Bolivien | Nummer 393 - März 2007

Evo auf Gratwanderung

Die MAS-Regierung hat viel erreicht und noch viel mehr vor

Ein gutes Jahr ist vergangen seit Evo Morales als erster indigener Präsident Boliviens sein Amt antrat. Grundlegende Veränderungen zu schaffen, war das erklärte Ziel seiner Regierung. Eine erste Zwischenbilanz zeugt von insgesamt positiven Entwicklungen trotz einiger ernster Schwierigkeiten.

Benjamin Kiersch

Der Enthusiasmus ist bei Evo Morales noch nicht verflogen. An dem Anspruch seiner Antrittsrede, Bolivien in eine bessere Zukunft zu führen, hält der Präsident fest. Als wichtigste Projekte nannte er damals die Verstaatlichung der Bodenschätze, die Umverteilung von Land, die Ausweitung der legalen Nutzung der Kokapflanze und die Einberufung einer verfassunggebenden Verfassung. Nun ist ein Jahr vergangen und es stellt sich die Frage, was aus den ambitionierten Zielen seiner Partei der MAS (Bewegung zum Sozialismus) geworden ist.
Die Verstaatlichung der Öl- und Gasreserven ist ein großer Erfolg der Regierung. Am 1. Mai 2006 proklamierte Evo Morales deren Nationalisierung und ließ Soldaten an Ölfeldern und Raffinerien aufmarschieren, um „die Ressourcen zu sichern“. Die martialische Geste war jedoch nicht mehr als ein Fototermin für die Presse. Nach ein paar Tagen wurden die Soldaten abgezogen, nachdem die Bilder in Brasilien, Argentinien und Spanien heftige Reaktionen ausgelöst hatten. Die internationalen Öl- und Gasunternehmen wurden aufgefordert, innerhalb von sechs Monaten neue Verträge mit dem Staat auszuhandeln, nach denen der Staat eine Mehrheitsbeteiligung an allen Unternehmen erhält, die unter dem Dach der staatlichen Erdölgesellschaft YPFB zusammengefasst werden. Die Gewinnsteuern bei den drei größten Ölfeldern wurden von 50 auf 82 Prozent erhöht. Am 28. Oktober unterzeichneten alle 44 in Bolivien tätigen Ölfirmen die neuen Verträge mit der Regierung. Zudem wurde ein neuer Vertrag über Gaslieferungen nach Argentinien unterzeichnet, der Boliviens Einnahmen um 50 Prozent erhöht.
Insgesamt geht der Verstaatlichungsprozess aber langsamer voran als geplant: Die Resolution, die die Mehrheitsbeteiligung des Staates an den Öl- und Gasunternehmungen festlegte, wurde auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, da Bolivien die finanziellen Mittel fehlen, die Anteile an den Projekten zu erwerben. Nach Brasilien exportiert Bolivien weiterhin Gas zu im Vergleich zum Weltmarktniveau stark reduzierten Preisen. Bislang ist kein neuer Vertrag in Sicht. Auch die Konsolidierung von YPFB verläuft schleppend. Bereits zweimal musste ein neuer Direktor ernannt werden. Immer wieder kommt es zudem zu Engpässen bei der Treibstoffversorgung, besonders Flugbenzin ist knapp und muss zu hohen Preisen importiert werden.
Ein Coup gelang der MAS mit der Absegnung der Landreform im November 2006 durch den von der Opposition dominierten Senat. Drei Senatoren der Opposition stimmten überraschend dem Gesetzentwurf der MAS zu. Nach dem Gesetz kann der Staat LandbesitzerInnen enteignen, sofern ihre landwirtschaftlichen Flächen mehr als sieben Jahre brach liegen. Alle zwei Jahre sollen ExpertInnen überprüfen, ob das Land tatsächlich produktiv genutzt wird. Dennoch ist die Regierung von der konkreten Umsetzung der Landreform noch weit entfernt – so sollen erst im Laufe diesen Jahres die Verwaltungsregeln für das Gesetz abschließend definiert werden. Die staatliche Behörde INRA, die für die Umsetzung der Landreform verantwortlich ist, will 2007 Titel für 10 Millionen Hektar Land vergeben. Konflikte mit GroßgrundbesitzerInnen in den östlichen Departements Santa Cruz, Beni und Pando sind programmiert: Diese haben angekündigt, sich gegen Enteignungsversuche mit privaten Milizen zu Wehr zu setzen.

Verfassungsprozess ohne Einigung

Schwierig gestaltet sich der Prozess zu einer neuen Verfassung. Die verfassunggebende Versammlung trat erstmals im August 2006 zusammen, mit dem Mandat, innerhalb eines Jahres den Text einer neuen Verfassung vorzulegen. Allerdings ist die Versammlung bisher nicht über eine Debatte der Geschäftsordnung hinausgekommen. Kontrovers ist vor allem, mit welcher Mehrheit der Verfassungstext beschlossen werden soll. Das Gesetz über die verfassunggebende Versammlung schreibt vor, dass der Text mit einer Zweidrittelmehrheit der Delegierten beschlossen wird. Die Opposition besteht darauf, dass diese Vorschrift für alle Entscheidungen der Versammlung gilt. Laut Interpretation der MAS, die 54 Prozent der Delegierten der Versammlung stellt, ist die Zweidrittelmehrheit nur für die Ratifizierung des Gesamttextes nötig, während für Entscheidungen zu einzelnen Artikeln während der Arbeitsphase die einfache Mehrheit ausreicht. Bislang sind alle Kompromissversuche gescheitert. Zwar sind die 21 thematischen Kommissionen, in denen die Inhalte ausgearbeitet werden sollen, bereits gebildet, aber solange es keine Einigung in der Mehrheitsfrage gibt, liegen die inhaltlichen Diskussionen auf Eis. Mit jedem Tag wird es unwahrscheinlicher, dass die Bolivianerinnen und Bolivianer tatsächlich am 6. August 2007 über eine neue Verfassung abstimmen werden.

