Chile | Nummer 445/446 - Juli/August 2011

Ewiges Antiterrorgesetz

Gefangene Mapuche hungern vergeblich für faire Gerichtsverfahren

Der Oberste Gerichtshof Chiles hat die Anwendung des Antiterrorgesetzes gegen angeklagte Mapuche legitimiert. Vier Gefangene brachen darauf nach über zwei Monaten ihren Hungerstreik ab. Sie gaben ihren protest aber nicht auf. Im Gegenteil kündigten sie jetzt eine Klage vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof an. Und weitere Prozesse stehen noch aus.

Llanquiray Painemal, Jan Stehle

„Gobierno Fascista!“ („Faschistische Regierung!“), schrie die Sprecherin der hungerstreikenden Mapuche, Natividad Llanquileo, am Abend des 8. Juni 2011 über den Kurznachrichtendienst Twitter in die virtuelle Welt. Normalerweise drückt sich die Schwester von einem der vier gefangenen Mapuche zwar bestimmt aus, bevorzugt dabei aber diplomatischere Töne. Diesmal jedoch war sie außer sich und verzweifelt. Die chilenische Gefängnisbehörde hatte die vier geschwächten Gefangenen kurz zuvor in einer Nacht- und Nebelaktion in vier verschiedene Krankenhäuser verlegen lassen. Die Kommunikation unter den Häftlingen und damit auch eine Verhandlungslösung zur Beendigung des Hungerstreiks, hatte sie so unmöglich gemacht. Am darauf folgenden Tag brachen die vier ihre Protestaktion nach 88 Tagen ab. Eine längere Verweigerung der Nahrungsaufnahme hätte für die inhaftierten Aktivisten, die bereits letztes Jahr in Hungerstreik getreten waren, lebensbedrohliche Konsequenzen haben können (siehe LN 435/436 und 437 sowie Kasten).
Die vier Gefangenen Jonathan Huillical, José Huenuche, Ramón Llanquileo und Héctor Llaitul sind Mitglieder der Koordination der Gemeinden in Konflikt Arauco-Malleco (C.A.M.). Die C.A.M. ist eine der radikaleren Mapuche-Gruppen, die im Zuge von Landbesetzungen auch Sabotageakte gegen Sachwerte von Forstfirmen und GroßgrundbesitzerInnen für legitim halten. Sie waren angeklagt wegen „versuchten Mordes“ an Staatsanwalt Mario Elgueta und Körperverletzung von drei Beamten der chilenischen Kriminalpolizei im Jahr 2008. Der Staatsanwalt Elgueta war mit einer größeren Zahl Polizisten in eine Mapuche-Gemeinde gefahren, um eine Razzia durchzuführen. Dabei wurde sein Fahrzeug nach eigenen Angaben mit einer Schrotflinte beschossen, er selbst sei an einer Hand verletzt worden. Die Angeklagten bestritten jeglichen „Attentatsversuch“ und sprachen von einem politisch motivierten Konstrukt zur Kriminalisierung der C.A.M. und der gesamten Mapuche-Bewegung.
Der Prozess wegen dieses Vorfalls hatte am 8. November 2010 vor dem Strafgericht von Cañete begonnen und dauerte drei Monate. Insgesamt 17 politische Häftlinge der Mapuche saßen dabei auf der Anklagebank. Der Prozessbeginn erfolgte nur wenige Tage nach Ende eines anderen Hungerstreiks von Mapuche-Gefangenen (siehe Kasten). Die Regierung hatte damals als Teil der Abmachung zur Beendigung des Streiks versprochen, das Antiterrorgesetz aus der Pinochet-Zeit nicht gegen die Mapuche anzuwenden. Das Verfahren in Cañete war der „Testballon“, ob die Regierung sich an ihre Abmachungen halten würde.
Schnell wurde jedoch offensichtlich, dass die Zusage der Regierung nur unerhebliche Folgen für den Prozess haben würde: Zwar hielt sich der Anwalt des Innenministeriums formell an die Abmachung, die Staatsanwaltschaft nutzte jedoch Beweise, die sie durch Verfahren nach dem Antiterrorgesetz erlangt hatte. So dauerte die Untersuchungshaft länger, anonyme BelastungszeugInnen traten auf und nur Teile der Ermittlungsakten standen der Verteidigung zur Verfügung. Es war den AnwältInnen der Mapuche auch nicht möglich, die anonymen ZeugInnen ins Kreuzverhör zu nehmen. Am 22. Februar ging das Gerichtsverfahren mit dreizehn Freisprüchen und vier Verurteilungen zu Ende.
