Ecuador | Nummer 313/314 - Juli/August 2000

Etwas Zuckerbrot und viel Peitsche

Etwas Zuckerbrot und viel PeitscheEcuadors Regierung trotzt den Protesten der Bevölkerung und setzt weiter auf Dollarisierung

Der Spielraum für Präsident Gustavo Noboa kann kaum enger sein: Einerseits muss er die Forderungen der internationalen Finanzinstitutionen erfüllen, um Devisen für seine leere Staatskasse zu bekommen, andererseits erhöhen die sozialen Bewegungen durch Proteste und Streiks den Druck auf seine Politik. Gelingt es ihm nicht, den richtigen Weg zu finden, droht seine Amtszeit wie die seines Vorgängers ein jähes Ende zu finden. Denn der Indígena-Dachverband CONAIE sägt bereits kräftig an seinem Stuhl und spricht offen von einem neuen Aufstand.

Tommy Ramm

Fünf Monate und noch immer im Amt. Für die derzeitigen Verhältnisse in Ecuador grenzt es an ein kleines Wunder, dass der parteilose Präsident Gustavo Noboa noch auf dem Präsidentenstuhl sitzt. Schließlich muss er einen Balanceakt zwischen den fast unerfüllbaren Forderungen der internationalen Geldgeber und dem Druck sozialer Bewegungen vollführen.
Dass er letztere – besonders den Indígena-Dachverband CONAIE – sehr ernst nehmen muss, haben diese am 21. Januar bewiesen, als sie mit Teilen des Militärs völlig überraschend den vorherigen Präsidenten Jamil Mahuad aus dem Amt jagten. Mahuad wollte die seit Jahren katastrophale Wirtschaft dollarisieren und durch Schockmaßnahmen verbessern – und stolperte prompt über den organisierten Widerstand besonders der Indígenas und über die eigenständigen Machtbestrebungen im Militär (vgl. LN 308).
Annähernd die gleichen Wirtschaftsmaßnahmen peilt nun Noboa an – damals Vizepräsident unter Mahuad –, nur mit dem Unterschied, dass er selbiges Reformpaket Mitte März zügig durch das Parlament bringen konnte. Spätestens seit dem Aufstand scheinen die Abgeordneten bemerkt zu haben, dass eine Schwächung des Präsidenten auch ihre Positionen in Gefahr bringt.
Dies bedeutete, dass der Weg zur Dollarisierung (vgl. LN 310) in Ecuador zum 1. April frei war. Somit soll sich innerhalb von knapp sechs Monaten ein kompletter Währungswechsel vom Sucre zum US-Dollar vollziehen. Mitte Mai begann der Bankensektor, die Geldautomaten umzustellen, die nun nur noch US-Dollar ausgeben. Seit dem 13. Juni werden Schecks ausschließlich in US-Dollar angenommen und verrechnet. Am 13. September soll der Sucre endgültig aus dem Verkehr gezogen werden.
Obwohl dieses Vorgehen bei den EcuadorianerInnen auf Widerstand stößt, will sich die Regierung nicht von dem Vorhaben abbringen lassen. Denn die Dollarisierung war eine Voraussetzung dafür, dass Kreditverhandlungen für das finanziell ausgeblutete Land beginnen konnten.

