Nicaragua | Nummer 277/278 - Juli/August 1997

Facetten autoritärer Politik

Das “liberale Projekt” der neuen Regierung verschärft die sozialen Konflikte

Seit nunmehr rund 150 Tagen sitzt Arnoldo Alemán, Nicaraguas erzkonservativer Präsident, fest im Sattel seiner neuen Regierung. Anlaß genug, einen schlaglichtar­tigen Überlick über die Ereignisse der letzten Monate zu geben, die sich vom politi­schen Marketing über Auseinandersetzungen zwischen der Regierungspartei, der Li­beralen Allianz (AL), und der FSLN um die Reprivatisierungspolitik bis zu massiven Protesten und Straßenblockaden erstrecken. Alemán und seine Crew versuchen mit allen Mitteln ihr “liberales Projekt” durchzusetzen und so die Fundamente für die Konso­lidierung ihrer Macht zu legen. Zugleich wird die Lebenssituation für die er­drückende Mehrheit der Menschen ständig desolater.

Annette Massmann

Januar 1997 – ein Tross an Ka­me­ra­leuten und Fo­to­grafen ist zur Stel­le: Alemán prüft die Ein­satz­freude seiner Mi­nister und an­der­er Staats­funk­tionäre. Pünkt­lich um 8.00 Uhr – und das an ei­nem Montag. Nicht­anwe­sende wur­den mit einer ge­fälli­gen Nach­richt ein­ge­deckt: “Der öf­fentliche An­ge­stellte ist Die­ner des Volkes und muß dis­zi­pli­niert sein. Ar­noldo Alemán wird nicht erlau­ben, daß seine Mi­nister Fau­len­zer sind”. Man sah ihn mit Mit­glie­dern des Un­ter­neh­mer­In­nen­verbandes CO­SEP plaudern und ver­künden, daß in die Frei­handels­zo­nen mas­siv in­vestiert werde, daß zwei neue Kom­merzzentren und fünf neue Lux­us­hotels ge­baut und damit tau­sende von Ar­beits­plätzen ge­schaf­fen würden. Dies war der po­pu­listische Prä­si­dent der er­sten Wochen.

Die Paralyse der Kritik im Parlament

Parallel zu die­sem per­sönlichen Mar­keting kehrte der ro­te Allianz-Be­sen. Die neuen Mi­nister, Ver­treter von In­sti­tu­tionen, Bür­germeister und li­be­ralen Di­rektoren un­ter­zeich­neten tau­sende von Ent­las­sungsschrei­ben. Diejenigen muß­ten gehen, de­ren Symphatie nicht der neuen Re­gierung galt.
Am 9. Januar 1997 trat die neu­ge­wähl­te Na­tio­nal­versamm­lung zu­sammen. Bei der Fra­ge nach der Ver­teilung der Prä­sidi­umsposten kam es zum ersten großen Test des Kräf­teverhält­nis­ses zwischen der Liberalen Al­lianz (AL)(42 Sitze) und der FSLN (36 Sitze). Die FSLN for­derte ein ausgewogenes Prä­sidium, um die Un­abhängigkeit der Natio­nal­ver­samm­lung von der Regie­rung zu ge­währleisten. Die AL dagegen be­an­spruchte vier der sieben ver­füg­baren Äm­ter für sich unter an­derem das des Par­lamentspräsi­den­ten. Die FSLN forderte ge­heime Wahlen, da be­fürch­tet wurde, ei­nige Abge­ord­ne­te der AL seien unter Druck ge­setzt und die Mit­glieder der neun kleinen Par­teien geködert wor­den. Der Ober­ste Wahlrat, der diese erste Sitzung des Par­la­ments prä­si­dier­te, ent­schied sich für die AL und gegen die ge­heime Ab­stim­mung, wo­rauf­hin die FSLN-Fraktion ge­schlos­sen auszog. Bei den fol­genden Wahlen gab es kei­ne Gegenkan­di­datInnen.
In den Folgetagen er­reichte es die AL, Allianzen mit den klei­nen Par­teien zu eta­blie­ren. Damit ge­langte Alemán an eines seiner zen­tralen Ziele: ein willfähriges Par­lament. Der ni­caraguanische Kom­mentator Wil­liam Lacayo Guer­ra: “Die Natio­nal­ver­sammlung wur­de zu einer Spezie von In­stanz, die ohne großen Aufwand die Ge­setzesvorhaben des Präsidenten der Republik ab­stem­pelt.”
Die FSLN verpaßte die Chance, das Par­lament zur Tri­bü­ne der politischen Aus­ein­an­der­setz­ung zu machen, wo­durch sich die Grundla­gen für eine Po­li­tik bildeten, die sich be­reits wäh­rend des po­la­ri­sierten Wahl­kampfes ab­gezeich­net hatte: Ein Zwei­par­tei­en­sy­stem, an des­sen Spitze der neoliberale Almán und der Gene­ral­sekretär der FSLN, Daniel Ortega, Po­li­tik in­sze­nie­ren. Dazu ge­sellte sich die Stra­tegie der FSLN, die ver­sucht, über Druck “von unten” und ver­ord­netem Dia­log “von oben” den of­fensiv von Ale­mán angegan­ge­nen Struk­tur­wandel zu konter­kar­rieren. Reale Erfolge in strit­ti­gen Fragen ließen sich bei die­sem Vorgehen bis­lang nicht er­zielen.

