Nummer 379 - Januar 2006 | Subkulturen

„Es herrscht eine unsichere Ruhe”

Interview mit Andreia Carla Ferreira da Silva, Hausbesetzerin aus Rio de Janeiro

Seit einem Jahr ist das Hochhaus Chiquinha Gonzaga im Zentrum von Rio de Janeiro besetzt. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen am Rande einer Veranstaltung der Gruppe FelS (Für eine linke Strömung), auf der das Projekt vorgestellt wurde, mit einer der BesetzerInnen über das Leben in dem ehemaligen Hotel.

Interview: Nils Brock, Oliver Commer, Thilo F. Papacek

Weshalb gibt es diese neue Bewegung, die Häuser in Rio besetzt?

Die Wohnsituation in Rio ist sehr schwierig. Selbst in den Favelas findet man nicht unbedingt eine Wohnung. Die Favelas im Zentrum der Stadt sind viel teurer als die in der Peripherie. Dort zu leben bedeutet, von allem ausgeschlossen zu sein, auch von der Chance auf einen Arbeitsplatz. Man braucht mehrere Stunden, um in das Zentrum zu gelangen. Dort ist es leichter einen Job als Straßenhändler zu ergattern. Deshalb wohnen viele Leute lieber im Zentrum auf der Straße als in den Favelas in der Peripherie.
So sind wir auf den Gedanken gekommen, ein Haus zu besetzen. Aber nicht nur die pure Notwendigkeit hat uns auf diese Idee gebracht. Unsere politische Gruppe, die Frente de Luta Popular (FLP), wollte ohnehin ein konkretes Projekt starten. Bis dahin hatten wir uns vor allem gegen Polizeigewalt in der Peripherie engagiert.

Gab es eine Anfangsgruppe, von der alles vorbereitet wurde, oder war es einfach eine Idee, die spontan von verschiedenen Menschen verwirklicht wurde?

Den Anfang machte unsere Gruppe FLP. Doch mit der Zeit kamen andere Menschen hinzu, die sich am Projekt beteiligten, so dass keine Gruppe wirklich eine Anführerrolle innehatte. Anfangs hatten wir keine Ahnung, ob das überhaupt klappen würde und wie die Behörden darauf reagieren würden. Aber wir haben einfach angefangen. Wir organisierten offene Vorbereitungstreffen, zu denen anfangs nur wenige Menschen kamen. Doch immer mehr Leute von der Straße kamen mit der Zeit hinzu. Die ersten Treffen fanden auch direkt auf der Straße statt. Wir haben uns vor niemandem versteckt. Obdachlose und AktivistInnen anderer Gruppen kamen dazu, und so entwickelte sich unsere Organisation. Schließlich waren die Obdachlosen die größte Gruppe, die sich an der Besetzung beteiligte.

Weshalb habt ihr ausgerechnet das Haus Chiquinha Gonzaga besetzt?

Wir haben uns verschiedene Häuser angesehen. Unsere Wahl fiel schließlich auf Chiquinha Gonzaga, da es der Bundesregierung gehört. Das Ministerium für Land- und Agrarreform (INCRA) ist Eigentümer des ehemaligen Hotels. Noch während der Militärdiktatur wurde es enteignet, da es leer stand. Danach tat sich aber nichts, und so stand es insgesamt 21 Jahre leer. Bis wir kamen. Wir wählten dieses Haus, da man leichter verhandeln kann, wenn das Haus dem Staat gehört, als wenn es einen privaten Besitzer hat.

Wie hat sich dein Leben verändert, seit du in das besetzte Haus eingezogen bist?

Als ich einzog, gab es noch eine Gemeinschaftsküche. Es gab nur vier renovierte Badezimmer für die vierzig Leute, die zu Beginn in Chiquinha Gonzaga lebten. Wasser gab es nur auf den untersten Etagen. Es war eine ziemlich große Umstellung! Vorher hatte ich meine eigene Küche, mein eigenes Zimmer, nun musste ich fast alles teilen. Das war ein ganz schöner Schock!

Hat sich die Wohnsituation im Haus inzwischen entwickelt? Schlafen die BewohnerInnen noch in Gemeinschaftsräumen?

Nein, inzwischen hat jede Familie ihre eigene kleine Wohnung. Heute ist die Struktur von Chiquinha Gonzaga perfekt: Da das Haus als Hotel geplant wurde, hat jedes Apartment ein eigenes Badezimmer. Das ist schon praktisch.

Wie verhält sich die Regierung gegenüber der Hausbesetzung?

