Lateinamerika | Nummer 317 - November 2000 | USA

Exportprodukt Zero Tolerance

Interview mit dem französischen Soziologen Loïc Wacquant

Michele Laubscher

Die zunehmende Gewalt in den Städten ist einzig mittels Repression in den Griff zu bekommen: Mit diesem Rezept reagierten die neokonservativen Denkfabriken in den USA auf die sozialen Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Unter dem Schlagwort „Nulltoleranz“ wird die soziale Unordnung, die auf Arbeitslosigkeit, prekäre Löhne und Sozialabbau zurückgeht, mit Polizei und Justiz bekämpft. Die Opfer des deregulierten Marktes werden kriminalisiert und bestraft, der Polizeistaat ersetzt den Wohlfahrtsstaat. Dieselben Köpfe, die vor Jahren unter dem Schlachtruf „weniger Staat“ den Rückzug des Staates aus der Wirtschafts- und Sozialpolitik forderten und durchsetzten, rufen nun nach mehr Staat, wenn es um die Eindämmung der Folgen geht.
Mit dieser Kehrseite der neoliberalen Wirtschaftsordnung befasst sich der französische Soziologe Loïc Wacquant in seinem Buch Elend hinter Gittern, dessen deutsche Übersetzung beim Universitätsverlag Konstanz erschienen ist. Wacquant untersucht, wie die Ideologie der Nulltoleranz in New York entwickelt und dann im Ausland propagiert wurde. Er beschreibt, wie diese Ideologie nach London exportiert wurde, um von dort nach Westeuropa auszustrahlen, und wie die westeuropäischen Länder auf diese Ideologie reagieren: Noch stehe Westeuropa, im Gegensatz zu den USA, vor der Alternative, den Polizeistaat definitiv als Waffe gegen die Opfer der Marktdiktatur einzusetzen oder aber neue Bürgerrechte zu schaffen wie ein arbeitsunabhängiges existenzsicherndes Einkommen, lebenslange Ausbildung oder den allgemeinen Zugang zu Gesundheit und Wohnung.
Der 39jährige Wacquant ist Professor an der Universität Berkeley und Forscher am Centre de Sociologie Européenne des Collège de France.

Was ist die Politik der Nulltoleranz?

Loïc Wacquant: Die Nulltoleranz ist ein Mythos aus den USA – die Idee, dass man einen Zauberstab gefunden hat, um das Verbrechen, allein das Verbrechen, zu zerschlagen, ohne seine tiefen Ursachen zu berühren. Konkret ist es ein Schlagwort für eine Politik, die in New York umgesetzt wird und darin besteht, sehr hart und sehr systematisch die Kleindelinquenz vor der Straße zu entfernen: die Obdachlosen, die Prostituierten, die Bettler, die Ausgeschlossenen, die als physische oder moralische Bedrohung empfunden werden. Diese „Politik der Lebensqualität“, wie sie in New York heißt, ist nichts anderes als die Klassensäuberung der Straßen, damit der öffentliche Raum für die Mittel- und Oberklassen angenehmer und auch konsumierbarer wird.

Beschränkt sich die Nulltoleranz auf die Straßenkriminalität?

Es handelt sich um eine selektive Intoleranz gegenüber den Armen auf der Straße und gegen gewisse Verhaltensweise der Armen, die als unerwünscht oder gefährlich gelten, und sie äußert sich in der sozialen Säuberung. Es ist keinesfalls eine Intoleranz gegenüber aller Art von Kriminalität, niemand spricht von Nulltoleranz in Zusammenhang mit Steuerhinterziehung oder politischer Korruption, sondern immer nur in Zusammenhang mit der Straßenkriminalität.

Sie sprechen von einem Zauberstab, der nur das Verbrechen, nicht aber dessen Ursachen berührt. Was meinen Sie damit konkret?

Ich gebe ihnen ein Beispiel. Am Tag, als ich mein Buch „Elend hinter Gittern“ in Buenos Aires vorstellte, segnete der argentinische Kongress die Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes ab, das bereits sehr flexibel war. Er schuf damit die Grundlage für noch mehr soziale Unsicherheit, besonders in den armen Schichten. Parallel dazu hielten die Stadtpolitiker im Wahlkampf einen hysterischen Diskurs über die Nulltoleranz, es lief eine völlig verrückte Kampagne rund um die Sicherheit, die natürlich strikt auf ihre kriminelle Dimension reduziert wurde. Das scheint schizophren: Auf der einen Seite sagt man, man wolle mehr Sicherheit, die man auf die Sicherheit vor Kriminalität reduziert hat, man will also eine repressivere Polizei- und Strafpolitik. Und auf der anderen Seite verabschiedet man Gesetze, welche die soziale Unsicherheit vergrößert. Das scheint auf den ersten Blick widersprüchlich.