Die Säuberung des öffentlichen Raums

Straßenhändler­Innen, mis­lie­bi­ge Straßenkinder, und andere Men­schen, deren Verkaufs­stände ein Dorn im Auge der neuen Re­gie­rung sind, wer­den seit Fe­bru­ar mit Gewalt durch die Poli­zei von ihren ange­stammten Ver­kaufs­plätzen an Kreu­zungen und öf­fentlichen Plätzen ver­trieben. Ob­wohl die Regierung den Be­ginn dieses Vor­gehens mit Mel­dun­gen über sich häufende Dieb­stähle und Über­fälle beg­lei­tete, war in den Medien all­ge­mein von “Säu­be­rungen” die Rede. Es ist eine repressive Ver­trei­bung der über­all sicht­ba­ren Armut, wo­bei die Regierung eu­phe­mistisch da­von sprach, wie­der­holt auf­ge­griffene Kinder in “Er­ziehungs-“an­stalten ein­liefern las­sen zu wollen. In Nica­ra­gua gibt es rund 700.000 Ju­gend­liche un­ter 15 Jahren, die laut einer in­ter­nen UNICEF-Stu­die unter ex­tre­mer Armut lei­den, darüber­hi­naus le­ben und arbeiten etwa 6.000 Kinder per­ma­nent auf der Straße.

Autoritärer Strukturwandel

Ende Februar brach­te eine Grup­pe von AL-Ab­geordneten ein Ge­setzesvorhaben zum Neu­aufbau eines Fa­mi­lien­mi­nisteri­ums ins Par­lament ein, dessen zen­trale po­liti­sche Leit­linie, dem ka­tholisch-bür­ger­lichen Ideal fol­gend, die För­derung der “un­auf­löslichen ehelichen Ge­mein­schaft” ist. Ei­ne Form, die in Ni­ca­ragua in über 53 Prozent der Haus­halte, in de­nen Frauen die Rol­le des Fami­lien­ober­haupts aus­füllen, schlicht­weg nicht exis­tiert. Doch dies störte die Re­gierungsver­tre­ter nicht, denn “die Grund­lage der Familie ist das Paar ver­eint durch die Bin­dung der Liebe in einer groß­mü­tigen, treuen, sta­bi­len und dau­erhaften Be­zie­hung…” und damit erkenne der Staat an, “daß die Auf­gabe des Paa­res darin be­steht, eine Gemeinschaft der Liebe und Fort­pflanzung zu bil­den…” An­dere Themen großer Spreng­kraft im Ge­setzes­text zum Aufbau des Fa­mi­lien­ministeriums sind der “Schutz un­geborenen Le­bens” sowie die Über­führung von Kin­dern, die auf der Straße leben und arbei­ten, in An­stalten .
Hinter der Bil­dung des Fami­lien­ministeriums steht der mas­sive Ver­such, die Po­litik der bislang von unabhängigen Or­ga­nisationen wie dem INIM (In­stitut für die Frau), Fonif (Ni­ca­raguanischer Fonds für die Frau und Familie) und der “Na­tio­nalen Kom­mission zur För­derung und zum Schutz der Rechte der Kinder” ab­zu­schaf­fen. Totz mas­siver Proteste aus der Frauen­be­wegung wird sich dieses Ge­setzesvorhaben vor­aus­sichtlich durch­setzen kön­nen.
Vertreter der AL brachten au­ßerdem eine Gesetzes­no­velle be­züglich der Aus­lands­fi­nan­zie­rung ni­ca­raguanischer Nicht­re­gie­rungs­organisa­tio­nen (NRO) ein. Derzufolge müssen zukünf­tig alle NROs und Stif­tun­gen ihre Fi­nanz- und Pro­jekt­an­träge, die sie an Koope­ra­tionspartner im Aus­land richten, über ein neu ein­zurichtendes De­partment beim Ministerium für auswärtige Zu­sam­menarbeit ka­nalisieren. Die­ses Department soll – so der Ge­setzestext – ge­währ­leisten, daß die Verwendung der Mittel ko­or­di­niert wird. De facto werden die NROs dazu ver­pflichtet, über diesen Mechanismus die Inhalte ihrer Politik der Kon­trolle durch die Regierung zu un­terwerfen. Das Ge­setz räumt dem De­part­ment die Möglichkeit ein, bei Zuwi­der­hand­lung entweder eine Geldstrafe zu er­heben, oder aber bei erneutem eigenmächtigen Han­deln, den NROs die juristi­sche Kör­perschaft ab­zu­erkennen.
Die nicaragua­nischen NROs pro­testierten mas­siv ge­gen diese No­vel­lierung und for­derten die ge­meinsame Erar­bei­tung eines Ge­setzesrah­mens zur Finanzie­rung von NROs. Es wird al­ler­dings er­war­tet, daß sich Ale­mán die Kon­trollmöglichkeit der Millionen­be­träge, die auf diesem Weg all­jährlich ins Land kom­men, nicht neh­men lassen wird.