Noch vor Verkündung des Strafmaßes traten die vier Verurteilten in einen weiteren unbefristeten Hungerstreik. Sie bezeichneten den Schuldspruch als eine politisch motivierte Verurteilung der Führung der C.A.M. und forderten die Neuaufnahme eines fairen Gerichtsverfahrens ohne Anwendung des Antiterrorgesetzes. Außerdem kritisierten die vier Mapuche, dass sie für die gleichen Vorwürfe in einem parallelen Verfahren von der Militärjustiz in Valdivia vor Gericht standen – in diesem Verfahren waren sie zuvor im Dezember 2010 freigesprochen worden.
Die Anwendung der Militärjustiz gegen ZivilistInnen ist ebenfalls ein Relikt aus Zeiten der Militärdiktatur, das in den Jahren zuvor von verschiedenen internationalen Instanzen kritisiert worden war. Nach dem Hungerstreik vom vergangenen Jahr hatte das chilenische Parlament eine Reform des Gesetzes beschlossen, die Änderungen waren jedoch zum Zeitpunkt des Prozesses gegen die Mapuche noch nicht in Kraft getreten.
Am 22. März dieses Jahres, eine Woche nach Beginn des Hungerstreiks, verkündete das Gericht in Cañete das Strafmaß: Huillical, Huenuche und Llanquileo wurden zu 20, Llaitul zu 25 Jahren Haft verurteilt. Innenminister Rodrigo Hinzpeter versicherte, dass die Regierung sich an ihr Versprechen gehalten habe, jedoch keine Verantwortung für das Handeln der Staatsanwaltschaft übernehmen könne: „Wir sind jetzt abhängig von der Judikative“, sagte er am 26. April gegenüber der Presse. Die AnwältInnen der vier Gefangenen riefen umgehend den Obersten Gerichtshof an und forderten eine Annullierung des Prozesses wegen Verfahrensfehlern. Der Oberste Gerichtshof nahm die Beschwerde an und kündigte eine Entscheidung für Anfang Juni an – einem Zeitpunkt, an dem der Hungerstreik bereits über 80 Tage andauern würde.
Die Angehörigen und Unterstützergruppen der Gefangenen starteten eine breit angelegte Mobilisierungskampagne, um der Forderung nach einem neuen, fairen Prozess Nachdruck zu verleihen. Abgeordnete der Opposition brachten eine Begnadigung der Gefangenen zur Debatte. Jedoch schaffte es die Bewegung für die Freilassung der Mapuche-Gefangenen nicht, an die Mobilisierungserfolge des Vorjahres anzuknüpfen. Und auch die katholische Kirche, die sich 2010 als Vermittlerin zur Verfügung gestellt hatte, reagierte zaghaft. Dies hing unter anderem damit zusammen, dass die sozialen Bewegungen in Chile zeitgleich vehement gegen Privatisierungen im Bildungssektor und das HidroAysén-Staudammprojekt protestierten (siehe LN 444). Die Forderungen der Mapuche gingen in der Breite dieser Proteste unter – auch wenn sich die chilenische Linke immer stärker die Abschaffung des Antiterrorgesetzes auf die Fahnen schreibt. Dennoch haben es die Mapuche in der chilenischen Linken seit jeher schwer, sich als eigenständige Bevölkerungsgruppe und der Betonung ihrer Identität Gehör zu verschaffen.
Trotz der gesunkenen öffentlichen Aufmerksamkeit gab es im Mai dieses Jahres zunächst Hoffnung: Das Berufungsgericht in Concepción sprach die vier Angeklagten im von der Militärgerichtsbarkeit in Valdivia begonnenen Parallel-Verfahren endgültig frei. Doch der Spruch des Obersten Gerichtshofes am 3. Juni war ernüchternd: Zwar erkannten die RichterInnen einige Verfahrensfehler an. Statt jedoch ein neues Verfahren anzuordnen, befanden sie den Schuldspruch und damit auch das Antiterrorverfahren für rechtens. Sie senkten das Strafmaß für Llaitul auf vierzehn Jahre Haft und für die drei weiteren Gefangenen auf acht Jahre. Aus einer Verfahrensbeschwerde wurde so ein Urteil, das vor der chilenischen Gerichtsbarkeit nun nicht mehr anfechtbar ist.