Und auf den zweiten Blick?

In Tat und Wahrheit sind diese beiden Bewegungen, der soziale und wirtschaftliche Rückzug des Staates einerseits und anderseits die Zunahme und Glorifizierung der Sicherheits- und Repressionsaufgaben, nicht widersprüchlich, sondern komplementär: Es handelt sich um eine Gesamtpolitik, die mehr und mehr mit dem Polizei- und Strafapparat auf die Unordnung antwortet, die ihrerseits auf die wirtschaftliche Deregulierung zurückgeht, auf die Zunahme der prekären Löhne, der Arbeitslosigkeit, des Elends, der Ungleichheiten, auf den Abbau des sozialen Schutzes. Diese Politik bestraft die Armut, die sich mit dem neoliberalen Wirtschaftsmodell ausgeweitet hat.

Das heißt, die Armen werden zum Sündenbock gemacht.

Ja. Noch vor 15 Jahren war die soziale Unsicherheit sozusagen das Monopol der Armen und der Arbeiterschichten. Doch mit der objektiv steigenden sozialen Unsicherheit, die heute auch Teile der Mittelklasse trifft und noch weiter hinaufsteigt, nimmt die Angst vor dem sozialen Absturz zu, die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, den Mittelklassestatus nicht halten zu können – und ihn nicht an die Kinder weitergeben zu können. Man schickt die Kinder an die Universität und ist nicht sicher, ob sie mit einem Abschluss auch eine sichere und angebracht bezahlte Arbeit finden werden. Diese generelle soziale Angst spitzen Politiker und Medien auf den Kriminellen zu, der die Angst vor dem sozialen Absturz symbolisiert, und deshalb kommt es zu diesem sehr heftigen Diskurs und zu dieser Forderung, den Kriminellen, den Armen, den Immigranten auf Distanz zu halten, also all die Menschen, die in den Ritzen der Gesellschaft leben und für die Mittel- und Oberklasse den sozialen Absturz symbolisieren.

Die Nulltoleranzpolitik soll also die negativen Folgen des neoliberalen Modells eindämmen. Wie erfolgreich war sie denn in den USA?

Keine andere Stadt in den USA hat diese Politik so rigoros umgesetzt wie New York, und viele Städte entschieden sich für zum Teil diametral entgegengesetzte Politiken. San Francisco etwa oder Boston entwickelten zusammen mit Stadtteilgruppen und Kirchen eine aktive Präventionspolitik. Die Polizei versucht, die Probleme der Nachbarschaft zu verstehen und gemeinsam mit der Bevölkerung Diagnosen aufzustellen, um zu verhindern, dass es überhaupt zu Verbrechen kommt, anstatt hinterher zu reagieren. Chicago praktiziert eine ähnliche Präventionspolitik unter dem Namen „Polizei der Nähe“, in San Diego hieß sie „Problemlösungspolizei“. In all diesen Städten ist die Kriminalität genauso stark zurückgegangen wie in New York, wenn nicht noch stärker.

Der Rückgang der Kriminalität in New York geht gar nicht auf die Politik der Nulltoleranz zurück?

Diese Politik begann man in New York 1993 umzusetzen. Doch die Kriminalität dort hatte bereits drei Jahre früher zu sinken begonnen – wie überall in den USA, unabhängig von der Stadtgröße oder von der eingeschlagenen Politik.

Wo liegen die Gründe für diesen Rückgang?

