Mexiko | Nummer 489 - März 2015

Es rumort im „Reich der Straffreiheit“

Soziale Bewegungen beginnen die basisdemokratische Erneuerung der mexikanischen Gesellschaft

Am 5. Februar, dem Jahrestag der Verkündung der mexikanischen Verfassung, stellte sich in Mexiko-Stadt das Bündnis für eine verfassungsgebende Versammlung „von unten“ vor. Diese möchte die durch Freihandel, Drogenkrieg, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen ausgehöhlte Verfassung von 1917 wieder zum Leben erwecken und eine basisdemokratische Neugestaltung Mexikos ermöglichen.

Paula Lochte

Magdiel Sánchez Quiroz hat sich vorgenommen, der mexikanischen Verfassung neues Leben einzuhauchen. Deshalb macht der Aktivist zusammen mit der Initiative Constituyente Ciudadana y Popular (etwa: Verfassungsgebende Versammlung der Bürger*innen) von Artikel 39 der Verfassung Gebrauch: Das Volk hat das unveräußerliche Recht, jederzeit die Regierungsform zu ändern. Mit der basisdemokratischen Erarbeitung einer neuen Verfassung möchten sie der Gewalt und Straflosigkeit, an der die staatlichen Institutionen selbst mitwirken, entgegentreten.
Am 5. Februar stellte die Constituyente in Mexiko-Stadt ihr Vorhaben öffentlich vor. Der Termin war nicht zufällig gewählt worden, denn an diesem Tag feiert Mexiko alljährlich die Verfassungsverkündung von 1917 – ein schal gewordenes Erinnerungsritual an eine Grundordnung, deren wesentlichen Prinzipien längst ausgehöhlt wurden. „Der ursprüngliche Verfassungstext, den wir verteidigen und von dem wir ausgehen, ist völlig entstellt,“ meint auch Sánchez. „Der Text wurde, ebenso wie der gesamte Gesetzeskorpus des Landes, geändert und manipuliert, so dass er nur einige wenige begünstigt, anstatt im Dienste der Gerechtigkeit zu stehen.“ Zu der Veranstaltung der Constituyente kamen etwa 800 Menschen, unter ihnen auch Eltern der 43 gewaltsam verschwunden gelassenen Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa und der Überlebende des Verbrechens, Omar García. An der Constituyente beteiligt sich ein breites Spektrum von Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften, Künstler*innen, Intellektuellen sowie kleinbäuerlichen und anderen sozialen Initiativen. Darunter sind der Maler Francisco Toledo, der Menschenrechtler und Priester Alejandro Solalinde, der Schriftsteller Javier Sicilia und die feministische Journalistin Lydia Cacho. Einer der führenden Köpfe ist der Bischof Raúl Vera, eine wichtige Stimme der progressiven Kräfte Mexikos.
Die Constituyente strebt eine verfassungsgebende Versammlung „von unten“ an. An dieser sollen, wie Bischof Vera erklärt, Hausfrauen, Akademiker*innen, Kleinunternehmer*innen und Arbeiter*innen aus dem informellen Sektor ebenso teilhaben wie Studierende und Indigene. Als verbindendes Element wird eine „alternative mexikanische Nation“ beschworen. Der Konsultationsprozess hatte bereits 2014 begonnen.
Ziel der Constituyente ist nicht nur die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die der pluralistischen Gesellschaft Mexikos gerecht werden soll, sondern letztlich die grundlegende Reformierung des Landes. Das Constituyente-Bündnis verurteilt die Verwicklung des mexikanischen Staates sowie (trans-)nationaler Unternehmen in systematische Menschenrechtsverletzungen. Das Massaker von Tlatlaya 2014, bei dem Soldaten 22 Zivilist*innen erschossen, und das gewaltsame Verschwindenlassen und die mutmaßliche Ermordung der 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa durch staatliche Sicherheitskräfte „bilden nur die Spitze des Eisbergs einer langen Reihe von Menschenrechtsverletzungen“, analysierte das Constituyente-Bündnis.
So kann die Constituyente als folgerichtiger Schritt nach dem – rechtlich nicht bindenden – Urteil des Ständigen Tribunals der Völker (TPP) Ende 2014 verstanden werden. Dieses hatte 2011 seine Arbeit aufgenommen und als eine Art zivilgesellschaftliches Gewissenstribunal in öffentlichen Anhörungen die verheerenden Folgen von Freihandelspolitik, Drogenkrieg, Gewalt und Verletzung der Völkerrechte durch Staat und Unternehmen in Mexiko aufgedeckt (siehe LN 483/484). In dem Urteil des TPP heißt es: „In diesem Reich der Straffreiheit, das Mexiko heute ist, gibt es Morde ohne Mörder, Folter ohne Folterer, sexuelle Gewalt ohne Vergewaltiger – eine Situation der permanenten Umgehung der Verantwortung, in der es scheint, als seien die zu Abertausenden verübten systematischen Verletzungen der Völkerrechte stets Einzelfälle oder Randerscheinungen und keine echten Verbrechen, für die der Staat mitverantwortlich ist.“ Nicht von ungefähr wird im Fall Ayotzinapa von offizieller Seite der völkerrechtlich verbindliche Begriff des „gewaltsamen Verschwindenlassens“ vermieden.
