„Es hat einen Bewusstseinswandel gegeben“
Interview mit den Gewerkschaftern Pablo Cumana und Félix Martínez über Fabrikübernahmen und gewerkschaftlichen Kampf in Venezuela
Was ist der Grund für Ihre Rundreise durch Deutschland?
Cumana: Wir wollen zeigen, was Arbeiterkontrolle in Venezuela bedeutet, welche Veränderungen im Zuge der Aktivitäten von Gewerkschaften und Arbeitern stattfinden, die Teil der venezolanischen Bewegung für Arbeiterkontrolle sind. Außerdem ist uns wichtig bekannt zu machen, worin die bolivarianische Revolution besteht und wie sich die von Präsident Chávez unterstützten und selbst verwalteten Projekte der Arbeiter entwickelt haben.
Wie kam es zur Besetzung der Autoscheibenfabrik von Vivex?
Cumana: 2008 haben wir die Fabrik besetzt, weil der Besitzer zahlreiche Arbeiterrechte verletzt hat. Er behauptete, er sei pleite und bezahlte unsere Löhne nicht. Außerdem hielt er die Sicherheitsnormen für uns Arbeiter nicht ein. Jedem von uns schuldete er 120 Tageslöhne, aber nur 15 davon bezahlte er. Für den Großteil der Arbeiter war das der Auslöser. Wir haben mit ihm verhandelt, aber er wollte nichts bezahlen. Am 20. November 2008 verließ er die Fabrik. Für uns galt die Devise „verlassene Fabrik gleich besetzte Fabrik“, die Chávez vertritt. Wir konnten die Fabrik nicht allein lassen, denn sonst wäre sie zu einem weiteren Opfer der neoliberalen Ausbeutung der Kapitalisten in Venezuela geworden. Wir haben sie besetzt und damit begann ein Kampf gegen die Behörden. Sie haben uns verklagt, aber wir Arbeiter und unsere Rechtsanwälte haben bemerkt, dass ihre Dokumente Unregelmäßigkeiten aufwiesen. Bei den Klagen kam nie etwas heraus. Wir haben uns mit den Gewerkschaften vereinigt und mit der Nationalen Vereinigung der Arbeiter (UNT). Mehr als zwei Jahre lang hielten wir die Fabrik besetzt und kämpften dafür, sie zu übernehmen. Wir wurden dabei auch von der Corriente Marxista Revolucionaria (CMR) unterstützt und von unseren Kameraden der Interbrigadas.
Warum verließ der Besitzer von Vivex die Fabrik?
Cumana: Ihm gehörte die Fabrik seit über 40 Jahren, er hatte bereits Gewinne aus ihr gezogen. In den letzten Jahren investierte er zum Beispiel nicht mehr in Maschinen. So machen es die Kapitalisten, sie beuten die Arbeiter und den Boden aus, und wenn die Gewinne dann zu gering sind, gehen sie weg. Wir stehen mit ihm noch in Gerichtsverhandlung wegen der Schulden, die er uns noch bezahlen muss. Sie belaufen sich auf insgesamt 30 Millionen Bolivar (ca. 5,3 Millionen Euro, Anm. d. Red.). Der Besitzer hat versucht, die Arbeiter mit Geld zu bestechen. Einige sind freiwillig gegangen, nachdem er ihnen eine geringe Abfindung gezahlt hatte.
Was geschah nach der Besetzung der Fabrik?
Cumana: 360 der 400 Arbeiter von Vivex nahmen an der Besetzung teil. An der Übernahme der Produktion durch den Fabrikrat waren aber nur noch 132 Arbeiter beteiligt. Am Anfang haben wir eine Kooperative gegründet, um die Autoscheiben verkaufen zu können. Aber am 31. Mai 2011 wurde die Fabrik von der Regierung enteignet. Wir haben dann zwölf Arbeitsgruppen gebildet, um die verschiedenen Produktionslinien der Windschutzscheiben wieder aufzubauen. Der Staat unterstützt uns dabei finanziell. Die erste Produktionslinie haben wir bereits wiederhergestellt. Wir werden mit 500 Glasscheiben pro Monat anfangen und die Produktion dann steigern. Für die Reaktivierung der zweiten Produktionslinie benötigen wir aber mehr Arbeitskräfte. Wir werden uns deswegen an die Kommunalen Räte und die Kommunen wenden. Unser Ziel ist es, dass die Fabrik sich selbst trägt. Denn auf Dauer können wir ja nicht von staatlichen Einnahmen aus dem Erdölverkauf leben. Das Ministerium für industrielle Entwicklung leiht uns Geld, aber wir müssen es zurückzahlen, denn es gibt noch zahlreiche andere Arbeiter, die in einer ähnlichen Situation sind wie wir und die Gelder benötigen.
