Literatur | Nummer 286 - April 1998 | Sachbuch

Faschismus und Nationalsozialismus in Lateinamerika

Zwei unterschiedliche Perspektiven

Jürgen Müller hat mit seiner Dissertation „Nationalsozialismus in Lateinamerika – die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko, 1931-1945“ die erste umfassende und systematische Arbeit zur NSDAP/AO in Lateinamerika vorgelegt. Simone Schwarz vergleicht in dem gleichzeitig erschienenen Buch “Chile im Schatten faschistischer Bewegungen” die chilenische faschistische Bewegung MNS (Movimiento Nacional Socialista) der dreißiger Jahre, die Landesgruppe Chile der AO und die 1970 gegründete Bewegung “Vaterland und Freiheit”.

Dieter Maier

Zunächst zu der Dissertation Jürgen Müllers. Um die AO in Lateinamerika ranken sich wohlgepflegte Legenden von einer „fünften Kolonne“ des nach Weltmacht strebenden Hitlerdeutschland. Müller zeigt, daß die AO eine untergeordnete Abteilung der NSDAP war und sich in endlosen Querelen mit dem Auswärtigen Amt und parallelen Parteistrukturen zerrieb. Die Überschätzung der AO durch die Kriegsalliierten und ihre Mythologisierung nach 1945 ist durch Müllers faktenreiche Analyse widerlegt.
Die NSDAP verstand sich nicht als nationalstaatliche Institution. Sie wollte die Partei der deutschen „Volksgemeinschaft“ sein und beanspruchte überall dort ein Organisationsrecht, wo deutschstämmige Minderheiten lebten. Deshalb wurde die in regionale Gaue untergliederte NSDAP um einen weiteren, überregionalen Gau – eben die AO – erweitert. Für die Nationalsozialisten galt das Gleichschaltungsgesetz des Deutschen Reiches auf der ganzen Welt. Deshalb machten sich die lateinamerikanischen Landesgruppen der AO daran, alle deutschen Gesangs- und Turnvereine, Jugendgruppen, deutschen Schulen usw. der Partei zu unterstellen. Einige Vereine wehrten sich, und sei es aus purer Dickköpfigkeit. Eine katholische, deutschsprachige Zeitung in Chile brachte das im Rückblick grausig-verwirrende Argument: „Wir wollen nicht die Rolle der Juden in Deutschland spielen“, also nicht durch den Druck einer deutschen Zentrale in die Rolle einer sich absondernden Minderheit geraten. Die deutschen evangelischen Gemeinden in Lateinamerika bekannten sich in ihrer Mehrheit zum Nationalsozialismus (dieses Thema wäre eine eigene Untersuchung wert). Die deutschen Katholiken, die sich am Vatikan orientierten, waren viel zurückhaltender.
Die AO-Landesgruppen beteuerten ihre politische Neutralität und spannten gleichzeitig die „Reichsdeutschen“ (deutsche Staatsbürger) für die Zwecke Hitlerdeutschlands ein, notfalls auch durch Pressionen. Die „Volksdeutschen“ (Deutschstämmige ohne deutsche Staatsbürgerschaft) wurden in den scheinbar unpolitischen und unter der Hand gleichgeschalteten Vereinen organisiert. In der Logik der „Volksgemeinschaft“ war das Nebeneinander von Neutralitätsbeteuerungen und politischer Mobilisierung der im Ausland lebenden Deutschen kein Widerspruch. Für die lateinamerikanischen Länder war es Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Sie witterten deutsche Annexionsabsichten. Das von deutschen Diplomaten blauäugig vorgetragene Argument, die NSDAP sei Staatspartei und habe deshalb auf alles Deutsche hoheitsrechtlichen Anspruch, konnte diesen Verdacht nur bestärken.
Der Nationalsozialismus kam bei den in Lateinamerika lebenden Deutschen meist gut an. Deutschland, so schien es, war aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg herausgerissen. Auch der Antisemitismus fand Resonanz, wurde aber, weitab vom Vernichtungsapparat, zu einer rhetorischen Übung ohne politische Zugkraft. Hier wünscht man sich in Müllers Buch eine klarere Analyse. Gab es im lateinamerikanischen Teil der AO einen alltäglich-unverbindlichen Antisemitismus, während die Partei- und Staatsspitze in Deutschland die Judenvernichtung plante?
