Haiti | Nummer 243/244 - Sept./Okt. 1994

Es riecht ein bißchen nach Krieg

Kommt die Invasion?

Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, ist eine Premiere über die Bühne gegan­gen: Ende Juli baten die USA die internationale Staatengemeinschaft erstmals um Erlaubnis, in ihrer eigenen Hemisphäre intervenieren zu dürfen. Während die internationalen Flottenverbände unter US-Führung vor der haitianischen Küste kreuzen, bereitet sich auf der Insel nicht nur die Militärjunta, sondern auch die Bevölkerung auf die Invasion vor. Bei seinem Aufenthalt auf Haiti sammelte der taz-Redakteur Thomas Schmid Eindrücke von der Stimmung auf der Insel.

Thomas Schmid

Bei allen vorherigen Interventionen in Südamerika hatte sich das Weiße Haus an die von US-Präsident James Monroe 1823 verkündete Doktrin gehalten: “Amerika den Amerikanern”. Was im eigenen Hin­terhof geschieht, hielt man in Washington für eine familiäre Angelegenheit, die den Rest der Welt nichts anging. Nun aber fragte man erst im New Yorker Glaspalast nach, und der UN-Sicherheitsrat gab sein Plazet – mit einer Begründung, die eine Intervention wohl in mehr als der Hälfte der Staaten der Welt rechtfertigen würde. Gibt es denn in Algerien nicht auch eine Militärdiktatur, die in keiner Weise demo­kratisch legitimiert ist? Gibt es denn im Iran nicht auch Folter, Mord und Tot­schlag? Und Birma? Und Nigeria? Und Syrien? Und und und.
Der UN-Beschluß – Zeichen politischer Doppelmoral
In völkerrechtlicher Hinsicht ist die UN-Resolution, die die USA zur Intervention in Haiti ermächtigt, höchst problematisch. Von Port-au-Prince geht keine Gefahr für den Weltfrieden aus. Das Militär des Ka­ribikstaates hat keine erkennbaren Ab­sichten, einen anderen Staat anzugreifen oder auch nur zu bedrohen. Die Armee mit 7.000 Soldaten, einem halben Dutzend veralteten Panzern und zwei verrosteten Flugzeugen wäre wohl auch nicht in der Lage dazu. – Und seit wann sind diktatori­sche Verhältnisse in einem immerhin sou­veränen Staat ein Grund für eine interna­tionale Invasion? Von einem Völkermord, den im übrigen die UN-Charta nicht als Grund für eine Intervention vorsieht, kann in Haiti nicht die Rede sein. Seit dem Sturz Aristides vor drei Jahren sind zwar an die 3.000 AnhängerInnen des Präsi­denten ermordet worden – im Durchschnitt täglich drei, ein zwanzigstel Prozent der Bevölkerungs. Die Zahl der Todesopfer ist hoch, im Vergleich mit Menschenrechts­verletzungen in anderen Teilen der Welt jedoch so ganz unüblich nicht.
Trotzdem: Vor Haitis Küste steht ein US-amerikanischer Flottenverband von 14 Schiffen mit Kampfhubschraubern und Transportmaschinen bereit. Wochenlang haben Marineinfanteristen der US-Armee im nahen Puerto Rico Landeoperationen geprobt. 10.000 bis 12.000 Soldaten war­ten auf den Befehl, unter ihnen lediglich 266 ohne US-Paß, die als internationales Feigenblatt einer Invasion der Vereinigten Staaten dienen sollen. US-Außenminister Christopher kündigte jüngst an: “So oder so, die Regierung in Haiti wird gehen. Ihre Tage sind gezählt.” Der stellvertre­tende Verteidigungsminister John Deutch war sogar noch weiter gegangen und hatte eine Invasion auch für den Fall eines Rücktritts der haitianischen Militärmacht­haber angekündigt.
Alltag im Ausnahmezustand
Die Machthaber in Port-au-Prince haben inzwischen im Zentrum der Hauptstadt große Spruchbänder anbringen lassen, auf denen sie mit einem schlichten “NON”, “nein”, kundtun, daß sie gegen eine Inva­sion und gegen das Embargo sind. Auf den Zufahrtsstraßen zum blütenweißen Palast der Regierung liegen bereits Sand­säcke, die aber nicht einmal den alten Schrottautos, die das Straßenbild bestim­men, den Weg ernsthaft zu versperren vermögen. Über das Dach der US-Bot­schaft huschen schwer bewaffnete Ge­stalten. Es riecht ein bißchen nach Krieg.
