen Ländern mitbestimmt werden. Denn auf regionaler Ebene ist es an ihnen, ihre sozialen Grundbedürfnisse selbst einzufordern, und da spielen wieder ganz konkrete Machtverhältnisse eine alles entscheidende Rolle.

Neugestaltung des internationalen Finanzrechts

Ein zweiter Punkt der Erlaßjahrkampagne ist die Forderung nach Neuordnung der internationalen Finanzbeziehungen, als Form des fairen Interessenausgleichs zwischen Schuldnern und Gläubigern. Mit der Einführung eines internationalen Insolvenzrechts sollen:
– faire und gleichgewichtige Beziehungen zwischen internationalen Gläubigern und Schuldnern hergestellt werden. Anstelle des bisherigen Schuldenmanagements, in dem Gläubiger zugleich als Kläger und Richter auftreten, soll ein transparentes und faires Verfahren den Interessenausgleich zwischen beiden Staaten regeln;
– das Recht der Völker auf Entwicklung und wirtschaftliche Selbstbestimmung gefördert werden – insbesondere das Recht auf die zum Überleben notwendigen Güter;
– internationale Finanzbeziehungen von Gläubigern und Schuldnern auf eine neue Grundlage gestellt werden, die der Überschuldung von Ländern in der Zukunft vorbeugt.
Diese Forderungen werden aufgestellt und setzen zunächst einmal stillschweigend das Einverständnis der Gläubiger voraus. Daß jedoch erst die Eliminierung des privatwirtschaftlichen Konkursrechts aus den internationalen Schuldenbeziehungen dazu geführt hat, daß heute das Schicksal der Schuldner ausschließlich im Ermessen der Gläubiger liegt, und mit der Verstaatlichung der zunächst privaten Schulden und einer damit verbundenen Umverteilung auf die Schultern der Öffentlichkeit, das Konkursrecht für das Auslandskapital außer Kraft gesetzt wurde, was natürlich den Interessen der Gläubiger entspricht, zeigt auf, wie sehr diese Forderungen an realen Machtverhältnissen und wirtschaftlichen Interessen vorbeiargumentieren.
Die gesamte Argumentation der Kampagne unterliegt der Auffassung, daß die führenden Wirtschaftsmächte nicht als Gegner zu betrachten sind, sondern als Dialogpartner, die mit sachlichen Argumenten von der Notwendigkeit solcher Maßnahmen überzeugt werden können. Schließlich sind auch sie von der Schuldenkrise betroffen, können nicht unbesorgt in diese Länder investieren, leiden unter Verlusten der Exportwirtschaft, müssen um die Lebensqualität in ihrem noch recht behaglichen Norden bangen (Drogen, Migration, Umweltzerstörung). Das sind jedenfalls die Argumente, mit denen die Träger der Kampagne die Gläubiger umzustimmen gedenken. Daß die Banken riesige Gewinne aus dem Schuldendienst der Länder schlagen, wird völlig ignoriert. Daß selbst viele Herrschende in den Schuldnerländern aus der Schuldenkrise Nutzen ziehen, gibt nur einen weiteren Aspekt dieser hochkomplexen Interdependenzen wider.
Kritisiert werden muß, daß die Ignoranz der wahren Machtverhältnisse nicht auf der Naivität der Beteiligten beruht, sondern strategisch begründet ist. In ihrer Hoffnung auf die „große Macht der großen Zahl“ wollen sie selbst konservative christliche Kreise nicht verprellen. Es geht um Unterschriften… und da bleibt so manch kritischer Blick getrübt.

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