El Salvador | Nummer 331 - Januar 2002

Exportprodukt Mensch

Unterbeschäftigung und Bevölkerungswachstum zwingen viele SalvadorianerInnen zur Emigration

Mit dem Bürgerkrieg in den Achtzigerjahren veränderten rund ein Viertel der salvadorianischen Bevölkerung ihren Wohnsitz, weil sie vor der Armee und dem Kriegsgeschehen vom Land in die Stadt flüchteten. Neben dieser internen Migration nahm die Auswanderung, vor allem in die USA, aber auch nach Kanada, Mexiko, Schweden und Australien gewaltige Ausmaße an. Wer darauf spekulierte, dass dies nach dem Friedensschluss 1992 anders werden würde, lag falsch. Die Auswanderungswelle nach Norden hält ungebrochen an und ist zu einem dominierenden wirtschaftlichen Faktor geworden. Aber auch für das politische, soziale und kulturelle Leben ist die Migration von herausragender Bedeutung.

Franco Weiss

Was war der größte Erfolg der salvadorianischen Regierung, nachdem zwei Erdbeben Anfang dieses Jahres verheerende Schäden anrichteten? Nicht internationale Hilfe oder besonders zügige Hilfsmaßnahmen, sondern die Tatsache, dass die US-Regierung sich bereit erklärte, mehr als hunderttausend illegal in den USA lebende Salvadoreños/as eine auf 18 Monate befristete Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Die Zunahme des aus den USA überwiesenen Geldes wird auf rund 300 Millionen US-Dollar geschätzt und beträgt nunmehr 1,8 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Das übersteigt die internationale Hilfe in Form von Schenkungen deutlich und kommt in vollem Umfang der Bevölkerung zu Gute.
Jeden achten Dollar des Bruttosozialproduktes erhält das Land El Salvador heute frei Haus. Es handelt sich um Überweisungen von Ausgewanderten an ihre zurückgebliebenen Familien und Verwandten. Diese Überweisungen entsprechen rund zwei Dritteln der salvadorianischen Exporteinnahmen und werden angesichts der Kaffeekrise und der Flaute der Maquiladoras (Textilmanufakturen, die für den Weltmarkt produzieren) noch an Gewicht gewinnen. Würden die Importe, die für die Textilexporte benötigt werden, in der Ausfuhrstatistik abgezogen, so hielten sich Familienüberweisungen und Warenexporte des Landes ziemlich genau die Waage! Dabei sind die Mitbringsel hunderttausender jährlicher BesucherInnen noch nicht mal mitgerechnet. Autos, Stereoanlagen, Fernseher und Videorecorder, Ventilatoren, Kühlschränke, Kleider und Schuhe prägen Haushalte, Aussehen und Konsumgewohnheiten sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten.

