Chile | Nummer 528 - Juni 2018 | Tourismus

FERIENGLÜCK UM JEDEN PREIS

Im Süden Chiles wird Umweltzerstörung für den Tourismus billigend in Kauf genommen

Tourismus ist einer der größten Wirtschaftsfaktoren im sonst armen Süden Chiles. Für dessen Ausbau und Entwicklung wird vielerorts Umweltzerstörung toleriert. In Coñaripe, einem kleinen Bergdorf, haben sich Anwohner*innen organisiert, um zu verhindern, dass ein Feuchtgebiet einem Tourismusprojekt zum Opfer fällt.

Von David Rojas Kienzle

Fotos: David Rojas Kienzle

Eine meterbreite Schneise der Verwüstung zieht sich durch den Wald. Auf dem Boden sind noch die Spuren des schweren Geräts zu sehen, das hundert Jahre alte Bäume umgewalzt hat. Rechts und links sind abgesägte Stämme achtlos in den verbleibenden Wald fallengelassen worden. Die von den Kettensägen ausgespuckten Späne liegen zwischen meterlangen Baumstücken. Auf den Pfützen, die sich im von Bulldozern gepflügten Pfad bilden, schimmert ein farbenfroher Ölfilm. Carla Amsteins (27) und Cristobal Punolef (26) führen uns durch Chankafiel, ein Feuchtgebiet, das nördlich am Dorf Coñaripe anschließt und das südlich vom Llancahuefluss begrenzt wird. „Spannend ist hier, dass der Fluss ursprünglich wegen der Bewegung der Erde und des Vulkans nicht so weit in diese Richtung verlief. Deswegen ist die Vegetation hier anders.“, erklärt Amsteins. „Vor 60 Jahren verlief der Fluss anders, dort wo das Schilf wächst“, ergänzt Punolef und zeigt auf eine von hohem Gras überwucherte Lichtung im Wald.

Amsteins und Punolef sind Teil eines Protestcamps, das am Rand von Chankafiel aufgebaut wurde, als Dorfbewohner*innen entdeckten, dass das Feuchtgebiet dabei war zerstört zu werden. Das gute Dutzend Aktivist*innen hat Zelte aufgeschlagen und dokumentiert diese Zerstörung, aber auch das einzigartige Ökosystem, das bedroht ist. Fischotter, Eisvögel, monitos del monte, ein vom Aussterben bedrohtes, in Chile endemisches Beuteltier, Frösche, Kröten und zahllose Pflanzenarten haben sie hier schon gesehen. „Hier werden traditionell auch changuis, eine Pilzsorte, gesammelt. Neben allem anderen hat das hier also auch eine Bedeutung für die Ernährung“, meint Punolef. „Mit den Führungen, die wir hier anbieten, machen wir gleichzeitig auch Kontrollgänge und überwachen, ob neu interveniert wurde“, ergänzt Amsteins. Bis jetzt waren die Aktivist*innen erfolgreich. Nachdem sie das Camp eingerichtet hatten, haben die Bau- und Zerstörungsmaßnahmen fürs Erste aufgehört.
Chankafiel hat neben der Bedeutung als Ökosystem auch eine besondere Bedeutung für die in der Region lebenden Mapuche. In mapuzungun, der Sprache der Mapuche, bedeutet der Name „kollektive Heilung“. Es ist ein Ort, an dem Heilpflanzen wachsen, aber auch kollektive Rituale durchgeführt werden. „Der Ort hat eine spirituelle Bedeutung, die eng mit der Biodiversität verbunden ist. In der Weltanschauung der Mapuche haben alle Lebensformen ohne Ausnahme eine Bedeutung“, meint Punolef. Neben der großflächigen Zerstörung von Wald wurde auch ein rewe, ein Totempfahl, umgepflügt und zerstört. Mittlerweile hat die Mapuchegemeinde Antimilla diesen wieder aufgestellt, um der Bedeutung des Chankafiel nochmals Nachdruck zu verleihen.

Vom Tourismus wollen alle ein bisschen abhaben

Ohnehin wurde die Schneise im Wald illegal geschlagen. Die Eigentümer*innen des Landes, auf dem das Feuchtgebiet steht, haben das Grundstück in Parzellen aufgeteilt und verkauft. Als puerto Coñaripe – Hafen Coñaripe wird das Immobilienprojekt beworben, mit privatem Zugang zum See, für Boote und Jetskis. Das Land, auf dem das passieren soll, ist rechtlich betrachtet allerdings nicht Bauland, sondern Agrarfläche. Das allerdings stört kaum im dünn besiedelten Süden Chiles. Wo kein Richter ist, ist auch kein Henker. Dabei sind nicht einmal die Eigentumsverhältnisse hundertprozentig sicher geklärt. Ganz Coñaripe ist auf Land gebaut, dessen Landtitel eigentlich Mapuchegemeinden zusteht. Nachdem das Dorf allerdings 1964 nach einem Ausbruch des Villarica-Vulkans von einem Schlammstrom vollständig zerstört wurde, wurde es etwas versetzt neu aufgebaut. „Coñaripe ist quasi illegal gebaut“, erklärt Punolef.

