Ecuador | Nummer 467 - Mai 2013

„Europa begeht die gleichen Fehler wie einst Lateinamerika“

Interview mit dem ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa

Während sich Europa in einer tiefen Krise befindet, geht es Lateinamerika heute vergleichsweise gut. Schuldenkrise und neoliberale Umstrukturierung liegen dort bereits Jahrzehnte zurück. Die LN sprachen mit Rafael Correa über die Krise in Europa, die regionale Integration in Lateinamerika und die linken Transformationsprozesse.

Interview: Harald Neuber

Herr Präsident, hunderttausende Europäer_innen leiden derzeit unter den Folgen der Eurokrise, vor allem in den südlichen Staaten der EU: Griechenland, Zypern, Spanien. Während die EU an den alten Rezepten festhält, propagiert Ihre Regierung das Konzept des „Guten Lebens“. Diese Frage stellen sich wohl viele EU-Bürger gerade. Wie lebt man gut? Und vor allem: Wie kann eine Regierung das „Gute Leben“ garantieren?
Nun, garantieren kann es niemand, aber man kann die Grundlagen schaffen. Es ist aber übrigens kein Konzept meiner Regierung, sondern der Indigenen. Es stammt von den Aymara in Bolivien, wurde aber auch von den Angehörigen der Quichua in Ecuador angenommen. In dieser Sprache heißt es „Sumak Kawsay“. Es geht dabei darum, in Würde zu leben, ohne nach immer mehr Reichtum zu streben. Es geht darum, in Harmonie mit der Natur und den Mitmenschen zu leben. Aus dieser Position der Indigenen leitet sich die Kritik unserer Regierung am Konsummodell der westlichen Staaten ab.

Bei einer Konferenz in der Technischen Universität Berlin sagten Sie, Lateinamerika habe bereits zu Genüge erlitten, was Europa gerade durchlebt. Kann Europa von Ihnen lernen?
Es kommt darauf an, ob das Ziel darin besteht, die Krise schnell und mit minimalen Belastungen für die Menschen zu überwinden. In solch einer Situation geht es zunächst natürlich um die Fehler, die gemacht wurden. Etwa bei der Einführung des Euros oder bei der mangelnden Angleichung von Produktivität, Löhnen und Gehältern. Wenn aber der Wille besteht, diese Krise ohne große Folgen für die einfache Bevölkerung zu meistern, dann besteht die erste Lehre darin, nicht die gleichen Fehler zu begehen, die wir gemacht haben. Denn die Maßnahmen, die einst in Lateinamerika getroffen wurden, haben die Krise verlängert und verstärkt. Und eben die gleiche Politik sehen wir nun in Europa.

Haben Sie den Eindruck, dass Deutschland und Europa ein offenes Ohr für die Lehren aus Lateinamerika haben?
Wissen Sie, ich gebe in der Regel keine Ratschläge, wenn ich nicht darum gebeten werde. Von der TU Berlin aber wurde uns das Thema „Wege aus der Krise“ vorgeschlagen. Wir haben dafür also einige der Krisen in Lateinamerika mit den aktuellen Problemen in Europa verglichen. Die Ähnlichkeiten sind beeindruckend. Anfang der 1980er Jahre hatten wir auch eine Schuldenkrise. Sie rührte daher, dass das internationale Finanzkapital uns Kredite geradezu aufgezwungen hatte. Und als die Krise kam, standen wir dem Problem des over-borrowing gegenüber. In vielen Fällen war dieses überflüssige Geld der Finanzmärkte zudem an Diktaturen ohne jedwede soziale Kontrolle oder demokratische Legitimation geflossen. Als dann die Krise einsetzte, kam der Internationale Währungsfonds mit seinen sogenannten Hilfspaketen. Ging es ihnen darum, diese Krise zu überwinden? Nein, es ging allein darum, die Rückzahlung der immensen Schulden zu gewährleisten. Deswegen hat sich die Lösung der Krise über zehn Jahre hinausgezögert. Heute ist von dem verlorenen Jahrzehnt für Lateinamerika die Rede. Ecuador etwa ist in die 1990er Jahre mit dem gleichen Pro-Kopf-Einkommen gestartet wie es das Land schon 1976 hatte. Und all dies, weil die Interessen der Banken bedient und nicht die Interessen der Menschen beachtet wurden. Diesen Fehler sehen wir heute auch in Europa.