Eigentum: Das unendliche, ungelöste Thema

Trotz der Aus­ein­andersetzun­gen ist das Thema der Reprivati­sie­rung des Ei­gentums auch wei­terhin der zen­trale Konflikt­punkt in Nica­ragua. Seit dem Re­gierungsan­tritt Alemáns nah­men Räumun­gen strit­tigen Ei­gen­tums, von Län­dereien, Grund­stücken und Häu­sern, dra­stisch zu. In deren Verlauf kam es be­reits in ver­schiedenen Orten zu Todes­fällen.
Die gesetzliche Grund­lage für die Räu­mungen sind frag­würdig, die Rich­terInnen häu­fig gekauft. Die Regierung Alemán erkennt die Gesetze 3/38 zur Konfiszie­rung des Ei­gentums des Clans des ehe­maligen Diktators So­moza und seiner engsten Unter­gebenen nicht an. Arnoldo Ale­mán forderte sogar persönlich die Fa­milie Somoza auf, nach Ni­ca­ra­gua zurück­zu­kehren und vor den Tribunalen die Recht­mäßigkeit ihrer Besitz­an­sprüche geltend zu machen. Nun ka­men Bernabe und Al­varo So­moza Pro­to­carrero, zwei Söh­ne des Dik­tators, ins Land, um das ehemalige Ei­gentum der Familie ein­zu­klagen. Ein klei­nes ironi­sches Spreng­sel in der Ge­schichte: Zu ihrem Eigentum zählt auch das Grund­stück, auf dem die Kathedrale steht, die der Amts­sitz des ni­ca­raguanischen Kar­dinals Obando y Bravo ist – einem erklärten Un­terstützer des Prä­sidenten Alemán.
Neben diesem Ge­setz 3/38, so ließ der Agrarminister Jor­ge Ca­stillo Quandt verkünden, seien weitere 14.000 Land­be­sitztitel genauso ge­genstandslos wie die san­di­ni­stischen Agrar­reformge­setze von 1981 und 1987, die Gesetze 85 (Grundstücke), 86 (Häuser), 88 (Land) sowie die die Abkom­men der Übergangs­zeit zwischen der scheidenden FSLN und der Regierung Cha­morro von 1990).
Das Agrar­re­for­minstitut soll­te – so sah es die Initiative vor – alle Titel nach Prüfung der Recht­mä­ßigkeit der Ansprüche neu ver­geben. Pro­pa­gandawirksam er­schien dieses Vor­haben als ein neues Agrar­re­form­gesetz der Re­gierung. Doch es brachte das Faß zum überlaufen. Die FSLN und die ihr an­ge­schlos­senen Ge­werk­schaf­ten und rie­fen zu na­tionalen Pro­testaktionen auf, in deren Verlauf Ni­caragua im April vier Tage lang durch Stra­ßen­blockaden gelähmt wurde.
Im Zuge der Pro­teste bot Alemán Ortega Spitzen­ge­spräche hinter ver­schlossenen Tü­ren an. Bereits nach der ersten Ge­sprächsrunde einigte man sich auf ein innerhalb von dreißig Tagen zu erarbeitendes Ab­kom­men. Die The­men des Ab­kom­mens: die Ar­beitsplatzsicherheit im Staats­sektor, Verhand­lungen der Frage des Eigentums in einer Kommission aus Vertretern der AL und der FSLN, das Widerru­fen der Erklärung, alle Agrarre­form­titel seien un­gültig, sowie das Aussetzen von Räu­mungen für drei Monate. Dabei wur­de be­schlos­sen, daß die Be­ra­tungen der Eigen­tums­kom­mis­sion dem Par­la­ment vorge­schal­tet würden. Zwar ist die Frist von dreißig Ta­gen be­reits abge­lau­fen, kon­krete Er­gebnisse gibt es jedoch noch nicht. Nur der Agrarmini­ster Jor­ge Castillo Quandt mußte sei­nen Posten zu­gunsten von Virgi­lio Gúrdian Cas­tellon ver­las­sen. Laut Re­gierungsquellen ko­steten sei­ne An­kündigung, 14.000 Agrar­re­formtitel seien gegen­standslos, und die in die­sem Zuge erfolgten mas­siven Prote­ste, Castillo Quandt den Posten. Auch in anderen Ge­schäfts­berei­chen nahm Alemán Um­be­setzungen und Entlassun­gen vor.