Grundsätzlich gibt es vier Faktoren, die seit 1990 zusammenspielen. Der erste ist die bessere Wirtschaftslage und der damit verbundene deutliche Rückgang der Arbeitslosigkeit unter der jungen Bevölkerung in den Armenvierteln. Sobald es bezahlte Arbeit gibt, geben die Jungen sofort die informelle und kriminelle Arbeit auf den Straßen auf. Der zweite Faktor ist der demographische Rückgang der jungen Generationen. Haupttäter der Straßenkriminalität sind die 15- bis 25jährigen; wenn dieses Alterssegment abnimmt, nimmt auch die Straßenkriminalität automatisch ab.
Drittens hat sich der Drogenmarkt stabilisiert – ich rede von Stabilisierung, nicht von Rückgang, denn die milliardenteure repressive Drogenpolitik in den USA ist ein totaler Fehlschlag, gesunken ist nicht der Konsum, sondern nur das Preisniveau. Der Drogenmarkt hat sich stabilisiert. In den 80er Jahren, als unter anderem Crack eingeführt wurde, entstand ein neuer Markt. Das war ein hartes Konkurrenzgeschäft, in dem sich kleine Banden heftig bekämpften, und in der illegalen Wirtschaft wird der Markt brutal und mit Gewalt geregelt. Anfang der 90er Jahre hatten die wichtigsten Gangs die Drogenverteilung unter sich aufgeteilt, man beobachtet eine Art Oligopol, das sich vom puren und perfekten neoliberalen Modell entfernt. Mit dieser Aufteilung erübrigt sich die Waffengewalt, um die Kontrolle auszuüben.
Viertens haben sich Teile der jüngsten Generation in den Schwarzen- und Latino-Vierteln aus Erfahrung von der illegalen und kriminellen Straßenwirtschaft zurückgezogen. Sie erlebten die Gewalt der 80er Jahre hautnah – ältere Brüder, Cousins, Freunde wurden umgebracht, verletzt, invalid, ins Gefängnis gesteckt – und zogen ihre Schlüsse daraus.

Weshalb gilt die Politik der Nulltoleranz in den USA und auch außerhalb dennoch als erfolgreich?

Weil es zu Beginn der 90er Jahre ein wissenschaftliches Erklärungsvakuum gab. Niemand hatte diesen Rückgang kommen sehen, also gab es auch keine Erklärungen dafür. In dieses Vakuum stießen die Ideologen der neokonservativen Thinktanks und Beratungsinstitute, welche die Nulltoleranz propagierten. Für sie war dieses Vakuum die traumhafte Gelegenheit, zu beweisen, dass ihre Politik die Straßenkriminalität hatte zurückgehen lassen. Sie konnten in New York, in den USA und in der westlichen Welt ihre Politik legitimieren: Die Zerstörung des Sozialstaates, die Deregulierung der Wirtschaft und der Arbeit, und die Glorifizierung des Straf- und Polizeistaates. Sie lancierten eine umfassende Propagandakampagne.

Wie verlief diese Kampagne?

Diese Thinktanks sind eigentlich Propagandamaschinen. Wenn sie ein Schlagwort produzieren wie die Nulltoleranz, geben sie Berichte ab, bombardieren die Medien mit Kommuniqués, organisieren Pressekonferenzen mit Pseudointellektuellen, die für die universitäre oder akademische Legitimation sorgen sollen. Dieses systematische Vorgehen hat reelle Folgen: Das Schlagwort gelangt in die Alltagssprache, die Politiker fühlen sich zu dieser Politik gezwungen, wer für fundiertere Ursachenbekämpfung der Unsicherheit plädiert, steht als mediatischer Zwerg da.

Wer steckt konkret hinter der Kampagne?

Es tauchen immer dieselben bekannten Namen auf. Das Manhattan Institute in New York zum Beispiel, das Charles Murray lancierte. Murray war der US-Guru in Sachen Zerstörung des Sozialstaates. Derselbe Murray warb nicht nur in den USA für die Nulltoleranz, sondern trat auch in Großbritannien als Experte auf und machte Propaganda für diese Politik – von dort aus strahlte diese Politik nach Europa aus. Und es ist wieder Murray, der jetzt Pamphlete darüber schreibt, wie gut die Gefängnisse funkionieren, dass sie die Kriminalität zurückgeworfen haben. Oder William Bratton, der frühere Chef der New Yorker Polizei, der eine private Sicherheitsfirma hat: Er brachte sich in die Marketingkampagne des Manhattan Instituts ein, das seine Ideologie den kulturellen und politischen Gegebenheiten jener Länder anpasst, die diese Politik aufnehmen und verinnerlichen sollen.

Nulltoleranzpolitik als Exportprodukt?

Aber sicher. Weshalb, denken Sie, hat sich das Schlagwort „Nulltoleranz“ in westeuropäischen Ländern verbreitet? Großbritannien, Deutschland, Frankreich, sogar Amsterdam macht mittlerweile Versuche mit der Nulltoleranz. Das Schlagwort wurde nicht einfach so hergeweht. Die New Yorker Behörden machten und machen diese Exportarbeit sehr bewusst, methodisch, gut organisiert, in Absprache mit den neokonservativen Thinktanks. Sie tun das, um die Politik in New York besser zu legitimieren – wenn alle ihre Politik anwenden, dann doch nur, weil ihre Politik die Bestmögliche ist.