Welche Auswirkungen hatten die Bemühungen zur Übernahme der Fabrik auf die Region?
Cumana: In unserer Region gibt es zahlreiche deaktivierte, verlassene und zerstörte Fabriken. Unsere Besetzung der Vivex-Fabrik hatte eine sehr starke Wirkung auf die umliegenden Fabriken. Arbeiter der Autofabrik Mitsubishi, die sich auf dem Nachbargrundstück befindet, unterstützten uns in unserem Kampf. Außerdem solidarisierten sich Arbeiter der zu dieser Zeit noch nicht privatisierten Milchproduktionsfirma Los Andes, des staatlichen Erdgasversorgers PDVSA und der Autositzfabrik Macussa mit uns.
Wer verwaltet die Fabrik heute und wie ist die Arbeit organisiert?
Cumana: Das Unternehmen ist unter staatlicher Kontrolle, arbeitet aber mit dem Fabrikrat zusammen. Wir verdienen alle gleichviel und teilen uns die Arbeit. Jetzt produzieren wir noch nicht, aber wenn wir anfangen werden zu produzieren, werden wir sehen, wie hoch der Tageslohn sein wird. Aber es geht ja nicht nur um den Tageslohn, sondern auch um das soziale Wohlergehen und die Gesundheit der Arbeiter, darum, dass sie mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen und sich fortbilden können. Unsere Philosophie ist die Dialektik, wir hören uns gegenseitig zu, analysieren gemeinsam die Situation und kommen dann zu einem Ergebnis, das alle begünstigt. Natürlich kommt es vor, dass Genossen nicht mit einer bestimmten Politik einverstanden sind. Aber insgesamt hat es einen Bewusstseinswandel unter den Arbeitern gegeben. Sie identifizieren sich jetzt stärker mit der Fabrik. Wenn wir keine staatliche Hilfe mehr bekommen, wird jeder selbst mitverantwortlich sein für die Höhe seines Lohnes oder das Wohlergehen seiner Familie.
Wie viele Frauen arbeiten bei Ihnen, und wie sind sie in die Entscheidungsgremien eingebunden?
Cumana: In der Fabrik arbeiten 25 Frauen. Zwei Arbeiterinnen koordinieren die beiden Instanzen des Fabrikrats. Bei uns gibt es Geschlechtergleichheit. Unter dem ehemaligen Besitzer wurden die Frauen ausgebeutet; sie mussten sehr schwere körperliche Tätigkeiten ausführen. Einige Kameradinnen können nicht mehr den ganzen Tag an derselben Maschine arbeiten, deshalb haben wir sie in andere Sektoren eingeteilt, die ihrer Gesundheit nicht schaden.
Wie sehen die aufgebauten Entscheidungsstrukturen aus?
Cumana: Einmal im Monat trifft sich die Generalversammlung des Fabrikrats. Grundsätzliche Fragen wie Veränderungen an den Produkten, größere Käufe oder neue Uniformen werden von allen gemeinsam abgestimmt. Dann gibt es noch die Versammlungen der verschiedenen Fabrikbereiche. Die Repräsentanten der zwölf Arbeitsbereiche treffen sich alle 14 Tage und besprechen Arbeitspläne und Maßnahmen für unser Projekt. Ich vertrete zum Beispiel den Arbeitsbereich Hygiene und industrielle Sicherheit.
Welche Schwierigkeiten sind nach der Verstaatlichung bestehen geblieben?