El Salvador: Land ohne Zukunft
Restaurants und Strände profitieren von Familien, die auf Einladung ihrer zu Besuch weilenden Familienangehörigen kräftig zulangen. Denn schließlich müssen die aus dem Norden Kommenden beweisen, dass sie es zu etwas gebracht haben. Die bereits spürbare Stagnation der Familienüberweisungen nach den Attentaten vom 11.9. vermindert den Besuch bei McDonalds genauso wie die Haarpflege im Beauty-Salon oder andere Dienstleistungen. Das Geld wird für Essen, Bildung und den Arztbesuch gespart.
Der Drang nach Norden geht quer durch alle Schichten und verstärkt sich zusehends. Nach den verheerenden Erdbeben, die Anfang des Jahres 20 Prozent der Bevölkerung obdachlos machten, verzeichnete die Auswanderungsstatistik einen steilen Anstieg. Laut Umfragen sehen 70 Prozent der jugendlichen Bevölkerung ihre Lebensperspektive in den USA und nicht in El Salvador. Soziale Netzwerke von Familienangehörigen und Nachbarn in den USA erlauben für viele eine relativ sanfte Landung, erste Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten werden dort organisiert.
Während die Angehörigen der Mittelklasse mit Universitätsabschluss meist mit Touristenvisa und per Flugzeug anreisen, finanzieren die Armen ihre Reise durch den Verkauf von drei Kühen, eine Hypothek aufs Haus oder mittels eines Darlehens von Angehörigen. Damit können sie sich die Anzahlung von 50 Prozent an den „coyote“ (Schieber) leisten. Ein Misslingen des Unterfangens stürzt die Familien in noch größere Armut.
Sind die Grenzkontrollen erfolgreich umgangen, Eisenzäune, Mauern und Infrarotkameras an der US-mexikanischen Grenze überwunden und die Wüsten durchquert, müssen die restlichen 50 Prozent erst mal abgearbeitet werden. Illegalität, fehlende Sprach- und Ortskenntnisse, sowie ausbeuterische Arbeitsbedingungen prägen den Alltag dieser NeuzuzüglerInnen. Aus Kostengründen teilen sie sich oft mit 6 bis 8 Landsleuten kleine Zweizimmerwohnungen. Sie hoffen darauf, in keine Kontrolle zu geraten und nach gewisser Zeit für ihre Beständigkeit mit einer der regelmäßigen Amnestien belohnt zu werden, die den Zugang zu einer Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung ermöglichen. Dies macht die Familienzusammenführung möglich und hilft den ImmigrantInnen, sich im neuen Land zu stabilisieren. Die Bande zur „Heimat“ sind nurmehr die zu versorgenden Eltern und mögliche Geschwister.
Doch mit der Familienzusammenführung steigen die Lebenshaltungskosten und im Laufe der Zeit wird die Bindung ans Geburtsland schwächer. Sind die Eltern gestorben und die Geschwister erwachsen, sind die unmittelbaren Verpflichtungen erfüllt: der Geldfluss nach Süden nimmt ab, die Besuche werden seltener. Nur wenige Salvadoreños/as kehren zurück, um den Lebensabend im Heimatland zu verbringen, was angesichts der unsicheren Perspektiven vor Ort verständlich ist. Für die größtenteils in der Fremde aufgewachsene zweite Generation ist El Salvador allenfalls ein Referenzpunkt in weiter Ferne und Objekt gelegentlicher Besuche. Das Leben und die Zukunft spielen sich im neuen Umfeld ab.

Der Zwang zur Migration
In El Salvador leben rund sechs Millionen Menschen auf einer Fläche, die halb so groß ist wie die Schweiz. Die grüne Grenze hörte vor 80 Jahren auf zu existieren, unbesiedelten Raum gibt es nicht mehr. Die hohe Bevölkerungsdichte bei geringen Erwerbsmöglichkeiten zwingt die Menschen dazu, ihr Glück in anderen Ländern zu suchen. Schließlich bietet El Salvador mit über 40 Prozent Unterbeschäftigung und mehr als der Hälfte der Bevölkerung in Armut kaum Perspektiven.
Aber die Auswanderung ist zugleich ein unabdingbares Element für das vorherrschenden Sozial- und Wirtschaftsmodell mit einer der weltgrößten Konzentrationen von Einkommen und Vermögen. Die jährliche Auswanderung zehntausender Personen im zeugungsfähigen Alter ist dringend notwendig, um die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums von knapp drei Prozent im Jahr zu entschärfen. Somit stellt die Emigration ein Ventil dar, das die Gefahr von sozialen Unruhen zumindest vermindert.
Die wirtschaftlichen Folgen sind allerdings bedeutsamer: Ohne die Familienüberweisungen bräche die Wirtschaft des Landes innerhalb weniger Monate zusammen, was auch die herrschende Klasse unangenehm berühren würde. Somit besteht ein unmittelbares Interesse daran, die Zahl der Ausgewanderten zumindest konstant zu halten. Das heißt: circa alle dreißig Jahre muss eine gute Million von „ÜberweiserInnen“ ersetzt werden. Dies bedeutet für El Salvador die wirtschaftliche Notwendigkeit jährlich 40 bis 50.000 Personen auf die Reise zu schicken. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahl in den vergangenen Jahren deutlich übertroffen wurde, was sich an den rapide zunehmenden Beträgen der Familienüberweisungen zeigt. In den letzten zehn Jahren haben sie sich bereits verdoppelt.