In Lateinamerika sind in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Bündnisse entstanden wie die Celac oder ALBA. Wie hat das die internationale Politik verändert?
Das kann sehr viel verändern. Wir entwickeln diese Projekte Schritt für Schritt und haben schon einiges erreicht. Etwa in der neuen regionalen Finanzarchitektur, die wir diskutieren und hoffentlich bald ausbauen. Was die Union südamerikanischer Staaten, die UNASUR, seit ihrer Gründung 2008 geleistet hat, geht weit über die Entwicklung der Europäischen Union im gleichen Zeitraum hinaus. Im Handel etwa. Es ist jedoch erstaunlich, wie sich 27 Länder mit verschiedenen Themen und politischen Kulturen, Religionen und Sprachen vereinen konnten. Und es ist ebenso erstaunlich, dass das den lateinamerikanischen Staaten mit einer einigermaßen gleichen Sprache, Kultur und einem politischen System in der Vergangenheit lange Zeit nicht gelungen ist.

Wie kann die Finanzarchitektur in Lateinamerika beeinflusst werden?
Wir schaffen ein neues System der Abrechnung. Wenn ich 500 Millionen US-Dollar aufwende und der regionale Handelspartner 400 Millionen US-Dollar, brauchen wir dann 900 Millionen? Nein, wir rechnen das gegenseitig auf und benötigen 100 Millionen. Das ist eine Sache.
Eine andere Absurdität ist die Politik der autonomen Zentralbanken, die die staatlichen Reserven außer Landes geschafft haben. In Ecuador haben wir das schon korrigiert. Wir sprechen hier von 400 Milliarden US-Dollar, mit denen wir reiche Länder finanziert haben. Für diese Reserven in ihren Banken haben wir lediglich 0,5 Prozent Zinsen bekommen, vielleicht bis zu ein Prozent. Im Gegenzug aber mussten wir uns für sechs bis sieben Prozent Zinsen Gelder leihen.

In Honduras und Paraguay wurden progressive Regierungen gestürzt. Gegen Ihre Regierung gab es einen Putschversuch, ebenso in Bolivien und Venezuela. Weshalb schaffen es die linken Regierungen in Lateinamerika nicht, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen?
Wie können wir einen Konsens erreichen, wenn wir gerade Jahrhunderte währende Strukturen zerschlagen? Sie haben fünf Versuche der Destabilisierung erwähnt, zwei davon erfolgreich. Alle fünf Putschversuche und Staatsstreiche richteten sich gegen progressive Regierungen. Keine einzige rechte Regierung war davon betroffen. Das zeigt doch ganz klar, was hier geschieht. Offenbar sind wir die Gefahr. Die Demokratie ist solange gut, wie sie nichts verändert. Aber mit den neuen Demokratien und den progressiven Regierungen gibt es eine Veränderung und das ruft mächtige Feinde auf den Plan.
Wenn es ihnen genehm ist, verteidigen sie die Demokratie, aber wenn wir die Gegebenheiten auf demokratische Weise reformieren, zögern sie nicht, Präsidenten zu stürzen und zu ermorden. Diesen Kräften müssen wir uns in unseren amerikanischen Staaten stellen und sie besiegen.
Wenn ich in den USA auf Konferenzen zu Gast bin, bitte ich die Zuhörer gemeinhin, sich an den Kampf um die Bürgerrechte in den 1960er Jahren zu erinnern, um die aktuelle Lage in Lateinamerika zu verstehen. Oder an den Kampf gegen die Sklaverei, durch den die USA in einen Bürgerkrieg geraten und fast zerbrochen sind. Das ist ein guter Vergleich und Kontext, um das aktuelle Geschehen in Lateinamerika zu verstehen.

Erklärt sich durch diese massiven Differenzen in den Gesellschaften auch der Konflikt nach den jüngsten Wahlen in Venezuela?
Ja. Die venezolanische Rechte hat immer versucht, ein knappes Ergebnis zu erreichen, um ihre Pläne der Destabilisierung in Gang zu setzen. Auch in der Ära von Hugo Chávez. Zum Glück sind während seiner Regierungszeit alle Wahlergebnisse sehr deutlich ausgefallen und das hat ihre Pläne durchkreuzt. Wenn Hugo Chávez mit nur wenigen Prozentpunkten Abstand gewonnen hätte, hätte die Opposition einen solchen Sieg bis heute nicht anerkannt.
Der nun unterlegene Oppositionskandidat Henrique Capriles hat sich bei den letzten Gouverneurswahlen selbst nur mit einigen zehntausend Stimmen Vorsprung durchgesetzt. Nach dem Argument, das er nun anführt, hätte er damals das Amt nicht antreten dürfen. Nicolás Maduro hat sich am vergangenen Sonntag mit über 200.000 Stimmen durchgesetzt. Das entspricht gut einem Prozent. Und das erlaubt ihnen wieder Unruhe zu stiften, was sie ja immer angestrebt haben.
Wir als ecuadorianische Regierung haben eine sehr klare Position. Nach der Wahl soll nachgeprüft werden, was nachgeprüft werden muss. Das ist die Entscheidung der Venezolaner und ihrer staatlichen Institutionen. Für uns aber ist und bleibt Nicolás Maduro der Gewinner dieser Wahl. Und wir müssen sehr deutlich den Versuchen der Destabilisierung entgegentreten.