Ende der Ruhe

Am 19. April hatte die Regierung ein Abkommen mit dem IWF unterschrieben, das dem Land für die kommenden Monate ein Kreditvolumen von 304 Millionen Dollar einräumt und für die nächsten drei Jahre über zwei Milliarden Dollar in Aussicht stellt. Als Geldgeber fungieren neben dem IWF die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank und die Andine Korporation für Wirtschaftsförderung. Mit der Finanzspritze soll erreicht werden, dass der Staat finanziell liquide bleibt. Momentan besitzt die ecuadorianische Zentralbank noch rund 850 Millionen US-Dollar an Reserven, die jedoch Monat für Monat schrumpfen, allein im Juni um knapp 40 Millionen US-Dollar.
Schon seit Jahren kämpft Ecuador mit seinem Haushaltsdefizit. Im letzten Jahr betrug es vier Prozent, was den Staat veranlasste, die Schuldentilgung teilweise einzustellen. Die katastrophalen Reaktionen auf den Finanzmärkten folgten auf dem Fuß, der Sucre fiel ins Bodenlose (vgl LN 298).
Die Kreditgeber fordern, den Landeshaushalt noch in diesem Jahr zu sanieren und die Finanzen in ruhiges Fahrwasser zu bringen. Geplant ist ein Haushaltsüberschuss von 0,9 Prozent und eine Inflationsrate im einstelligen Bereich. Und das – wie erwartet – mit äußerst unpopulären Maßnahmen, die die Protestbewegungen nach wochenlanger Abstinenz wieder auf die Straßen riefen. Noboa verkündete eine Anhebung der Kraftstoffpreise, die sich sofort auf eine Erhöhung der Tarife im öffentlichen Nahverkehr um bis zu 100 Prozent niederschlagen sollte. In der Hauptstadt Quito und in der Wirtschaftsmetropole Guayaquil kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei, was den Präsidenten veranlasste, die Erhöhungen vorerst zurückzunehmen.
Opfer dieses Punktsieges der Protestierenden wurde Innenminister Francisco Huerta, der am 25. April seinen Hut nahm. Als Grund nannte er die kurz zuvor gescheiterten Gespräche mit der CONAIE. Diese verließ eine Gesprächsrunde mit der Regierung und verkündete, dass der Dialog beendet sei. “Die Regierung hat keinen politischen Willen”, so CONAIE-Vizepräsident Ricardo Olcuango. Und den müsse sie schleunigst an den Tag legen, will sie verhindern, dass es eine parallele Politik der Straße gibt und es zu einem neuen Aufstand kommt.

“Soziale” Preiserhöhungen

Einen neuen Anlauf wagte die Regierung am 25. Mai, als neue Wirtschaftsmaßnahmen vorgestellt wurden, diesmal mit etwas sozialeren Zügen. Um die Wogen im Vorfeld zu glätten und um gegen Inflation und Spekulation vorzugehen, wurde angeordnet, die Preise von über 200 Konsumprodukten für fünf Monate einzufrieren. Recht erfolglos: Lag die Inflation Anfang Mai noch bei 88,9 Prozent, stieg sie bis Ende Juni auf über 100 Prozent. Grundnahrungsmittel wie Fleisch und Milch standen gar nicht auf der Liste.
Abermals wurde die Erhöhung der Kraftstoffpreise, diesmal zwischen 66 und 99 Prozent, angekündigt. Zudem sollten umfangreiche Subventionen gestrichen werden.
Um diese Mehrbelastungen zu kompensieren, versprach Arbeitsminister Martin Inzúa unter anderem eine Erhöhung des Mindestlohnes für ArbeiterInnen im privaten und öffentlichen Bereich von 53 auf 116 Dollar im Monat. Des Weiteren soll in Schulen die Schulspeisung eingeführt und die medizinische Versorgung in den Krankenhäusern verbessert werden. Eine Erhöhung der Rentenzahlungen wurde gleichfalls in Aussicht gestellt. Trotz dieser Maßnahmen bleibt der reale Kaufkraftverlust in der Bevölkerung bestehen, was durch die weiter gestiegene Armut in Ecuador belegt wird, die knapp 70 Prozent der Bevölkerung betrifft.
Dass aber dieses vergleichsweise abgefederte Wirtschaftsprogramm innerhalb der Regierung nicht einhellige Zustimmung fand, lässt der Rücktritt des Wirtschafts- und Finanzministers Jorge Guzmán Ende Mai vermuten. Von vielen wurde er als Verteidiger und Schöpfer der Dollarisierung in Ecuador betrachtet. Gegenüber dem Kurs der jetzigen Regierung vertrat er die Idee eines harten “ökonomischen Schocks”, um die Wirtschaft des Landes wieder anzukurbeln.
Ein weiterer Grund für Guzmáns Rücktritt könnten ecuadorianischen Zeitungsberichten zufolge die Verhandlungen gewesen sein, die er kurz zuvor mit den Gläubigern vom Pariser Club und mit Vertretern des Brady-Bonds geführt hatte. Dabei ging es um ausstehende Schulden in Höhe von 6,5 Milliarden Dollar, die Ecuador im letzten Jahr nicht zurückzahlen konnte. Mit einer Außenverschuldung von 16,4 Milliarden Dollar steht das Land vor schier unüberwindbaren Finanzproblemen. Das Präsidialamt ließ nach Guzmáns Rücktritt verlauten, dass die Verhandlungen wie geplant weitergehen würden. Allerdings brauchte die Regierung fast zwei Wochen, um mit Luis Yturralde einen neuen Finanzminister ausfindig zu machen.

