Brasilien | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

Fahrpreis wieder runter

Interview mit Lucas Monteiro von der Bewegung für einen kostenlosen Nahverkehr, dem Movimento de Passe Livre (MPL)

In Brasilien demonstrierten im Juni über mehrere Wochen hunderttausende von Menschen. Auslöser der Demonstrationen waren Fahrpreiserhöhungen um 20 Centavos – rund sieben Cent – in mehreren Städten. Die LN sprachen mit Lucas Monteiro von der Bewegung für einen kostenlosen Nahverkehr (MPL) in São Paulo über die aktuelle Situation.

Interview: Mario Schenk

Sie haben die Demonstrationen gegen die Fahrscheinerhöhung mitinitiiert, wie ist Ihr Fazit?
Die Tariferhöhungen wurden in den meisten Städten zurückgenommen. Das ist zunächst ein sehr wichtiger Sieg der sozialen Bewegungen und der Bevölkerung, etwas, das es seit Jahren nicht mehr gab. Ebenso wichtig ist aber, dass eine Bewegung entstanden ist. Alle schienen entpolitisiert, Proteste eine Sache von kleinen Gruppen. Nun haben viele Menschen die Erfahrung gemacht, dass sie durch ihr Engagement ein gemeinsames Ziel erreichen können. Und wir haben ein Paradigma gebrochen. Die Forderung des Nulltarifs im Nahverkehr wird nicht mehr als Irrsinn abgetan. Viele Städte und Gemeinden haben tatsächlich damit begonnen, über den Nulltarif nachzudenken. In São Paulo gibt es beispielsweise einen Abgeordneten, der sich dieser Idee annimmt. Außerdem bereiten wir hier momentan eine Volksabstimmung zum kostenlosen Nahverkehr vor. Dafür sammeln wir Unterschriften. Der Zeitpunkt ist günstig.

Seit acht Jahren arbeitete die Bewegung relativ unbemerkt. Was führte jetzt zu diesem Erfolg?
Einige von der Bewegung MPL gingen davon aus, dass der Protest dieses Mal Erfolg haben würde. Ich persönlich hatte meine Zweifel. Doch wurden die Proteste, insbesondere die erste große Demonstration vom 6. Juni, von langer Hand vorbereitet. Gleichzeitig fielen die Tariferhöhung und die Demonstrationen diesmal nicht in die Urlaubszeit. Grundsätzlich ist aber eine Erhöhung um 20 Centavos für manche einfach zu viel. Die Demons­tranten waren in der Mehrheit Arbeiter_innen und Angestellte. Bei immer mehr Menschen scheint die Einsicht gewachsen zu sein, dass Mobilität das Recht auf Zugang zur Stadt, zur Arbeitswelt und zum gesellschaftlichen Leben bedeutet. Viele haben nun ihr Recht auf einen bezahlbaren Nahverkehr eingefordert und sich deshalb den Demonstrationen angeschlossen.

Waren die Proteste nun Ausdruck eines Widerspruchs zwischen einem wirtschaftlich nach wie vor schwierigen Leben auf der einen Seite und einem nur propagierten, sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg der Bevölkerung auf der anderen Seite?
Das Leben der großen Mehrheit der Bevölkerung hat sich in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert. Es gab einen starken wirtschaftlichen Aufschwung. Aber das heißt nicht, dass alle sozialen Probleme gelöst wären. Die Fahrpreiserhöhung überschritt bei vielen einfach die Schmerzgrenze und hat die Leute auf die Straße getrieben. Der Nahverkehr von São Paulo ist ohnehin einer der teuersten weltweit – absolut und relativ. Manche lassen bis zu 30 Prozent ihres Lohnes am Fahrscheinautomaten. Der Mindestlohn beträgt nur 678 Real (rund 240 Euro, Anm. der Red.). Eine einfache Fahrt hingegen sollte nach der Erhöhung 3,20 Real kosten. Im Monat wären das rund 130 Real, also rund ein Fünftel des Lohnes. Anschlussfahrten kosten noch mehr und diese sind in São Paulo wegen der langen Fahrtwege häufig unausweichlich.