Cumana: Die Regierung hat uns von Anfang an unterstützt. Mit Präsident Chávez kommen wir weiter, aber die Bürokratie bremst uns aus. In unserem Bundesstaat müssen wir gegen die staatlichen Behörden ankämpfen. Es gibt viele Staatsfunktionäre, die Bestechungsgelder von unserem Besitzer erhalten. Sie blockieren unser Projekt und die Projekte in den Kommunen. Eine dieser Behörden ist die Steuerbehörde. Sie muss Berichte über Verkäufe der Fabrik sowie über die zu zahlenden Steuern erstellen. Die Angestellten verzögern die Herausgabe dieser Berichte absichtlich und veruntreuen dabei Gelder.
Wo kaufen Sie den Rohstoff für das Glas und an wen sollen die Windschutzscheiben verkauft werden?
Cumana: Die Rohmasse für das Produkt importieren wir aus Brasilien. Die Zusammenarbeit läuft hier über die bilateralen Verträge mit befreundeten Staaten, die über die ALBA (Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas, Anm. d. Red.) geschlossen wurden. Für den Verkauf unserer Produkte haben wir bereits Verträge mit den ehemaligen Abnehmern Mitsubishi und Chrysler abgeschlossen. Außerdem sind wir neue Verträge mit einer weißrussischen Wagenfabrik, der chinesischen Autofirma Cherry und Venirauto aus dem Iran eingegangen.
Herr Martínez, Sie haben bei Mitsubishi gearbeitet und eine alternative Gewerkschaft dort mit aufgebaut. Wie ist es dazu gekommen?
Martínez: Bei Mitsubishi gab es ähnliche Probleme wie bei Vivex: Mangelnder Arbeitsschutz, unregelmäßige Lohnzahlungen und die Auslagerung eines Teils der Belegschaft. Wir haben uns gegründet, als es im Jahr 2002 zu einem Konflikt zwischen Arbeitern und Unternehmensbesitzern kam. Die Fabriken haben die Arbeiter nach Hause geschickt und ihnen die Löhne verweigert. So wollten sie Präsident Chávez stürzen. Nachdem ihr „Putsch“ fehlgeschlagen war, kamen wir 2003 zurück in die Fabrik. Mitsubishi hatte sich mit der offiziellen Gewerkschaft CTV darauf geeinigt, Arbeiter zu entlassen. Die Gewerkschaft erlaubte uns nicht, neue Vertreter zu wählen. In dieser Situation begann unserer Kampf. Wir gründeten unsere eigene Gewerkschaft, die SINGETRAM, in der ich heute noch aktiv bin. 186 von 800 Arbeitern beteiligten sich an der Gründung der Gewerkschaft, die anderen hatten Angst. Die Firma durfte aufgrund eine Dekrets des Präsidenten, das weitere Entlassungen verbot, keine Arbeiter mehr entlassen. Denen, die freiwillig aufhörten, zahlte Mitsubishi daraufhin eine gute Abfindung. So gingen 200 Arbeiter freiwillig. Die Mehrheit blieb aber. Wir haben uns dann für die Rechte aller Arbeiter der Mitsubishi eingesetzt. In einem Jahr ist es uns gelungen, die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiter zu bekommen. 550 Arbeiter sind unserer Gewerkschaft beigetreten. In der offiziellen Gewerkschaft waren am Ende nur noch 50 Arbeiter. Sie wurde schließlich aufgelöst.
Wie unterscheidet sich die gegründete Gewerkschaft von der offiziellen?
Martínez: Es ist uns gelungen, dass die Arbeiter in der SINGETRAM mitwirken und sich mit der Gewerkschaft identifizieren. Sie haben gemerkt, dass unsere Gewerkschaft durch sie bestimmt war und nicht über sie bestimmte. In diesen drei Jahren haben wir von dem Erlass eines Gesetzes profitiert, das die Gewerkschaften stärkte. Es ermöglichte uns, mehr Gewerkschaftsvertreter zu wählen. Vorher hatten die 800 Arbeiter nur drei Gewerkschaftsvertreter. Nach dem Erlass dieses Gesetzes hatten wir 27 Arbeitervertreter, die sich für die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeiter einsetzten. Im Gewerkschaftsvorstand saßen 15 Personen. Wir hatten eine Gewerkschaft mit einer horizontalen Struktur aufgebaut. Denn die vertikale Struktur der offiziellen Gewerkschaft brachte korrupte und bürokratische Gewerkschaftsführer hervor.