Dort wo heute Coñaripe steht, lebten schon seit Menschengedenken Mapuche. Wie üblich existiert das Dorf aber offiziell erst, seit weiße Siedler Ende des 19. Jahrhunderts dort ihre Hütten und Häuser bauten, um in der Holzindustrie zu arbeiten. Knapp 1.500 Einwohner*innen leben das ganze Jahr dort. In den Ferienmonaten Januar und Februar sieht die Sache ganz anders aus. Zu Zehntausenden strömen Familien aus ganz Chile in die Region. Das verschlafene Nest sowie die an Seen und Flüssen angrenzenden Nachbardörfer werden von Tourist*innen überrannt. Die Gäste selbst sind höchst willkommen, bilden sie doch die Einkommensgrundlage für die meisten Bewohner*innen. Ferienhäuser werden vermietet, der Einzelhandel boomt und einmal im Jahr, Mitte Februar, gibt es mittlerweile sogar ein Festival mit Schlagersänger*innen und Feuerwerk. Von diesem Kuchen wollen alle ein Stückchen abhaben. Scheinbar um jeden Preis. Deswegen soll auch das Ökosystem in Chankafiel zerstört werden, zahlungskräftige Käufer*innen sollen sich dort eine gated community bauen können. „Entwicklung“ ohne Rücksicht auf Verluste.

Dieses Entwicklungskonzept vertreten allerdings nicht nur lokale Eigentümer*innen von Land oder Dorfbewohner*innen. Die ganze Region scheint vom Glauben erfasst zu sein, dass der Tourismus der ökonomische Heilsbringer sein wird. So ist geplant, eine Landstraße quer durch den Nationalpark Villarrica zu bauen. Das Schutzgebiet, das bereits 1940 um den Vulkan Villarrica herum eingerichtet wurde, grenzt an einem Ende an Coñaripe, am anderen an den international bekannten Abenteuertourismushot-spot Pucón, der Tourist*innen aus der ganzen Welt anzieht, die dort raften, Ski fahren, klettern und wandern gehen. Die Hoffnung ist, dass mit der neuen Landstraße, die eben bis nach Pucón reichen soll, mehr zahlungskräftige Tourist*innen den Weg nach Coñaripe finden und dort mehr Geld hängen bleibt. Auch die Anbindung für Notfälle soll verbessert werden.

Wer am Ende von den Tourist*innen profitieren soll, ist allerdings nicht ganz klar. „Was passieren wird, ist, dass die Landstraße kommen wird. Es werden Parzellen am Rand der Straße für die Tourismusindustrie vergeben werden. Es werden Leute mit viel Kapital und technischem Wissen kommen, die schnell Projekte aufziehen können. Und für die Leute von hier, die weder Kapital, noch technisches Wissen haben, ist es drei Mal so schwierig, so ein Projekt auf die Beine zu stellen“, meint Patricio Alfari Antimilla von der Mapuchegemeinde Antimilla. Die Befürchtung ist, dass Coñaripe auch weiterhin innerchilenische Peripherie bleibt. Profite werden abgeschöpft und der lokalen Bevölkerung bleibt die Rolle der Angestellten. Schließlich werden für die Läden während der Saison billige Arbeitskräfte benötigt und die Gärten der gated community müssen ja auch noch gepflegt werden.

Rücksicht auf ökologische Belange tritt, beim Vorantreiben touristischer Entwicklung immer weiter in den Hintergrund, selbst im Nationalpark. Schon jetzt sind Teile des Parks auf der Seite von Pucón privatisiert. Kioske und Skigebiete reichen bis tief ins eigentliche Schutzgebiet hinein. Wirklich interventionsarm sind die wenigsten Bereiche. Nationalparks werden von der CONAF verwaltet, der dem Landwirtschaftsministerium unterstellten nationalen Waldbehörde. Mit einer Reform der letzten linksliberalen Regierung wurden die geschützten Bereiche, also Nationalparks, dem Umweltministerium unterstellt. „Eine der größten Kritiken an diesem Gesetz ist, dass Konzessionen für Tourismus privatisiert werden“, sagt Amsteins. „Was am Ende mit Tourismus zu tun hat, ist dem Wirtschaftsministerium unterstellt. Und das chilenische Wirtschaftssystem basiert auf Neoliberalismus und der Privatisierung von Gemeingütern.“

Die Aktivist*innen im Chankafiel haben die Hoffnung, zumindest dieses kleine Gebiet vor der vermeintlichen Entwicklung retten zu können und dem ein anderes Konzept von Tourismus entgegenzusetzen, das des kommunitären Basistourismus. „Das Konzept wurde aus Bolivien und Peru adaptiert, wo es ein Netz von indigenen Völkern gibt, die Schutzgebiete selber verwalten und Besucher empfangen“, so Amsteins. Ziel ist es, eine Form von Tourismus zu schaffen, die nicht zur Ausbeutung und Zerstörung der Natur und bestehenden Gemeinschaften führt. Das Konzept steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Ob sich das Projekt gegen das finanzstarke Entwicklungsmodell durchsetzen kann, ist mehr fraglich.

Der Aufbau von Strukturen und die physische Präsenz im Chankafiel sind aber nur ein Teil der Auseinandersetzung. Auch auf juristischer Ebene gehen die Aktivist*innen gegen das Projekt vor. In der Provinzhauptstadt Valdivia haben sie einen Schutzantrag gestellt. Das Gericht hat daraufhin alle Baumaßnahmen auf dem Gelände solange untersagt, bis abschließend geprüft ist, ob diesem Antrag stattgegeben wird oder nicht. Cristobal Punolef meint: „Die Leute kommen wegen der Landschaft und der Natur. Den Wald zu zerstören, das Feuchtgebiet trocken zu legen, das ist doch ein Teufelskreis. Und das alles ist Teil einer absurden Logik.“ Vielleicht bleibt es am Ende ja zumindest in Chankafiel bei lediglich einer Schneise der Zerstörung.

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