Neuer Protest formiert sich

Weit mehr Druck sieht sich die Regierung auf der politischen Bühne von links ausgesetzt. Nach Bekanntwerden der Wirtschaftsmaßnahmen kündigte die CONAIE gemeinsam mit GewerkschaftsvertreterInnen einen eigenen Vorschlag für ein Wirtschaftsmodell an, das die Dollarisierung und das Abkommen mit dem IWF ersetzen soll. Genaueres wurde zwar nicht erläutert, aber Blanca Chancoso, führende Person in der CONAIE, betonte, dass “die Menschen sich versammeln und die Alternativen diskutieren werden.” Stein des Anstoßes war neben den Preiserhöhungen die Ankündigung, staatliche Betriebe im Telekommunikations-, Energie- und Erdölsektor zu privatisieren. Die ecuadorianische Regierung hatte dies bereits in den letzten Jahren mehrfach versucht, scheiterte aber meist am Widerstand im Land und daran, dass die internationalen Interessenten aufgrund der politischen Instabilität ihre Angebote zurückzogen. Nun soll ab Oktober ein Privatisierungsprogramm durchgepeitscht werden. Die notwendigen Gesetzesinitiativen werden im Juli ins Parlament eingebracht – wenn die Abgeordneten aus dem Urlaub zurück sind.
Bereits Mitte Mai traten LehrerInnen und medizinisches Personal in einen unbefristeten Streik. Sie forderten deutliche Lohnerhöhungen. Als besonders unnachgiebig erwies sich dabei die Nationale Lehrerunion (UNE). Die Regierung drohte zwar mit strafrechtlichen Schritten, sollten die 23.000 Streikenden den Schuldienst nicht wieder aufnehmen. Für Carlos Medina, Mitglied der UNE, geht es statt dessen schlicht “um die Forderung nach einem Lohn, der es ihnen erlaubt zu überleben.” Während die Regierung eine Lohnerhöhung auf 70 Dollar monatlich in Aussicht gestellt hat, fordert die UNE mindestens 100 Dollar. Mitte Juni wurden die Gespräche seitens der UNE mit der Regierung abgebrochen, eine Einigung scheint weiterhin nicht in Sicht zu sein.

Wie plant man einen Aufstand?

Diese Unterbrechung fällt in einen Zeitraum, in dem sich die Atmosphäre insgesamt weiter polarisiert hat. Die Frente Popular, eine Vereinigung aus gewerkschaftlichen, studentischen und politischen Strömungen, kündigte für den 15. und 16. Juni einen landesweiten Generalstreik an. Durch eine Kältewelle, starke Regenfälle, aber auch aufgrund allgemeiner Teilnahmslosigkeit verlief dieser Aufruf weitgehend im Sande. Zumal die CONAIE tags zuvor ihre Nationalversammlung abgeschlossen hatte, mit dem Ziel, nun eine weit aktivere Rolle gegen die Politik von Noboa einzunehmen. Zwar unterstützte die CONAIE-Versammlung den Streik, rief aber nicht direkt dazu auf.
Die Delegierten wollen “Präventivmaßnahmen” vor der Entscheidung zu einem generellen Aufstand vornehmen, der nun erstmals wieder Kontur annimmt. CONAIE-Präsident Antonio Vargas nannte zwar kein Datum, aber alles deutet darauf hin, dass es zu einer neuerlichen Konfrontation zwischen den sozialen und indigenen Bewegungen und der Regierung kommt.
Zunächst soll die seit langem geplante Volksbefragung in die so genannte gran minga nacional, die große indigene Versammlung Ende Juni münden. Inhalt dieser Volksbefragung ist unter anderem die Auflösung des Nationalkongresses, die vollständige Umgestaltung des Obersten Gerichtshofes und des Justizsystems und im Besonderen die zukünftige Ausrichtung der Wirtschaft und die Dollarisierung. Dann wird sich entscheiden, wieviele Unterschriften die CONAIE zusammen bekommt und mit welcher Unterstützung sie zukünftig im Land agieren wird. Durch ihren hohen Organisationsgrad in der indigenen Bevölkerung und der frustrierten Stimmung scheint ihr aber große Unterstützung sicher zu sein.