Dem Urteil des TPP folgend ist eine zentrale Forderung der Constituyente die Achtung der Bürger*innen- und Menschenrechte, einschließlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundrechte. Dazu gehört erstens die Beendigung der Straflosigkeit, der Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen und Indigene sowie der Kriminalisierung sozialer Bewegungen. Zweitens ein effektiver Arbeitnehmer*innenschutz. Drittens die Bekämpfung von Fluchtursachen und der Schutz von Migrant*innen. Außerdem soll eine Abkehr von der neoliberalen Politik Mexikos und damit von Privatisierung, Deregulierung, Umweltzerstörung und dem Freihandelsabkommen NAFTA erreicht werden. Auch Bischof Vera führt die politische, ökologische und soziale Krise Mexikos in großen Teilen auf die drei Jahrzehnte neoliberaler Politik zurück.
Am 05. Februar stellte sich noch eine weitere, ähnlich gelagerte Initiative vor: Der Nationalkonvent der Bürger*innen (Convención Nacional Popular). Er wurde von Eltern und Kommiliton*innen der 43 gewaltsam verschwunden gelassenen Studenten initiiert und steht in engem Austausch mit der Constituyente. Ziel ist, die neue Protestbewegung Mexikos, die nach dem Verbrechen von Ayotzinapa entflammte, aber Ausdruck einer lang angestauten Empörung ist, zu bündeln und ein politisches Programm sowie eine gemeinsame Strategie zu entwicklen.
Den zivilgesellschaftlichen „Alternativinstitutionen“ – TPP, Constituyente und Konvent – ist gemeinsam, dass sich ihre demokratische Legitimität nicht mittelbar aus Wahlen, sondern aus drei anderen Quellen speist. Erstens gehen sie von den bestehenden Menschenrechtsverträgen aus und geben diesen einen Vorrang vor Wirtschafts- und Handelsabkommen sowie nationaler Rechtsprechung und -praxis. Zweitens setzen sie sich insbesondere aus Bevölkerungsgruppen zusammen, denen bestimmte Rechte vorenthalten werden, oder beziehen diese effektiv ein. Neben Betroffenen zählen drittens auch Fachleute und Bürgerrechtler*innen zu ihren Mitgliedern.
Magdiel Sánchez, der sich neben der Constituyente unter anderem bei den Jóvenes ante la Emergencia Nacional (Jugendliche gegen den Nationalen Notstand) und dem TPP engagiert, erklärt die vom Constituyente-Bündnis eingeschlagene Organisationsform als eine bewusste Entscheidung gegen den parteipolitischen Weg. Dies solle nicht eine Ablehnung der Demokratie ausdrücken, sondern müsse vielmehr als Kritik an der antidemokratischen Strukturierung der politischen Parteien und des politischen Systems Mexikos verstanden werden. Die Gründung einer Partei sei nicht zweckdienlich, um das Land grundlegend zu verändern. Stattdessen sollen die Menschen zu kollektiver Mitbestimmung und Selbstverwaltung befähigt werden. Sánchez meint: „Die Trennung zwischen Herrschern und Beherrschten, die wir hier haben, wollen wir aufheben. In gewisser Weise sollen wir alle regieren“. Das heißt nicht, dass gänzlich auf Abgeordnete verzichtet werden soll. Die politische Klasse müsste jedoch durchlässiger, transparenter und stärker von den Bürger*innen kontrolliert werden.
Die Constituyente möchte den mexikanischen Staat zurück vom Kopf auf die Füße stellen: Das Volk muss die Regierung kontrollieren, nicht anders herum. Deshalb soll der Prozess der partizipativen Verfassungsschreibung in die Neugründung der politischen Gewalten und ihre Rückbindung an rechtsstaatliche Prinzipien münden. An die Stelle der Seilschaften politischer und wirtschaftlicher Eliten und korrumpierter Parteien sollen in einem neuen Kongress auf basisdemokratische(re) Weise die Bevölkerung und ihre Bedürfnisse treten.
Die Konsultationen zur Verfassungsschreibung werden nun systematisiert und fortgesetzt. Universitäten ebenso wie Analphabet*innen sollen in Zukunft stärker einbezogen werden – letztere über informative Theaterstücke und audiovisuelles Material. Auch ist geplant, die Materialien und Veranstaltungen zukünftig in indigene Sprachen zu übersetzen. Mit Blick auf die Regionalwahlen Mitte dieses Jahres lädt das Bündnis zu einem Bundestreffen am 21. März ein. Außerdem soll bis zum 2. Mai eine verfassungsgebende Nationalversammlung, das sogenannte „Komitee für die Neugründung des Landes“ (Comité de Refundación Nacional) entstehen. Ausgehend vom Treffen am 05. Februar bilden sich dafür nun in den Bundesstaaten Komitees. Diese sollen die Idee der Constituyente mit lokalen sozialen Bewegungen verbinden, kommunale Komitees und Nachbarschaftsvereinigungen initiieren und Öffentlichkeitsarbeit sowie Workshops für Multiplikator*innen koordinieren.
Die politischen und juristischen Institutionen Mexikos befinden sich in einer tiefen Legitimitätskrise. Die Bevölkerung setzt ihnen mit Projekten wie der Constituyente, dem TPP oder auch dem Nationalkonvent der Bürger*innen eigene Entwürfe entgegen. Ein politischer Akt, der zeigt, dass „dieses bessere Mexiko bereits hier und jetzt existiert, und zwar als etwas unmittelbar Praktisches und Offenes“, wie es der Soziologe Andrés Barreda mit Blick auf das TPP ausdrückt. Angesichts von Gewalt und Staatskrise ist es zumindest ein ermutigendes Zeichen der sozialen Bewegungen, mit Gewaltfreiheit und Basisdemokratie das gesellschaftliche Zusammenleben neu gestalten zu wollen.


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