Honduras | Nummer 572 - Februar 2022 | Politik

„ES IST MÖGLICH, UNSEREN STAAT ZU RETTEN“

Interview mit dem Menschenrechtsaktivisten Dennis Muñoz über die aktuelle politische Situation in Honduras

Am 27. Januar wurde Xiomara Castro von der honduranischen Linkspartei LIBRE als erste Präsidentin des Landes vereidigt. Castro hatte die Präsidentschaftswahl Ende November mit 51 Prozent gewonnen, ihre Partei besitzt aber keine Mehrheit im Kongress (siehe LN 571). Am 21. Januar spaltete die Wahl des provisorischen Parlamentspräsidenten die Partei LIBRE. In den folgenden Tagen wählten die beiden Parlamentsfraktionen zwei verschiedene Präsidenten, die sich gegenseitig die Legitimität absprechen. Massive Mobilisierungen füllten die Straßen der Hauptstadt. LN sprachen mit dem honduranischen Menschenrechtsverteidiger Dennis Muñoz über die Ereignisse und ihre Hintergründe sowie Castros Chancen, Korruption und Straflosigkeit zu bekämpfen.

Interview: John Mark Shorack, Übersetzung: Elisabeth Erdtmann


Dennis Muñoz ist Menschenrechtsverteidiger, Sozialforscher und begleitet Menschenrechtsbewegungen in Mittelamerika. Er hat in Honduras in den Bereichen der Rechtssicherheit und der Verteidigung von Kinder- und Jugendrechten gearbeitet. Derzeit lebt er im Exil in Deutschland.

(Foto: Privat)


Am 21. Januar spaltete sich die Parlaments­fraktion der LIBRE-Partei – wie kam es dazu?
Der neuralgische Punkt für die 20 Dissidenten von LIBRE ist das politische Abkommen, das vor den Wahlen zwischen der Kandidatin von LIBRE, der jetzigen Präsidentin Xiomara Castro, und Salvador Nasrralla von der Partei Salvador de Honduras unterzeichnet wurde. Nasrralla hatte versprochen, auf seine Präsidentschaftskandidatur zu verzichten, falls ein Mitglied seiner Partei nach dem Wahlsieg von LIBRE den Vorsitz im Kongress erhalten würde.

Die abtrünnigen LIBRE-Abgeordneten waren nicht damit einverstanden, dass ein Angehöriger einer anderen politischen Partei Präsident des Nationalkongresses werden sollte. Sie wurden von der Nationalen Partei und der Liberalen Partei zu ihrem Abstimmungsverhalten verleitet, die die Kontrolle über die Legislative nicht verlieren wollen. Aber im Grunde versuchen diese beiden Parteien, das Land zu destabilisieren. Sie wollen vor allem mögliche Abkommen verhindern, die Auslieferungen an die USA ermöglichen. Und sie wollen verhindern, dass das Strafgesetzbuch in Bezug auf Korruptionsverbrechen geändert wird, weil die bestehenden Gesetze ihnen Schutz und Straffreiheit gewähren.

Was geschah innerhalb der LIBRE-Partei und im Nationalkongress bei der Wahl des neuen Vorstandes?
Am 21. Januar wurde der demokratische Grundsatz verletzt, vor den Vorschlägen von Kandidaten respektvoll zu debattieren und ein Rechtsfehler begangen, der über den Bereich des politischen Konflikts hinausgeht. Bei der Wahl des provisorischen Parlamentspräsidenten nahm der Innenminister den ersten Antrag an, bei dem die Abgeordnete Beatriz Valle den Abgeordneten Jorge Calix als provisorischen Präsidenten vorschlug. Es gab keine Gelegenheit für die zweite Nominierung, bei der die Abgeordnete Rassel den Kandidaten Luis Redondo vorschlagen wollte. Dann stimmten 20 LIBRE-Abgeordnete zusammen mit der Nationalen Partei und der Liberalen Partei für den ersten Antrag und erreichten das notwendige Quorum von 82 Stimmen für Calix.