In den lateinamerikanischen Ländern war die Auseinandersetzung um die AO oft symbolisch. Welche Lieder durften gesungen, welche Fahnen und Embleme gezeigt werden? Nur in Chile, wo die AO-Landesgruppe am besten organisiert war, gingen die Behörden effektiv gegen sie vor. Mit Beginn des zweiten Weltkriegs waren die lateinamerikanischen Landesgruppen der AO von der Parteizentrale abgeschnitten, und einige waren verboten. Sie blieben ohne Wirkung auf die Außenpolitik der betreffenden Staaten und führten, so Müller, wegen ihren Heimlichtuereien und Einmischungen insgesamt eher zur Ablehnung des nationalsozialistischen Deutschland.
Müller beschreibt in seiner Arbeit, wie schwer sich die Landesgruppen in der Organisationsarbeit taten. Sie konnten nur kleine Teile der deutschen Minderheiten organisieren. Die AO hatte in ganz Lateinamerika etwa 6.000 Mitglieder, von denen viele nicht aktiv waren. Um zu solcher Präzision zu gelangen, hat der Autor viele kaum oder gar nicht erschlossene Archive gründlich und genau durchgearbeitet.
Simone Schwarz vergleicht die chilenische faschistische Bewegung MNS Movimiento Nacional Socialista der dreißiger Jahre, die Landesgruppe Chile der AO und die 1970 gegründete Bewegung “Vaterland und Freiheit”. Die Autorin hat Interviews mit Zeitzeugen geführt und bisher unbekannte Akten und Archive eingesehen, darunter Privatarchive, von deren Existenz Müller nichts wissen konnte. Schwarz beschreibt die Konflikte zwischen den von der Parteizentrale eingesetzten, auf die Neutralität der entsprechenden Länder im Zweiten Weltkrieg bedachten AO-Funktionären und der stets eigenwilligen Basis, die Waffenlager anlegte, spionierte und aus Deutschland geflohene Juden belästigte. Die chilenische AO trug zu einer restriktiven Asylpolitik des Landes gegenüber jüdischen und politischen Flüchtlingen und dem erzwungenen Rücktritt eines Außenministers bei.
Das Verdienst Schwarz‘ besteht vor allem darin, die bürokratische AO im Kontext der jüngeren chilenischen Geschichte mit dem dynamischen MNS zu vergleichen. Die Autorin zeigt die unterschiedlichen ideologischen Wurzeln des MNS auf (italienischer Faschismus, spanischer Falangismus, nationalsozialistische Fragmente und einige Konzepte dessen, was als „Konservative Revolution“ bezeichnet wird). Der MNS mobilisierte einen weit größeren Teil der Chilenen, als es der AO je möglich war. Nachdem er seine politischen Ziele nicht erreicht hatte, unternahm er einen Putsch als „eine Art letzten Revitalisierungsversuch“ und scheiterte.
Schwarz liefert im dritten Teil ihres Buches die einzige umfassende deutschsprachige Untersuchung zur Frente Nacionalista Patria y Libertad : “Vaterland und Freiheit”. Diese Organisation entstand 1970, unmittelbar nach dem Wahlsieg des Sozialisten Allende. Anfangs formulierte “Vaterland und Freiheit” einige gesellschaftspolitische Ziele, die aber bald gegenüber einem militanten Antisozialismus in den Hintergrund traten. Ihr Zweck war der Sturz Allendes. Sie wurde zum Ferment einer gesellschaftlichen Polarisierung, die den Putsch ermöglichte. So klein “Vaterland und Freiheit” war, so nachhaltig beeinflußte die Gruppe die Politik mit einer Mischung aus „zugespitzter Rhetorik und skrupelloser Gewaltbereitschaft“.
Die Organisation verübte hunderte von Sabotageakten und zahlreiche Attentate. Sie verbündete sich mit einem Teil des Offizierskorps und war an dem mißglückten Putschversuch im Juni 1973 beteiligt. AO und MNS waren ihrer politischen Programmatik treu geblieben und gescheitert; “Vaterland und Freiheit” verstand sich als Mittel zum Zweck, als Partei des Putsches, und erreichte ihr Ziel. Als Pinochet sich an die Macht geputscht hatte, ließ er die Rhetorik von “Vaterland und Freiheit” zu und übernahm – vom Folterer bis zum Regierungssprecher – einige ihrer Mitglieder, setzte aber politisch nicht auf die Ständestaatideen seiner Wegbereiter, sondern auf die Modernisierer vom Schlage der Monetaristen.

Jürgen Müller: Nationalsozialismus in Lateinamerika – Die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko, 1931-1945, Reihe Histoamericana Bd. 3, Akademischer Verlag, Stuttgart 1997. 564 Seiten.

Simone Schwarz: Chile im Schatten faschistischer Bewegungen – Der Einfluß europäischer und chilenischer Strömungen in den 30er und 70er Jahren, Verlag für akademische Schriften, Frankfurt am Main 1997. 135 Seiten.

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