Aber was kümmert all das die Leute? Zu staatlich organisierten Demonstrationen gegen eine Invasion kommen in der Zweimillionenmetropole in der Regel knapp tausend Menschen zusammen, vorwiegend Angestellte der Ministerien, die wohl auch fürs Gegenteil auf die Straße gingen, wenn es nur angeordnet würde. Nein, die Sorgen der Menschen drehen sich um anderes, vor allem um die Preise, die das Wirtschaftsembargo beinahe täglich ein Stück weiter in die Höhe treibt. Für immer mehr wird das Le­ben zum täglichen Überlebenskampf. Apathie und Resignation haben sich bei einer Bevölkerung breitgemacht, die vor drei Jahren noch auf “Lavalas” (kreolisch für “Erdrutsch”, Sturzflut) setzte, die Be­wegung, die Aristide an die Macht gespült hat, die Bewegung, die mit dem Alten aufzuräumen und eine neue Welt zu brin­gen versprach.
Zwischen Agonie und verhaltener Hoffnung
Heute spricht man selbst in Cité Soleil, dem mit vielleicht 200.000 EinwohnerIn­nen größten Slum von Port-au-Prince, ei­ner Hochburg der Aristide-AnhängerInnen, nicht mehr laut vom ge­stürzten Präsidenten. Man ist vorsichtig geworden. Es gibt hier immerhin drei Ka­sernen, wie die Stützpunkte der Attachés, der bewaffneten zivilen Helfer der Mili­tärs, genannt werden. Die “Ti Legliz”, die haitianische Basiskirche, wirkt hier fak­tisch weitgehend in der Illegalität. Man trifft sich heimlich, zu viele schon sind ermordet worden. Das Demonstrieren hat man sich längst abgewöhnt.
Willkürherrschaft der “mächtigen Män­ner”
Die FRAPH, die Partei der Ex-Duvalie­risten und Attachés, kontrolliert das Vier­tel, und sie kriegt sogar Zulauf. Hier, wo es weder Toiletten noch fließendes Was­ser gibt, wo die Menschen in Blechver­schlägen auf engstem Raum unter unbe­schreiblichen Verhältnissen leben, oft nur mehr dahinvegetieren, ohne Aussicht, daß an ihrem Dasein sich je etwas ändern wird, hier gibt es genügend Leute, die sich kaufen lassen oder die eben einfach – pure Überlebensstrategie – sich auf die Seite des Stärkeren schlagen.
Der Stärkere, das ist auf dem Land wieder der “Chef de section”, der lokale Armee­chef, im Volksmund “Gwo Neg” – kreo­lisch für “gros negre”, “großer Schwar­zer”, “mächtiger Mann”. Er ist Polizei­chef, Richter und Steuereintreiber in einer Person, und oft hat er in seinem Dorf so­gar sein eigenes, ganz privat betriebenes Gefängnis. Zu Diensten stehen ihm die “Chouket Lawouze”, die die Drecksarbeit erledigen. Viele von ihnen sind alte “Tontons Macoutes”, Angehörige der auf­gelösten Privatmiliz der Duvaliers. Der Staat bezahlt sie nicht, weil es sie offiziell gar nicht gibt. Und so holen sie sich ihren Lohn eben auf eigene Faust, mit der Waffe in der Hand. Während der sieben­monatigen Regierungszeit Aristides sind die “Chefs de section” aus den Dörfern verschwunden, doch nach dem Putsch vom September 1991 waren sie sofort wieder da.
Jetzt sind die anderen verschwunden: die Aktivisten von “Lavalas”. Bei den Lo­kalwahlen haben sich in den örtlichen Verwaltungen vielerorts Anhänger Aristi­des durchgesetzt. Nur höchst selten findet man auf dem Land einen Bürgermeister, da die meisten abgetaucht sind. An die 300.000 Menschen, so schätzt die “Kommission für Gerechtigkeit und Frie­den” der katholischen Kirche, haben ihr Zuhause verlassen und halten sich ir­gendwo im Land versteckt. Sie sind in an­deren Provinzen – außerhalb der Reich­weite ihres “Chefs de section” – bei Ver­wandten untergekommen oder schlagen sich in der Hauptstadt durch.
“Changement” – Hoffnung auf den “Wechsel”