Gutes und schlechtes Koka

Ein weiteres zentrales Projekt der Regierung ist die Förderung der legalen Nutzung der Kokapflanze. Die Regierung plant, den legalen Kokaanbau von derzeit 12.000 auf 20.000 Hektar auszuweiten. Der Ertrag von 4.000 Hektar soll industriell zu Kokatee für den Export verarbeitet werden. Die geplante Ausweitung stößt vor allem bei den USA auf Kritik, die ihre Unterstützung für Bolivens Drogenbekämpfung für das kommende Jahr um 25 Prozent reduzierte. Wie groß der Markt für legale Nutzungen der Kokapflanze ist, soll eine Studie zeigen, die die Regierung 2007 erarbeiten will. Hingegen will die Regierung radikal gegen den illegalen Kokaanbau vorgehen. Das erste selbstgesteckte Ziel, 5.000 Hektar illegaler Kokaanpflanzungen zu vernichten, ist ihr gelungen – durch freiwillige Vereinbarungen mit den Kokabauern, wie die MAS betont.
Ein sehr populäres Projekt ist der Bono Juancito Pinto, benannt nach einem Kindersoldaten im Pazifikkrieg: Als Anreiz für regelmäßigen Schulbesuch wird der Bono, 200 Bolivianos (ca. 20 Euro), an alle SchülerInnen der ersten bis fünften Klasse ausgezahlt, die auf eine staatliche Schule gehen. Finanziert wird dies aus den staatlichen Mehreinnahmen im Öl- und Gassektor. Eine Hälfte des Geldes soll zu Beginn des Schuljahres gezahlt werden, die andere Hälfte am Ende des Jahres. Der Bono ist zweifellos eine wertvolle Unterstützung für die Familien, insbesondere unter der armen Landbevölkerung – dem nationalistischen Namens des Programms zum trotz. Ob Eltern durch den Bono Juancito Pinto allerdings motiviert werden, ihre Kinder länger zur Schule zu schicken, wird davon abhängen, ob der Bono auf ältere Jahrgänge ausgeweitet wird: Statistiken zeigen, dass viele SchülerInnen ab der 6. Klasse die Schule ohne Abschluss verlassen.
Die schwerste Krise ihrer bisherigen Amtszeit erlebte die MAS-Regierung im Oktober 2006, als bei Konflikten zwischen BergarbeiterInnen der staatlichen Minengesellschaft COMIBOL und unabhängigen Bergarbeiter­genossen­­­schaften in der Zinnmine von Huanuni 16 Menschen ums Leben kamen und 80 teils schwer verletzt wurden. Der Konflikt war nach dem Scheitern mehrerer von der Regierung unternommener Vermittlungsversuche eskaliert: Die Genossenschaften hatten versucht, sich gegen den erbitterten Widerstand von COMIBOL-MitarbeiterInnen Zugang zu den ertragreicheren Schichten des Berges zu verschaffen. Als Konsequenz entließ Morales den Bergbauminister, verstaatlichte die Mine per Dekret und kündigte an, dass die Genossenschaftler von COMIBOL übernommen würden. Innerhalb von drei Monaten übernahm die staatliche Gesellschaft über 4.000 Bergarbeiter. Die Verstaatlichung des gesamten Bergbausektors, die ursprünglich zusammen mit der Neugründung von COMIBOL im Oktober geplant war, verschob die Regierung aus finanziellen Gründen hingegen auf das kommende Jahr. Weitere Konflikte mit den starken Bergarbeitergenossenschaften scheinen unausweichlich. So verzichtete die Regierung Anfang Februar nach gewalttätigen Protesten von GenossenschaftlerInnen in La Paz auf eine geplante Erhöhung der Bergbausteuern.

Um Unterstützung werben

Trotz der Schwierigkeiten überwiegen die positiven Entwicklungen seit Morales’ Amtseinführung: beispielsweise die Alphabetisierungskampagnen oder das Programm, das zum ersten Mal in der Geschichte Boliviens Menschen in abgelegenen Gegenden ermöglicht, Personalausweise zu erhalten und somit die Möglichkeit, wählen zu gehen. Bemerkenswert sind auch die regelmäßigen Treffen zwischen Regierung und sozialen Gruppierungen, in denen die Arbeit der Regierung evaluiert wird. Aber es bleiben viele Herausforderungen, die Projekte weiter zu entwickeln.
Die größte Herausforderung für Evo Morales wird sein, sich die Unterstützung der Mehrheit der BolivianerInnen zu erhalten, die ihn im Dezember 2005 gewählt hat. Die Basisgruppen der MAS erwarten die schnelle Umsetzung tiefgreifender Reformen, während die Mittelschicht sich fragt, welche Rolle sie in einem Bolivien mit indigen geprägten Machtstrukturen innehaben wird. Um das ehrgeizige politische Projekt fortzuführen, wird die MAS und Morales auch im zweiten Regierungsjahr eine Gratwanderung zwischen Konfrontation und Kompromiss machen müssen.

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