Das liberale Projekt

Arnoldo Alemán verprellte in sei­ner knapp halb­jährigen Amts­zeit nahezu alle gesell­schaftli­chen Sek­toren: Ko­o­pe­rativen sowie klei­ne und mitt­lere Bäue­rInnen durch die Aus­ei­nan­der­setzungen rund um das Thema der Eigentumstitel und die Schließung der Bank BA­NADES, bis­lang noch eine der wenigen Ban­ken, über die für diese Kreise Kre­dite zu erhalten waren; Kreise der Armee durch die Ankündigung, die Truppen­größe weiter zu re­du­zieren; Mar­gi­na­lisierte in Ma­nagua und an­deren Städte durch die repressive Ver­trei­bungs­po­litik; wieder an­dere durch Ver­teuerung der En­ergiepreise und stun­denlange Strom­sperren; tau­sende durch Mas­sen­ent­las­sun­gen im Zuge der Besetzung der Stellen durch Li­berale und deren Sympathisan­tIn­nen.
Bei einheimischen Großpro­duzent­In­nen stieß er außerdem mit der polemisch dis­ku­tierten Steuer­reform auf Kritik, die au­ßerhalb von Regierungskreisen vor allem dahin­gehend kom­men­tiert wird, daß sie auf die Na­tionalökonomie ei­ne de­pres­si­ve Wirkung haben wer­de. Sie ver­teuere Grundpro­dukte, umge­kehrt wür­den be­stimmte Im­porte ver­bil­ligt. Das träfe zum Beispiel das ni­cara­guanische Zuckerka­pital, wie zum Beispiel die Pel­las-Gruppe (ISA, Flor de Caña-Rum): Zuk­ker­importe sollen im Rahmen der Re­form nicht mehr mit Steu­ern be­legt werden, wo­durch die Importe billiger als der nicara­guanische Zucker würden. Da­hinter scheinen In­teressen des cubanisch-mia­mianischen Kapi­tals zu stecken, einer der größten Zuckerexportgruppen des Konti­nents und enge Vertraute Alemáns.
Gleichzeitig gibt es Kreise, die diese Steuerreform als Kampfansage ge­gen das große alte ni­ca­ra­guanische Ka­pital se­hen, dessen Ver­treter mehr­heit­lich keine Li­beralen sind. Die Liberalen seien eher unter den mittelgroßen Produ­zentInnen und Unter­neh­mer­In­nen zu fin­den. In deren Um­feld sollen Pläne existieren, in Ab­grenzung zur traditionellen Oli­garchie der Kon­servativen über die Regie­rungs­macht ein ei­genes ökono­misches Kartell auf­zu­bau­en, als “Grund­lage der poli­ti­schen He­gemonie der Libe­ra­len für die nächsten 50 Jahre”.

“Verschleiß der sandinistischen Basis”

In einem anderen internen li­be­ralen Stra­te­gie­papier wird der “totale Ver­schleiß der san­di­nisti­schen Basis” als Ziel der eigenen Po­li­tik definiert. Die FSLN ant­wor­tete bislang auf diese Politik mit der Doppel­stra­tegie aus Dia­log unter caudillos und “Druck von unten”. Doch der “Druck von unten” ist mit dem vom An­fang der 90er, als Nica­ragua zwei Mal durch Proteste über Wo­chen paralysiert war, nicht zu ver­gleichen. Nur etwa 15.000 Men­schen sollen die Proteste im April getragen ha­ben. Weite Kreise der Bevölke­rung hal­ten Distanz zur FSLN – auch dies ein Produkt von jah­re­lan­gem co-go­bierno unter der Regierung Cha­morro. Die so­ziale und wirt­schaftliche Krise zieht jedoch täg­lich weitere Kreise.

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