Für den Fremden ist es schwierig, auf dem Land etwas in Erfahrung zu bringen. Nur die wenigsten sprechen französisch, und Übersetzern aus der Hauptstadt mißtrauen die Leute grundsätzlich. Wenn dann doch ein Gespräch zustandekommt, wird dieses in der Regel schon nach wenigen Sätzen unter einem billigen Vorwand abgebro­chen. “Sie werden uns nachher ausfragen”, entschuldigen sich die Mutigeren. Wer sich mit AusländerInnen unterhält, macht sich verdächtig, hat nachher nur Ärger. Doch die wenigen Sätze reichen, um mit­zuteilen, daß man für das “changement”, also für den “Wechsel”, die “Ver­ände­rung” ist.
“Changement” ist zum Synonym für Ari­stide geworden, dessen Namen man nicht mehr in den Mund zu nehmen wagt. “Changement” hört sich unverdächtiger an. Manchmal kann das Wort auch mit “Invasion” übersetzt werden. Die meisten Menschen auf dem Land würden wohl eine militärische Intervention begrüßen. Sie würde Aristide zurückbringen und dem Terror der verhaßten “Chefs de sec­tion” ein Ende setzen.
Auch in Port-au-Prince, wo es einfacher ist, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, ist die Hoffnung auf die US-Amerikaner überall zu spüren. Nach einer Invasion würde ja auch das Embargo auf­gehoben, das die Mittelschichten in die Armut, die Armen ins Elend und die Ärm­sten an den Rand des Hungertodes ge­stürzt hat. Vor allem in Salines und Cité Soleil, den Elendsvierteln der Hauptstadt, wo Aristide jahrelang als salesianischer Priester wirkte und später als Präsident immense Hoffnungen weckte, würde die Mehrheit eine militärische Intervention zweifellos begrüßen. Den AktivistInnen der Basisorganisationen und der “Ti Legliz” fällt es da schwer, die Menschen von den Gefahren einer Invasion zu über­zeugen.
US-Marines als künftiges Boll­werk gegen “Lavalas”?
Während regimenahe Intellektuelle davor warnen, daß eine Invasion zu einer anti­imperialistischen Mobilisierung breiter Massen und letztlich zu einem langwieri­gen Bürgerkrieg führen würde, befürchtet man in den Kreisen der politischen Lin­ken, die ideologisch die Basisorganisatio­nen in den Elendsvierteln dominieren, et­was ganz anderes: Wenn die Marines mal da seien, würden sie – anders als im Fall Grenada oder auch Panama – erst mal ein paar Jahre bleiben. Letztlich gehe es der US-Regierung nicht darum, für demokra­tische Verhältnisse zu sorgen, sondern darum, die Massen zu kontrollieren und “Lavalas”, die Sturzflut, eine revolutio­näre Entwicklung, aufzuhalten.
Gewiß müßten die US-Truppen in Haiti länger bleiben als in Panama oder in Gre­nada, wenn sie verhindern wollen, daß nach ihrem Abzug die alten Verhältnisse wieder zurückkehren. Gewiß würden sie nach einer Entmachtung der haitianischen Militärkamarilla zwangsläufig Ordnungs­funktionen, gegebenenfalls auch gegen­über spontanen Massenbewegungen, wahrnehmen.
Trotzdem scheint das eigentliche Problem der US-Regierung nicht eine revolutionäre Bewegung in Haiti zu sein. Aristide, der im übrigen heute viel moderatere Positio­nen vertritt als bei seinem Amtsantritt vor dreieinhalb Jahren, wird schon allein auf­grund der wirtschaftlichen Zerrüttung Haitis mit der Oberschicht seines Landes und auch den USA Kompromisse einge­hen müssen, will er seine soziale Basis, die verarmten Massen, nicht noch mehr dem Elend preisgeben. Nein, neben den Wahlen zum Repräsentantenhaus im kommenden November besteht das ei­gentliche Problem Bill Clintons in den derzeitigen Verhältnissen auf der Karibi­kinsel. Allerdings nicht, weil sie undemo­kratisch sind, sondern weil ihnen immer mehr HaitianerInnen in selbstgezimmerten Booten entfliehen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den USA.

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