Wie sahen zu Beginn die Entscheidungsstrukturen der SINGETRAM aus? In welchen Bereichen waren die Arbeiter_innen aktiv?
Martínez: Die meisten Arbeiter beteiligten sich an der Verwaltung. Es gab vier Arbeitsbereiche: Sport und Kultur, Beschwerden über Arbeitsverträge und Konflikte, Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit sowie Presse und Öffentlichkeitsarbeit. In jedem Bereich waren 27 Arbeiter aktiv, die von den 27 Sektoren der Fabrik gewählt worden waren. Jeder Bereich durfte außerdem vier Delegierte für die Generalversammlung wählen. Und alle drei Jahre hatten die Arbeiter das Recht, in direkter und geheimer Wahl die 15 Koordinatoren der vier Arbeitsbereiche zu wählen. Es handelte sich um ein demokratisches und partizipatives Gewerkschaftsmodell, das dazu führte, dass mindestens die Hälfte der Arbeiter an der Generalversammlung teilnahm. Denn es gab eine unmittelbare und dynamische Beziehung zwischen den Delegierten und dem Gewerkschaftsvorstand einerseits und den Arbeitern und der Gewerkschaftsleitung andererseits. Alle lernten voneinander. Was die Arbeitsteilung betrifft, so führten wir in einem Bereich sogar ein Rotationssystem ein, die Arbeiter rotierten zwischen den verschiedenen Arbeitsstationen.
Wie reagierte die Fabrikleitung auf diese Entwicklungen?
Martínez: Als sie bemerkt hat, wie gut wir organisiert waren, hat sie begonnen, Mitarbeiter zu „kaufen“. 2009 haben wir gegen das Outsourcing von 137 Arbeiterinnen protestiert. Die Fabrikleitung hat 65 bewaffnete Polizisten gerufen, um den Protest zu beenden. Sie haben zwei unserer Genossen erschossen, vor der Fabrik. Nach den Morden haben sie uns weiterhin unterdrückt. Wir haben Drohungen erhalten. Außerdem wurden wir entlassen. Sie haben Vorwände für die insgesamt 600 Entlassungen gefunden. Mich haben sie 2009 mit der Begründung entlassen, ich hätte das Tor der Fabrik beschädigt. Sie haben aber keine Beweise dafür.
Mussten sich die Polizisten, die die beiden Arbeiter erschossen haben, vor Gericht verantworten?
Martínez: Präsident Chávez hat eine Untersuchung der Morde angeordnet. 15 der 60 Polizisten sind deswegen vom Gericht verurteilt worden und sitzen in Haft.
Wie ging es mit der SINGETRAM weiter?
Martínez: Unsere Gewerkschaft besteht weiterhin. Wir beraten Arbeiter in der Region und koordinieren die Nationale Vereinigung der Arbeiter UNT in unserem Bundesstaat Anzoategui. In unserer Region haben sich mehrere Gewerkschaften der UNT angeschlossen. Außerdem unterstützen wir die Gewerkschaften von Vivex bei der Zusammenarbeit mit den Gemeinden. Wir organisieren Veranstaltungen und Debatten, bei denen wir das Modell der Arbeiterkontrolle und das der Arbeiterräte erklären. Mit dieser Arbeit geben wir der Bewegung für Arbeiterkontrolle und der Bewegung gegen Straflosigkeit in Venezuela Impulse.
Wovon leben Sie heute?
Martínez: Ich war Mitglied einer Kreditkooperative, in der einige Arbeiter von Mitsubishi Geld angespart haben. Dieses Geld wurde mir ausgezahlt, als ich die Kooperative verließ. Außerdem verkaufe ich zusammen mit meiner Frau Eis und Süßigkeiten. Gelegentlich arbeite ich auch als Taxifahrer. Bei Mitsubishi habe ich in der Qualitätskontrolle gearbeitet. Ich kontrollierte die einzelnen Autoteile. Diese Kenntnisse kann ich aber nur in einer großen Fabrik anwenden. So ist das mit der Arbeitsteilung.