Daraufhin beschlossen die bereits erheblich geschwächten Gefangenen eine Fortführung des Hungerstreiks „bis zur letzten Konsequenz“. Wenige Tage später, am 9.Juni, erklärten sie jedoch das Ende der Streikbewegung und kündigten die Gründung eines „Komitees für die Rechte der Mapuche-Bevölkerung“ an. Dieser Instanz sollen neben der katholischen Kirche auch das staatliche Menschenrechtsinstitut angehören – nicht jedoch VertreterInnen der Piñera-Regierung. Diese hat schließlich die schwache Anbindung der Mapuche-Organisationen an die linken Bewegungen ausgenutzt und den Dialog mit den Indigenen verweigert. Sie bekräftigte dadurch ihre kompromisslose Haltung in der Land- und Autonomiefrage und unterstrich gleichzeitig ihre bedingungslose Unterstützung für rechtskonservative GroßgrundbesitzerInnen sowie transnationale Forst- und Stromkonzerne, die im chilenischen Süden das Sagen haben. Jegliche Infragestellung des ökonomischen Entwicklungsmodells will sie somit im Keim ersticken.
Dass die Verhinderung von Protesten durch Kriminalisierung eine Illusion ist, wurde jedoch wenige Tage nach dem Hungerstreik deutlich: Am 24.Juni erhoben sich mehrere Mapuche-Gemeinden gegen ein neues dreistufiges Staudammprojekt des Unternehmens Pilmaiquén S.A. nahe Osorno. Die betroffenen Mapuche-Gemeinden wurden nicht konsultiert – geschweige denn in die Entscheidung für das Großprojekt miteinbezogen, wie es die Konvention 169 der ILO über indigene Rechte eigentlich vorschreibt. Chile hat diese Konvention 2008 ratifiziert.
Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, Human Rights Watch oder Amnesty International haben in den letzten Jahren immer wieder kritisiert, dass die chilenischen Regierungen internationale Konventionen und Verträge über die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen nicht einhalten. Sie übergehen die Rechte der Mapuche als Bevölkerungsgruppe mit eigener Identität und Territorium und gehen gleichzeitig in juristischen Verfahren mit diskriminierender Härte und Sondergesetzen wie dem Antiterrorgesetz gegen die Mapuche vor, so die Kritik der Internationalen Organisationen. In den nächsten Monaten stehen eine Reihe weiterer Gerichtsverfahren gegen Mapuche-AktivistInnen an. Sollte sich nichts an der harten Linie der Piñera-Regierung ändern, sind weitere Hungerstreiks programmiert.
Natividad Llanquileo will vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof gegen die Regierung Piñera klagen. Dies sei die letzte juristische Möglichkeit, um sich gegen unfaire und diskriminatorische Behandlung seitens der chilenischen Justiz zur Wehr zu setzen.

KASTEN:
Streik der Verzweiflung

2010 waren erstmals 34 Mapuche verschiedener Gruppierungen und Gemeinden in einen gemeinsamen Streik getreten, der mit der symbolträchtigen 200-Jahre-Unahängigkeitsfeier der chilenischen Republik – dem Bicentenario – zusammenfiel. Huillical, Huenuche, Llanquileo und Llaitul hatten auch damals die Nahrungsaufnahme verweigert. Die Protestaktion fand in internationalen Medien viel Beachtung (siehe auch LN 435/36 und 437). Nach 88 Tagen versprach die Regierung, das Antiterrorgesetz zu modifizieren und die Klagen wegen Terrorismus gegen die Mapuche-Gefangenen aufzuheben. Das Gesetz besteht jedoch weiter. Die Gefangenen erreichten immerhin eine Reform des Militärgesetzes: Militärgerichte dürfen nun keine ZivilistInnen mehr richten.

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