Zwei Tage später, in der Sitzung vom 23. Januar, wurde die zweite Unregelmäßigkeit begangen. Der Kongress wurde mit Verspätung und an einem Ort am Rande der Stadt einberufen. Die Fraktion, die Jorge Calix mit 82 Abgeordneten gewählt hatte, tagte an diesem Ort.

Die Gruppe, die im Kongressgebäude auf den Beginn der Sitzung wartete, bestand aus den verschiedenen Abgeordneten, die Luis Redondo unterstützten. Sie beschlossen, stellvertretende Abgeordnete zu integrieren, um die fehlenden Stimmen der abweichenden Abgeordneten der LIBRE-Partei auszugleichen und für Redondo zu stimmen. Es fanden also zwei getrennte Kongresssitzungen statt und es gab zwei Präsidenten, aber beide waren nicht rechtmäßig und beide Wahlverfahren waren technisch gesehen nicht verfassungsgemäß, sondern fehlerhaft.

Wie erklären Sie sich, dass die abtrünnigen Mitglieder der LIBRE-Partei mit der Nationalen und der Liberalen Partei gestimmt haben?
Diese 20 Abgeordneten gehören seit zwölf Jahren zu den Loyalsten gegenüber LIBRE und zu den Kritischsten gegenüber der Regierung der Nationalen Partei. Sie stammen aus verschiedenen Regionen des Landes und führen politische und soziale Bewegungen an. Innerhalb der Logik der honduranischen Politik ist es undenkbar, dass sie auf die Idee gekommen sein könnten, mit der Nationalen Partei zu paktieren. Aber die Angst, die Kontrolle über die Legislative zu verlieren, war die Rechtfertigung für eine unverhältnismäßig riskante Aktion, um den Sieg ihrer Partei zu sichern. Dadurch haben sie die Legitimität, die LIBRE in Bezug auf die Wahl hatte, beschädigt. Es war eine verzweifelte Entscheidung, denn es gab keine interne Diskussion über die Wahl von Redondo.

Hat die Nationale Partei bereits vorher versucht, die Wahl und die Amtseinführung von Castro abzuwenden?
Die Nationale Partei legt ihr schon seit zwei Jahren Hindernisse in den Weg. Seit der Reform der Institutionen zur Durchführung des Wahlprozesses in Honduras hat die Nationale Partei die Umsetzung der Wahlreformen über zwei Jahre verzögert. Und in den darauffolgenden zwei Jahren, in denen die institutionelle Infrastruktur aufgebaut und mit Leben gefüllt wurde, bremste die Nationale Partei noch mehr. So dauerte es beispielsweise ein Jahr, bis der Haushalt für diese Institutionen genehmigt wurde. 60 Tage vor den Wahlen verfügte der Nationale Wahlrat noch über kein Budget für die Durchführung des Wahlprozesses. Außerdem erklärte sich die Nationale Partei am Wahltag zweimal zum Wahlsieger und versuchte alles Erdenkliche, um die Auszählung der Wahlurnen zu verzögern.

Zweifellos versucht die Nationale Partei, die parlamentarischen Prozesse zu sabotieren. Sie hat die Schwächen und Uneinigkeit von LIBRE ausgenutzt, um einen Kongress zu verhindern, der es ermöglichen würde, ein Quorum für die Wahl des nächsten Obersten Gerichtshofes und des nächsten Generalstaatsanwaltes der Republik zu erhalten.

Kann Präsidentin Castro ihr Regierungs­programm angesichts dieser Situation im Kongress noch umsetzen?
Die honduranische Gesellschaft hat ihr Vertrauen in LIBRE gesetzt, die nun schnelle Antworten geben muss. Die Partei hat einen Regierungsplan für die ersten 100 Tage vorgelegt. Sie konzentriert sich auf vier Schwerpunkte: die Wiederherstellung der Institutionen im Dienst der Bürger, des Bildungssystems und der Effizienz des Gesundheitswesens sowie im wirtschaftlichen Bereich die Reaktivierung der Beschäftigung und die Wiederbelebung der kleinen und mittleren Unternehmen. Dazu muss ein neuer Gesamthaushalt ausgehandelt werden, der eine Mehrheit von 86 Stimmen im Kongress benötigt. Das bringt die neue Regierung in eine schwierige Lage.