Wie ist der städtische Nahverkehr organisiert?
In São Paulo bewerben sich private Bus- und Metrounternehmen um die Konzessionen für die Linien. Diese verwalten sie dann eigenständig. Es gibt sehr wenig öffentliche Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben der Unternehmen. Der aktuelle Vertrag beschränkt die Kontrollmöglichkeiten der öffentlichen Hand. Wie die überregionale Tageszeitung Folha de São Paulo veröffentlichte, ist die Gewinnmarge der privaten Verkehrsunternehmen in São Paulo die höchste im ganzen Land. Der Eigentümer des größten Busunternehmens São Paulos, Gato Preto, hat zuletzt an den Gouverneur des Staates, Geraldo Alckmin, 125.000 Real für den Wahlkampf gespendet. Das waren Gewinne aus dem Verkauf der Fahrscheine.

Wie reagierten die Medien auf die Proteste?
Die Presse hat ihren Blick auf die Demonstrationen im Verlauf der Proteste erheblich verändert. Zu Beginn war die Berichterstattung der großen Zeitungen und TV-Kanäle sehr reserviert. Dem haben wir über elektronische Netzwerke eine Art Gegen-Information entgegengesetzt. Diese wurde von immer mehr Menschen mitgetragen und ‚gefüttert‘. Schließlich konnten die etablierten Medien nicht weiter Dinge behaupten, die tausendfach widerlegt waren. Zum anderen wurden Medien selbst zum Ziel von Polizeiübergriffen und einige Pressevertreter erlitten teils schwere Verletzungen oder wurden festgenommen. Das hat zu einer veränderten Perspektive auf die Proteste und das Verhalten der Behörden beigetragen.

Die MPL wurde zum Gespräch mit Präsidentin Dilma Rousseff eingeladen. War das ein Versuch der Vereinnahmung oder verstand sie nicht, was im Land geschah?
Ich denke, das war ein bisschen von beidem. Das Gespräch war der Versuch zu suggerieren, dass sich die Regierung offen zeigt und einen Dialog anstrebt. Doch es stellte sich heraus, dass die Regierung keine Vorstellung davon hat, woraus die Proteste ihre Kraft entwickelten, noch schien sie in der Lage, die Dimension der Proteste zu begreifen. Die Präsidentin hatte keine Antworten auf unsere Thesen und Forderungen. Sie hat es sogar abgelehnt, Tarifänderungen auf Bundesebene zu diskutieren.

Die Präsidentin griff immerhin die Idee einer Volksabstimmung auf, die jedoch nach einem Treffen mit den acht Koalitionspartnern der Regierungspartei PT vom Tisch ist. Ist in Brasilien ein Wandel gegen die Interessen der Elite nicht möglich?
Doch schon, aber nicht über das Parlament. Der Kampf der sozialen Bewegungen ist ein politischer Kampf, der auf der Straße stattfindet, nicht innerhalb der staatlichen Institutionen. Das bedeutet Mobilisierung, Arbeit an der Basis, Engagement im Stadtteil. Auf der Ebene der bundesstaatlichen Institutionen sind die Interessen der Arbeiter_innen und Angestellten niemals vorrangig. Da mischen viele konkurrierende Interessen mit. Um Erfolge zu erzielen und Einfluss darauf zu nehmen, wer in der Gesellschaft Profite erzielt, brauchen wir sprichwörtlich die Kraft der Straße und nicht die des Parlamentes.

Seit rund 20 Jahren kam es in Brasilien zu keinen größeren Massenprotesten. Ist der enorme Zuspruch und die massenhafte Beteiligung an den aktuellen Protesten Beleg für eine sich neu politisierende Generation?
Ja. Die große Mehrheit, laut einer Umfrage rund 75 Prozent der Demonstranten, hat zum ersten Mal im Leben an Protesten teilgenommen. Das sind keine Leute, die sich bereits engagiert haben.

Infokasten:

Lucas Monteiro

ist Mitinitiator der brasilianischen Proteste gegen die Fahrpreiserhöhung in São Paulo und Mitglied der Nulltarif-Bewegung Movimento de Passe Livre, MPL, São Paulo. Er arbeitet als Geschichtslehrer.

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