Es ist nicht alles Gold was glänzt
Diese kühle und distanzierte Sichtweise hat allerdings einige Haken. Verschiedene Ausgabeposten sind in dieser Kosten-Nutzen-Rechnung nicht enthalten. Die Zerrüttung zehntausender Familien durch jahrelange Trennung verursacht soziale Kosten, die noch nicht genau erforscht wurden. Auch die Bedeutung der misslungenen Auswanderung für arme Familien wird kaum reflektiert. Oft wurden die Resultate von jahrzehntelanger familiärer Akkumulation in ein Unterfangen investiert, dessen Dividende sich bei der erfolglosen Wiederkehr des Auswanderers in Luft auflöst. Was dies psychologisch an Belastung für den/die Erfolglose(n) und für das familiäre Beziehungsnetz bedeutet, wird kaum untersucht.
Schließlich führt die Ausweisung von jährlich mehreren Tausend in den USA kriminell gewordenen SalvadorianerInnen zu weiteren Problemen: Diese Leute sehen angesichts ihrer Vorgeschichte und der realen Möglichkeiten im Land kaum einen anderen Ausweg, als ihr „Glück“ erneut in kriminellen Handlungen zu suchen.
Auch der wachsende Konsum von Importartikeln hat schwerwiegende Folgen für das lokale Gewerbe und traditionelle Lebens- und Arbeitsformen in Stadt und Land. Die daraus entstehende Arbeits- und Perspektivlosigkeit verstärkt die Emigrationstendenzen und schließt damit einen Teufelskreis. Da hilft auch der Nostalgiemarkt für tiefgekühlte Lokalgerichte, salvadorianisches Bier und Kunsthandwerk in den USA nicht weiter, der sich in den letzten Jahren zu entwickeln begann.

KASTEN:
Das Ökumenische Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V.

Das ökumenische Büro wurde 1983 von StudentInnen und GewerkschafterInnen aus München gegründet. Das Hauptziel bestand darin, durch Arbeitsbrigaden der Solidarität mit dem sandinistischen Nicaragua einen konkreten Ausdruck zu verleihen. Seitdem besteht das Büro als Anlaufstelle für Menschen aus München und Umgebung, die sich mit der Nord-Süd-Problematik auseinander setzen und sich in Theorie und Praxis politisch engagieren wollen.
Heute liegen unsere Arbeitsschwerpunkte in den Ländern Nicaragua, El Salvador und Mexiko. Länder übergreifend beschäftigen wir uns mit der Situation der Menschenrechte und den Auswirkungen der globalisierten Weltwirtschaft auch in den anderen mittelamerikanischen Ländern Honduras, Guatemala und Costa Rica.
In der BRD schaffen wir mit Kulturveranstaltungen und Seminaren, Veröffentlichungen, Aktionen, Projektarbeit, Delegationen und Solidaritätsbrigaden ein Forum zur Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Mittelamerika und Mexiko und für eine Solidaritätsarbeit, die auf Austausch mit Menschen und Organisationen basiert und Zusammenhänge zur politischen Situation in der BRD herstellt.
In Mittelamerika und Mexiko arbeiten wir mit Organisationen zusammen, die durch soziale und politische Ansätze Prozesse in Gang setzen wollen, um die herrschenden Verhältnisse zu ändern. Dabei halten wir die politische und finanzielle Unterstützung für genauso wichtig wie den Austausch und gemeinsame Diskussionen über Strategien und Perspektiven der Arbeit.
Im Ökumenischen Büro arbeiten etwa 20 Ehrenamtliche in verschiedenen Arbeitskreisen. Deren Arbeit wird von vier Teilzeit-Stellen und einer FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) -Stelle unterstützt.
Informationen – Mitmachen – Unterstützen:
Einmal im Jahr organisieren wir eine Solidaritätsbrigade nach Nicaragua oder El Salvador. Jeweils zwölf Leute reisen in eines der Länder und arbeiten für drei Wochen in einem Bauprojekt mit, zwei Wochen lang nehmen sie an einem Informationsprogramm teil. Die Vorbereitung der Solidaritätsbrigaden findet in vier Wochenendseminaren statt, die jeweils im April beginnen.
Daneben verschicken wir über e-mail-Verteiler Protestbriefe gegen Menschenrechtsverletzungen in Mittelamerika und Mexiko.
Viermal jährlich erscheint das Infoblatt mit Berichten über die aktuelle Situation in Mittelamerika und Mexiko, über unsere Arbeit und einen Themenschwerpunkt. Es kann kostenlos bezogen werden.
Kontakt: Ökumenisches Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V., Pariser Str. 13, 81667 München. Tel.: 089-4485945, e-mail: info@oeku-buero.de, Internet: www.oeku-buero.de.

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