Wie könnte die Präsidentin gegen Korruption und Straffreiheit vorgehen?
Wir dürfen nicht unterschätzen, dass der Kampf gegen die Korruption lediglich ein Schlagwort ist, vor allem von Politikern. Die politische Klasse in Honduras hat mit dem System der Korruption die beste Einrichtung geerbt, um sich zu bereichern. Castro hat sich verpflichtet, die internationale Gemeinschaft erneut um Unterstützung zu bitten, um das Problem der Korruption und der Straflosigkeit zu lösen. Um dazu ein neues Abkommen über eine Kooperation zu unterzeichnen, sind in diesem neuen Kongress 86 Stimmen erforderlich. Das setzt voraus, dass sich ein Teil der Abgeordneten der Nationalen Partei von ihrer Partei distanziert. Eine Koalition der parlamentarischen Kräfte, die eine solche Einigung erreichen könnte, wird meiner Meinung nach schwierig sein.

Menschenrechts­verteidiger*innen und Aktivist­*innen werden in Honduras oft verfolgt, bedroht oder gar getötet. In den meisten Fällen herrscht Straflosigkeit. Wird es unter der Regierung Castro eine positive Veränderung geben?
Die Regierung von Xiomara Castro hat sich verpflichtet, einen Prozess des Schutzes und der Wiederbelebung der Kultur der Menschenrechte zu gewährleisten. Am 9. Januar wurde Pablo Hernández, ein Menschenrechtsverteidiger aus San Marcos de Caiquín, ermordet. Er wurde bereits verfolgt und war sogar gewarnt worden, dass er verfolgt werde. Dass sein Leben nicht geschützt werden konnte, ist eine Schande. Der Staat verfügt über Schutzmechanismen für Menschenrechtsverteidiger und steht unter Beobachtung durch die internationale Gemeinschaft, um den Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten. Worüber er nicht verfügt, ist der ausdrückliche Wille der honduranischen Institutionen, die Menschenrechtsverteidiger zu schützen.

Welche Botschaft hat die honduranische Bevölkerung mit den Wahlergebnissen gesendet?
Die honduranische Bevölkerung hat gesagt: Wir wollen in einer Demokratie leben. Wir glauben, dass es möglich ist, unseren Staat zu retten, wir glauben, dass es möglich ist, wieder an die politische Klasse zu glauben. Jedoch beobachtet und überprüft durch die Bürger, mit etwas mehr Zweifeln und Argwohn gegenüber einer politischen Klasse, die sich als Alternative für den Wandel präsentiert hat. Und ohne aus dem Blick zu verlieren, dass der derzeitige Konflikt im Nationalkongress den Willen der Wählerinnen und Wähler untergraben könnte, daran zu glauben, dass es möglich ist, einen Rechtsstaat und eine Demokratie zu erhalten, in der sie sich einbezogen fühlen.

EIN KONGRESS, ZWEI VORSTÄNDE

Die honduranische Verfassung sieht vor, dass der Nationalkongress Entscheidungen mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit trifft. Der Vorstand des Kongresses wird mit einfacher Mehrheit gewählt, d.h. mit mindestens 65 Ja-Stimmen der 128 Abgeordneten. Das gilt auch für parlamentarische Anträge und die Verabschiedung der meisten Gesetze. Für Verfassungsreformen und die Wahlen für den Obersten Gerichtshof, der Generalstaatsanwaltschaft und der Ombudsperson des Landes ist eine qualifizierte Mehrheit von 86 Stimmen erforderlich. Beide Quoren werden von der Partei LIBRE allein nicht erreicht. Bei Redaktionsschluss hielt das Patt zwischen den beiden gewählten Parlamentspräsidenten an. Als positiv ist die verfassungsgemäße Vereidigung der gewählten Präsidentin Xiomara Castro zu beurteilen. Mitglieder von LIBRE und verschiedener sozialer Bewegungen zeigten eine massive Präsenz im Nationalstadion und auf den Straßen von Tegucigalpa. Auch die US-amerikanische Vizepräsidentin Kamala Harris sowie Regierungsvertreter*innen verschiedener Staaten nahmen an der Amtseinführung von Castro teil.

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