Das Militär ist gespalten

Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist auch weiterhin das Militär. Zwar haben die Rücktritte der obersten Generäle am 9. Mai den Einfluss der Armee auf der politischen Bühne verringert, aber ihre Haltung bei einem neuerlichen Aufstand wird entscheidend sein. Präsident Noboa setzt alles daran, die frei gewordenen Posten mit ihm treuen Militärs zu besetzen und einen Aussöhnungsprozess innerhalb des Militärs voranzutreiben.
Nicht erst die Ereignisse des 21. Januar zeigten, dass innerhalb der Armee Risse entstanden sind. Die Schweißnaht löste sich schon mit dem vertraglichen Ende des Grenzkonfliktes mit Peru 1998. Und die Ermittlungen des Militärgerichtshofes sind zu einer weiteren Belastungsprobe für den Zusammenhalt der Streitkräfte geworden.
Um eine mögliche Konfrontation innerhalb der Militärhierarchie zu verhindern, bat Präsident Noboa den Kongress um eine allgemeine Amnestie für die am Aufstand beteiligten militärischen Akteure. Dabei handelt es sich um etwa 120 Militärangehörige, von denen rund 22 als Köpfe der Revolte betrachtet werden. Am 2. Juni wurden die Betroffenen nach 132 Tagen Gefängnis überraschend freigelassen.
Unklar ist aber, ob und wie das Militär jetzt die angedrohten Disziplinarmaßnahmen anwenden wird. Während die Regierung mit Verteidigungsminister Hugo Unda die Betroffenen vom Militär ausschließen will, drängt beispielsweise die CONAIE darauf, diese wieder zu integrieren. Oberst Lucio Gutiérrez jedenfalls, Anführer der rebellierenden Militärs vom Januar und Mitglied im kurzzeitigen Triumvirat, befürchtet keine Sanktionen. “Unser gemeinsames Vorgehen war für die Verteidigung der Souveränität unseres Volkes.” Sollte er dennoch nicht in die Militärinstitution zurückkehren dürfen, will er in die Politik gehen.

Die einen wählen Parteien, die anderen den Exodus

Dieser Karrieresprung vom Militär zum Politiker ist in Ecuador nichts Ungewöhnliches. So etwa im Fall von General Moncoya. Im Januar war er noch General a.D. und Abgeordneter der Demokratischen Linken im Parlament. Während des Aufstandes nahm er kurzzeitig den Posten des umtriebigen Generals Mendoza, Chef des gemeinsamen Heeres, ein, um zwischen den verfeindeten Truppenteilen zu vermitteln. Mittlerweile ist er Bürgermeister von Quito – am 21. Mai hatten Kommunal- und Regionalwahlen stattgefunden, die im Strudel der Ereignisse fast untergegangen sind.
Diese Wahlen waren von Desinteresse, Unentschlossenheit und enormen regionalen Unterschieden im Land geprägt. Während die Küstenbevölkerung den hegemonialen Kräften wie der neoliberalen Christlich-Sozialen Partei (PSC) und der Roldosista-Partei (PRE) die meisten Sitze verschaffte, konnten die linken Parteien im Hinterland ihre Positionen ausbauen. So wird die Pachakutik, in der indigene und soziale Bewegungen vertreten sind, künftig 5 von 22 Provinzregierungen stellen. Für die CONAIE bedeutet das einen zusätzlichen Auftrieb, weil damit ihre Arbeit für tiefgreifende Veränderungen im Land anerkannt wird.
Während die einen noch auf politische Alternativen setzen, versuchen andere, im Ausland über die Runden zu kommen. Immer mehr Menschen verlassen Ecuador, um vor den schlechten Lebensverhältnissen im Land zu fliehen. Im letzten Jahr ist die Auslandsgemeinde auf 3,3 Millionen EcuadorianerInnen gestiegen – fast ein Viertel der Landesbevölkerung. Wenn die wirtschaftlichen Reformen durchgesetzt werden, wird der Exodus vermutlich weitergehen. Mit der CONAIE aber, so ihr Vertreter Calixto Anapa, wird man aber auch in Zukunft rechnen können: “Wir kämpfen natürlich, um zu siegen. Wir bereiten uns darauf vor, eine gerechte und interkulturelle Gesellschaft aufzubauen, die die vorhandenen Ressourcen vernünftig und ausgewogen nutzt. Wir hoffen, es gelingt uns, ein Beispiel für Amerika und die Welt zu werden.”


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