Aktuell | Literatur | Nummer 611 – Mai 2025

Finger in die Wunde

Gabriela Wieners Unentdeckt erforscht die Widersprüche 
ihrer eigenen Herkunft

Unentdeckt, der autofiktionale Roman von Gabriela Wiener, beginnt mit einem trotzig-zynischen Rundgang der Autorin durch eine Ausstellung voller Raubkunst, die einst ihr Ururgroßvater Charles Wiener aus Peru nach Europa brachte. Sie betrachtet die Exponate – wie in so vielen europäischen Museen – kontextlos und wahllos zusammengestellt. Darunter auch huaco retratos (so auch der Name des Romans im spanischen Original), künstlerische Keramikportraits aus der vorkolonialen Zeit der Anden. Mit diesen scheint sie mehr zu verbinden als mit ihrem kolonialen Grabräuber-Vorfahren. Dennoch ist dies nur der Beginn einer komplexen Auseinandersetzung mit einer auf so vielen Ebenen abzulehnenden Figur.

Von Johanna Fuchs

Gabriela Wiener, die nach Spanien exilierte, peruanische Autorin, kehrt anlässlich des Todes ihres Vaters nach Lima zurück. Die Reise bringt Erinnerungen und Fragen über ihr Verhältnis zu ihrem Vater ans Tageslicht, der neben ihrer eigenen noch eine weitere Familie hatte – ein offenes Geheimnis, das jedoch zu seinen Lebzeiten niemand auszusprechen wagte.

Er hinterlässt ihr zudem überraschend ein Buch ihres Ururgroßvaters – der jüdisch-österreichische, selbsterklärte „Entdecker“ Charles Wiener, der 1876 in Peru „auf Expedition“ ging. Dabei nahm er nicht nur Unmengen an Raubgut zur Ausstellung in europäischen Museen mit und verschleppte einen Indigenen Jungen, sondern zeugte auch zusammen mit einer Frau aus Trujillo, María Rodriguez, einen Jungen – Gabriela Wieners Urgroßvater. Er lernte diesen nie kennen und war in der Familie dennoch fortan präsent: Seine Geschichte wurde ehrfürchtig von Generation zu Generation weitergegeben, sein Portrait schmückte alle Häuser seiner Nachkommen in Peru.

Charles Wieners Ururenkelin, Gabriela Wiener, sieht die Figur deutlich kritischer als manch anderes Familienmitglied. Trotzdem taucht sie nun, etwas verwirrt, aber auch neugierig über die seltsame Hinterlassenschaft ihres Vaters, in die kolonialen Erzählungen ein, die Charles Wiener der Welt vermacht hat. Die Lektüre inspiriert sie zu schmerzhaften, im Roman jedoch mit Direktheit und Humor verpackten Reflektionen: Reflektionen über die Auswirkungen davon, Nachfahrin des kolonialen Schriftstellers, aber auch der Subjekte seiner rassistischen Beobachtungen zu sein, über internalisierten Rassismus und die Mischung aus Stolz und Scham der Familie gegenüber dem weißen Patriarchen – „Uns bleibt nur Ironie, denn wir sind das Ergebnis dieser Konfrontation“, schließt sie. Ironie und schonungslose Direktheit sind in der Tat tonangebend im Verlauf von „Unentdeckt“.

Dabei findet Wiener in ihrer Konfrontation mit den Werken und ihren Fantasien über dessen Lebensrealität Kontinuitäten im Rassismus des Ururgroßvaters und aktuellen Diskursen in Europa und Lateinamerika, von denen sie selbst betroffen ist. Gleichzeitig empfindet sie jedoch auch an überraschender Stelle Empathie und findet Gemeinsamkeiten mit ihrem jüdisch-europäischen Vorfahren.

Im Verlauf des Romans nimmt die Gegenwart der Schriftstellerin, die Auseinandersetzung mit eigenen Traumata und den heutigen Auswirkungen, Teil einer komplexen und gewaltvollen Familiengeschichte zu sein, immer mehr Raum ein – eine Familiengeschichte, die viele Menschen in Lateinamerika in ähnlicher Form, Menschen anderer Kontinente jedoch abgewandelt und anteilig, ebenso nachfühlen können. Ohne sich selbst in ein positives Licht rücken zu wollen, macht sie ihre damit zusammenhängenden Zweifel und Unzulänglichkeiten in ihrer Dreierbeziehung mit einer weißen Frau und einem cholo (ein diskriminie­rendes Wort für als Indigen rassifizierte Personen, welches im Lauf der Zeit jedoch als Selbstbezeichnung angeeignet wurde und auch von Wiener so verwendet wird, Anm. d. Autorin) Mann transparent. Sie teilt ihre Überforderung, dass die antirassistische Analyse und Identitätspolitik nicht dazu beitragen, dass sie sich persönlich besser fühlt.

Wiener nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht unbequeme Gedanken aus und legt den Finger tief in die (eigene) Wunde. Die chronistische Auseinandersetzung mit ihrer widersprüchlichen Identität und ihren kompli­zierten Beziehungsgeflechten ist so klug wie ehrlich. Die Autorin und Protagonistin selbst tritt als fehlbar, glaubwürdige Person auf. Neben anderen Büchern, die sich literarisch mit Themen wie (Post-)Kolonialismus, Rassismus, Identität, Sexualität und Geschlecht beschäftigen, ist dies eine ungewöhnlich nahbare, persönliche Annäherung an die komplexen Themen unserer Zeit, die man innerhalb weniger Stunden verschlingt. Das von Friederike von Criegern beeindruckend übersetzte Buch bringt zum Nachdenken, zum Lachen, zum Cringen, tut weh und macht eventuell der einen oder anderen Person Lust, sich selbst auf die Suche nach der familiären Vergangenheit zu begeben.

Gabriela Wiener // Unentdeckt // Verlag Kanon // 22 Euro // 192 Seiten // Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern


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