Und das Exportprodukt wird dem jeweiligen Importeur angepasst?

In den USA wurde die Sozialpolitik durch die Strafpolitik ersetzt – Gefängnisse statt Sozialprogramme. In den 90er Jahren hat die Gefängnisbelegung in den USA jährlich um acht Prozent zugenommen, derzeit sitzen rund zwei Millionen Menschen hinter Gittern, dreimal mehr als vor 15 Jahren. Gleichzeitig wurden Sozialprogramme massiv zusammengestrichen. In Westeuropa hat die Politik der Nulltoleranz zwar Fuß gefasst, doch bisher hat man dort die Sozialpolitik nicht zugunsten der Strafpolitik aufgegeben. Im Manhattan Institute arbeitet Bratton mit einem lateinamerikanischen Forscher zusammen, um die Nulltoleranz der lateinamerikanischen Realität anzupassen. Bratton reist in diese Länder, um die Nulltoleranz zu propagieren, umgekehrt lassen sich lateinamerikanische Politiker in New York informieren.

Lateinamerika scheint ein sehr fruchtbarer Boden für diese Politik zu sein. Wo liegen die Gründe dafür?

Zum einen in der sozialen Unsicherheit, von der ich vorhin sprach. Sie hat in diesen Ländern in den 90er Jahren sehr stark zugenommen. Gleichzeitig sind das Länder mit einer autoritären politischen Tradition. Das macht die Sache auch so gefährlich: Mit der Nulltoleranz entfernt man sich von einer Sozialpolitik gegen die Armut, die eh schon schwach war. Denn der Wohlfahrts- und Sozialstaat ist in diesen Ländern nicht etabliert, weder hat er entwickelte Eingriffsmöglichkeiten noch ist seine Legitimierung in der Gesellschaft verankert. Über große Eingriffsmöglichkeiten und eine lange Erfahrung verfügt hingegen der Straf- und Polizeiapparat, den man einsetzen will, um die Folgen der sozialen Unsicherheit einzudämmen. Wenn man aber den Repressionsapparat einsetzt, um in den Unterschichten Ordnung zu halten, legitimiert man die Rückkehr zu einer Praxis, die an die der Diktaturzeiten erinnert – ohne Garantie, dass diese Praxis auf die Armenviertel beschränkt bleibt.

Es ist aber just die Bevölkerung in den Armenvierteln, die am lautesten nach der Politik der harten Hand rufen.

Das ist paradox. Zwar drückt diese Ruf die Forderung nach einer Senkung der Kriminalität aus, deren Hauptopfer die Armen sind – die Kriminalität der Armen richtet sich vor allem gegen sie selber. Anderseits werden sie die ersten Opfer der harten Hand sein, denn die richtet sich gegen die gesamte Bevölkerung in den Armenvierteln, nicht nur gegen die Kriminellen. Aber dieser Ruf aus den Armenvierteln ist auch ein Ruf nach einer Lebensstabilität. Weil die Menschen nicht in der Lage sind, stabile Arbeit zu fordern, fordern sie Stabilität dort, wo sie können, wo es eine Chance gibt, gehört zu werden. Das ist ein großes Dilemma, dem man sich mit Diskussionen und Information stellen muss: Aufzeigen, dass der Zauberstab der Nulltoleranz die Kriminalität verschwinden lässt, indem sie die Armenviertel der Polizei ausliefern.

Hat die Politik der Nulltoleranz öffentliche Diskussionen ausgelöst?

In den USA nicht, da gibt es keinen öffentlichen Raum mehr für solche Debatten, sie beschränken sich auf universitäre Kreise. In Europa und Lateinamerika hingegen laufen lebendige Debatten, da ist der Wille spürbar, zu diskutieren, sich Problemen zu stellen, zu fragen, welche die Folgen einer solchen Politik sein werden. Ich habe mich deshalb von Anfang an auf das europäische und lateinamerikanische Publikum konzentriert und das Buch auf französisch geschrieben. Es wird in acht Sprachen übersetzt, und bezeichnenderweise ist es einzig die englische Übersetzung, die nicht ganz gesichert ist – wo doch die Politik der Nulltoleranz zuerst in den USA und in Großbritannien umgesetzt wurde.

Interview: Michele Laubscher

Loïc Wacquant: Elend hinter Gittern. Universitätsverlag Konstanz 2000, 169 S., 16,80 DM (ca. 10 Euro).

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