Sprechen wir über das Verhältnis zu den Medien. Weshalb stehen die linken Reformregierungen ausnahmslos in ständigem Konflikt mit den Medien?
Wer, denken Sie, gehört zu den Gegnern der laufenden Prozesse, über die wir eben gesprochen haben? Zu denjenigen, die Chaos schaffen und putschen? Wer war zur Zeit der Regierung Salvador Allendes der größte Verschwörer? Die Tageszeitung El Mercurio! Davon wird heute nicht mehr gesprochen, weil es gleich heißt, das sei ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.
Wir unterscheiden sehr gut zwischen der Meinungsfreiheit und bestimmten korrupten Geschäften von Pressekonzernen, die in der Vergangenheit nichts als politische Instrumente waren, um den Status quo zu bewahren. Wie können wir die bürgerliche Presse nicht kritisieren, wenn sie zu den Vertretern der Kräfte gehört, die unser Land dominiert und ausgebeutet haben? Das ist doch nicht nur ein Problem unserer Staaten, sondern aller Menschen weltweit. Stellen Sie sich vor: Was wir wissen und was wir nicht wissen und was wir über Menschen denken, denen wir nie begegnet sind, das hängt von Privatkonzernen ab, die sich dem Geschäft mit der Information widmen. Konzernen, die sich, wenn es um das Recht auf Information und eigene Interessen geht, immer für mehr Gewinn entscheiden werden.

Sehen Sie darin einen Grund für das fehlende Verständnis für die progressiven Kräfte Lateinamerikas in der breiten Öffentlichkeit Europas?
Sicher, weil zwischen uns keine Information, sondern Propaganda steht. Und das sagen nicht nur wir. Sehen Sie, Mario Vargas Llosa, ein ausgemachter Rechter, hat seine Tätigkeit für das Blatt El Comercio in Lima während des letzten Wahlkampfes zwischen Ollanta Humala und Keiko Fujimori aus Protest beendet. Er tat das, weil die Redaktion die Wahrheit verdreht und andersdenkende Journalisten gefeuert hat. Eine Kritik an solchen Medien als Angriff auf die Pressefreiheit zu bezeichnen, ist ebenso absurd wie wenn wir Kritik am Präsidenten als Angriff auf die Demokratie ablehnen würden. Die Meinungsfreiheit ist ein Recht aller. Nicht nur derjenigen, die das Geld hatten, sich Druckmaschinen zu kaufen.

Wir sehen also, dass es zwei unterschiedliche Diskurse über Menschenrechte und die Meinungsfreiheit in Europa und Lateinamerika gibt. Spielt das auch im Fall Julian Assange eine Rolle?
Seltsam, nicht? Ein Verteidiger der Informations- und Pressefreiheit wählt ein Land als Zufluchtsort, das einigen Medien zufolge die freie Meinung einschränkt. Julian Assange wird weiter unter dem Schutz des ecuadorianischen Staates bleiben, den wir ihm in Ausübung unseres souveränen Rechtes gewährt haben. Die Lösung dieses Falls liegt in den Händen Europas.

Infokasten:

Rafael Correa
ist seit 2006 Präsident Ecuadors. 2009 und 2013 wurde er mit absoluter Mehrheit wiedergewählt. Der linksgerichtete Staatschef hatte vor seiner politischen Karriere an Universitäten in Ecuador und den USA als Dozent gearbeitet. Während seines Aufenthalts in Berlin war es ihm nach eigenen Angaben ein besonderes Anliegen, an der Technischen Universität einen Vortrag über die Eurokrise und die wirtschaftlichen Konzepte der Neues Linken in Lateinamerika zu halten.


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