Favela im Fokus
Zahlreiche Klischees sind mit dem brasilianischen Wort favela verbunden. So denken viele zunächst an Drogenhandel und Gewalt. Schließlich kennen die meisten BrasilianerInnen die morros, wie die Armensiedlungen von Rio de Janeiro auch genannt werden, nur aus den live im Fernsehen übertragenen Razzien.
Gleichzeitig haben viele Mythen der Stadt ihren Ursprung in den favelas: Auf den morros (Hügel) entstand der Samba, gerade dort wird das typische Lebensgefühl der cariocas (EinwohnerInnen von Rio de Janeiro) verortet.
Diesem Missverhältnis von Realität und Wahrnehmung widmet sich das Projekt „Kultur der Favela“, welches vom Goethe-Institut Inter Nationes Rio de Janeiro initiiert wurde. Auf der Fotoausstellung „Morro/Labyrinth“ werden die Ergebnisse der Arbeit von vier deutschen und brasilianischen Künstlern präsentiert. Diese lebten mehrere Monate lang in den favelas von Rio und arbeiteten dort mit lokalen Künstlern und Initiativen zusammen. Die Ausstellung führt auf einen virtuellen Ausflug mitten hinein in die favela. Die VeranstalterInnen sehen ihr Projekt als „einen ersten Schritt hinaus aus dem Ghetto und hinein in die favela.“
Zuerst entdeckt man die Werke von Pedro Lobo. Seinen großformatigen Panoramabildern sind teleskopartige „Guckkästen“ aufgesetzt, in denen Dias befestigt sind. Wie mit einem riesigen Zoom werden die BetrachterInnen in das Bild hineingezogen und in eine alltägliche Szene versetzt, die so vielleicht nicht in den verrufenen Armenvierteln zu erwarten wäre: Man sieht Supermärkte und Straßen, gut gebaute Häuser, sogar eine Klimaanlage ist zu erkennen; aber auch die abenteuerlichen Hüttenkonstruktionen: Alltag in der favela, den man so aus dem „anderen Guckkasten“, dem Fernsehen, nicht kennt.
Janaina Tschäpe stellt vier „Chamäleoninnen“ vor, vier Frauen, die in der favela wohnen und sich dementsprechend ständig ihrer Umwelt anpassen müssen. Die Frauen beschreiben in einem Text, wie sie sich ihre persönlichen Superheldinnen vorstellen. Auf den Fotos verwandeln sie sich dann in ihre Heldinnen.
Die Fotografien von Thomas Flohrschuetz zeigen – auf den ersten Eindruck zunächst zusammenhangslos – Details der favela-Architektur aus verschiedenen Perspektiven. Wie in einem Puzzle fügen sich die Motive in immer neuen Kombinationen zusammen. Und auf einmal ist man mittendrin, gewinnt den Eindruck durch diese verwinkelte Gasse zu flanieren.
Den Zusammenhang von favela und dem Rest der Stadt thematisiert Michael Wesley: In seinen Bildern erscheint die favela gestochen scharf, während die reicheren Viertel unscharf und weich gezeichnet sind oder jeweils umgekehrt. Sie stellen den Kontrast dar: Auf der einen Seite die Viertel ohne jede Infrastruktur, auf der anderen die reichen Siedlungen mit allen modernen Ausstattungen. Dabei kommt eine gewisse Ironie zum Vorschein: In der wunderschönen Stadtlandschaft von Rio de Janeiro haben die Armen die bessere Aussicht. Sie schauen auf die Reichen hinab.
Ausstellung bis zum 29.11.2002
Brasilianisches Kulturinstitut in Deutschland (ICBRA),
Schlegelstr.26-27,
10115 Berlin