Von der Regierung des Staates Rio de Janeiro gibt es keine Repression, da das Haus der Bundesregierung gehört. Ansonsten sind die Verhandlungen vor Gericht gestoppt. Wir wissen nicht genau, weshalb, aber offenbar hat die INCRA kein großes Interesse, uns zu vertreiben. Es gibt also so etwas wie eine unsichere Ruhe. Aber wir wissen, dass sich das jederzeit ändern kann. Das Haus haben wir noch nicht sicher.

Wir haben gehört, dass viele verschiedene Gruppen an der Besetzung teilgenommen haben. Gibt es da häufiger Konflikte?

Ja, es gibt schon Konflikte, besonders zwischen den Studierenden und den Obdachlosen. Die Obdachlosen sehen die Studierenden nicht als gleich an. Nach Ansicht einiger Obdachloser ist eine Person, die eine Universität besucht, nicht wirklich bedürftig. Und außerdem befürchten einige ehemalige Obdachlose, dass die Studierenden ihnen ihre Ideen aufzwingen wollen. Ich finde, dass dieser Konflikt auch seine gute Seite hat. Die Obdachlosen wollen sich nicht mehr bevormunden lassen. Sie wollen ihre eigenen Ideen vorbringen. Anfangs waren viele von ihnen durch die wortgewandteren Studierenden eingeschüchtert. Jetzt wollen sie sich nicht mehr einschüchtern lassen.

Und wie leben die Kinder in dem Haus?

Auf einer Versammlung wurde entschieden, einen Raum für die Kinder zu reservieren. Aber später haben sich die Leute umentschieden. Sie meinten, dass im Kinderzimmer eine weitere Person wohnen könnte. Und einige beschwerten sich auch darüber, dass die Kinder sich nicht um den Raum kümmern würden, weil er immer unaufgeräumt war. Das ist natürlich absurd, Kinder machen nun mal Unordnung. Bald waren die Kinder die Sündenböcke für alles. Für alles, was falsch lief, wurden sie beschuldigt.
Am Anfang kamen dann die Kinder immer zu mir. In der ersten Zeit gab es nur acht Kinder, und vier davon waren meine eigenen. Aber ich sagte ihnen immer, dass sie sich selbst darum kümmern müssten. Ich sagte ihnen: Ihr seht doch wie die Versammlungen hier laufen. Wenn ihr etwas wollt, dann müsst ihr auch dafür kämpfen! Und das haben sie dann auch gemacht. Sie veranstalteten Kinderversammlungen und schrieben ihre Forderungen in einem kleinen Heft auf. Dann sind sie auf die Versammlungen gegangen und haben ihre Forderungen vorgetragen. Sie haben auch ein bisschen Geld verlangt, damit sie Geburtstagsfeiern machen können. So haben die Kinder ihre eigene Kasse bekommen.
Einmal gab es in der Gemeinschaftsküche nicht genug Geld, um Frühstück zu kaufen. Da haben die Kinder aus ihrer Kasse das Frühstück bezahlt. Das hat ihnen natürlich jede Menge Respekt eingebracht. Einige Male haben sie der Gemeinschaft auf diese Weise ausgeholfen. Inzwischen leben etwa 30 Kinder in dem Haus, die sich weiterhin so organisieren.

Gibt es auch kulturelle Veranstaltungen in dem Haus?

Vor allem organisieren wir Bildungsseminare. Bei uns gibt es Alphabetisierungskurse und Vorbereitungskurse für das „Vestibular“ [Aufnahmeprüfung der brasilianischen Universitäten, Anm. der Red.], zu denen auch Leute kommen, die nicht in dem Haus wohnen. Es gibt auch Graffitikurse, die allen offen stehen, aber vor allem Kinder sind daran interessiert. Die gesamte erste Etage, in denen sich die Gemeinschaftsräume befinden, ist inzwischen mit Graffitis verziert.

Habt ihr den Namen des Hauses ausgesucht?

Ja, das war unsere Idee. Chiquinha Gonzaga war eine klassisch ausgebildete Klavierspielerin, die sich aber mit populärer Musik beschäftigte. Außerdem war sie in der Antisklavereibewegung aktiv.

Ist das Konzept der Häuserbesetzung erfolgreich?

Bis jetzt schon. Aber wir wissen das selbst nicht genau. Wir haben auch kein Rezept für einen garantierten Erfolg. Was in zehn Jahren sein wird, wissen wir nicht. Aber bis jetzt können wir Erfolge verzeichnen. Im Juli 2005 haben wir das zweite Haus, Zumbi dos Palmares, besetzt. Und wir bereiten zur Zeit eine dritte Besetzung vor.

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