Forschungsgegenstand Straßenkind
Was Wissenschaftler zu einem kontroversen Schlagzeilenthema zu sagen haben
“Straßenkinder und Kinderarbeit“ – ein Titel, der sicherlich bei vielen Lesern, die sich hin und wieder über Dritte-Welt-Probleme informieren, ähnliche Assoziationen hervorruft: kleine Schuhputzerjungen in São Paulo, halbwüchsige Feuerschlucker an Straßenkreuzungen von Mexiko-Stadt und Kinder, die auf Baumwoll- und Orangenplantagen schwere Erwachsenenarbeit verrichten. Straßenkinder haben ihren festen Platz im europäischen Lateinamerikabild, denn Berichte über Straßenkinder sind fast ebensolche Publikumsmagneten wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder die Drogenmafia. Jedoch stellt sich mitunter die Frage, inwieweit das teils von Mythen übersättigte Thema sich tatsächlich mit Dritte-Welt-Realitäten auseinandersetzt oder die pauschalisierende Negativberichterstattung lediglich einen weiteren Beitrag zum eurozentristischen Weltbild und Erste-Welt-Messianismus liefert (siehe hierzu auch den Artikel von C. Herrmanny in dieser Ausgabe).
Ein sozialgeschichtlicher und interkultureller Vergleich
Nach den Worten der Herausgeberin Christel Adick ist das Anliegen dieses Buches, eine „sozialgeschichtliche und interkulturelle Vergleichsperspektive“ zu Kinderarbeit und Straßenkindern zu erstellen. Oder mit anderen Worten: ein breites Panorama von Straßenkinderschicksalen zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Ländern zu bieten. Bereits an der Auswahl der Themen wird deutlich, daß der „Straßenkinderkontinent“ Lateinamerika zugunsten anderer Regionen, wie Rußland, Asien und Afrika eher unterbelichtet ist.
Was also kann der Leser von einer in wissenschaftliches Format gebrachten Straßenkinderlektüre außer theoretischen Definitionsversuchen und einigen Fakten erwarten? Eine Ursachentheorie, so Adick, jedenfalls nicht. Denn obwohl erwiesen ist, daß Armut die Hauptursache von Kinderarbeit ist, kann das Problem nicht allein strukturell erklärt werden. „Beziehungsarmut in einer kapitalistisch durchrationalisierten (Ersten) Welt“ kann Jugendliche ebenso auf die Straße treiben, wie sozialökonomische Zwänge Millionen von Kindern in Entwicklungsländern auf die Straße schicken. Auf eine tiefergreifende Analyse, welche Beziehung zwischen steigender Armut in der Bevölkerung und der Zunahme der Zahl der Straßenkinder besteht, wird aber verzichtet.
Weiter geht es darum, den “Forschungsgegenstand Straßenkind” klar zu definieren. Also muß eine Art akademische Schublade her, in die „echte Straßenkinder“ eingeordnet und wissenschaftlich untersucht werden können. Einerseits seien das jene, die von den „ jeweils gesellschaftlich herrschenden Normen abweichen“. Andererseits räumt Adick ein, daß „abweichendes Verhalten“ Straßenkindern ein negatives Etikett aufdrücke. Das Dilemma, eine Definition „des Straßenkindes“ zu erstellen, die ohne negative Etikettierung auskommt, bleibt ungelöst.
Für Leser, die sich mehr für Sachverhalte, als für sozialpädagogische Theorien interessieren, werden einige Artikel wenig Licht ins Dunkel des Straßenkinderlebens bringen. Andere, wie zum Beispiel Manfred Liebels Beitrag zur Straßenkinderbewegung in Lateinamerika oder die Manila-Studie von Stephan Kunz „Die Müllkinder von Smoky Mountain“, sind informativ und helfen auch dem soziologisch unbedarften Leser, Kinderarbeit nicht nur als Dritte-Welt-Makel, sondern als einen Bestandteil bestimmter familiärer und gesellschaftlicher Strukturen und Wertesysteme zu verstehen. Die Autoren gehen davon aus, daß auf der Straße lebende und arbeitende Kinder weder zu kriminalisieren noch zu bemitleiden, sondern als Personen anzusehen sind, die sich trotz ihrer benachteiligen Position mit Willen und Erfindungsreichtum durchs Leben schlagen, rationale Entscheidungen treffen und ihre Forderungen auch selbst zu artikulieren wissen.
Recht auf Arbeit
Anhand von Befragungsstudien, die mit über 1.500 Kindern in Nicaragua und El Salvador durchgeführt wurden, zeigt Liebel, daß es nicht die Arbeit an sich ist, die Straßenkinder belastend finden, sondern deren diskriminierender rechtloser und illegaler Charakter. „Wenn sie unsere Arbeit verbieten, handeln sie gegen unsere Rechte…Statt sie zu verbieten, sollte man uns helfen und Gesetze schaffen, die uns schützen und uns mehr Rechte während der Arbeit geben.“ Denn schließlich, so die Kinder, ist Geldverdienen notwendig, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Familie zu unterstützen. Liebels Beitrag wirft als einziger die Frage auf, wie Straßenkinder selbst ihre Position beurteilen und was sie und nicht Wissenschaftler oder Entwicklungsexperten daran erhaltens- oder abschaffenswert finden.
Ähnlich wie Liebel stellt auch Kunz‘ Artikel Kinderarbeit nicht als etwas Asoziales dar, sondern als legitimen und notwendigen Bestandteil der Familienökonomie. Traditionell trugen in den Philippinen Kinder immer mit ihrer Arbeit zur Prosperität der ärmeren Haushalte bei. Aufgrund der massiven Landflucht wandelten sich jedoch Art und Weise dieser Arbeit. Übernahmen Kinder früher auf dem Lande wichtige Funktionen in der Haus- und Feldarbeit, so begleiten sie heute ihre Eltern zum Müllsammeln auf Manilas größte Mülldeponie Smoky Mountain. Kinderarbeit, in diesem Fall das Müllsammeln, ist hier die Fortsetzung eines traditionellen Erziehungsmodells, in dem jungen Familienmitgliedern seit frühester Kindheit bestimmte Arbeiten übertragen werden. Die Arbeit der Kinder hat sich in der Stadt zwar in gefährliches und gesundheitsschädigendes Geldverdienen verwandelt, bildet aber trotz alledem einen wichtigen Bestandteil der Familienökonomie. Das wird auch von den Erwachsenen so gewürdigt. Kunz geht außerdem auf verschiedene Entwicklungsprojekte ein, die zum Ziel hatten, den Jugendlichen von Smoky Mountain neue Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, nachdem die Deponie eingeebnet wurde. Mit der Schließung hat sich die ökonomische Situation für die Hälfte der „Müllmenschen“ verschlechtert. Die meisten dieser Projekte scheiterten jedoch oder konnten die „Müllkinder“ nicht genügend integrieren. Kunz romantisiert Kinderarbeit nicht, sondern arbeitet ihre rationale Grundlage heraus: die Notwendigkeit in einer Gesellschaft, in der „alle Grundbedürfnisse in Waren verwandelt“ (Liebel) werden, Geld zu verdienen.
Da die Beiträge zu „Straßenkinder und Kinderarbeit“ in erster Linie für ein akademisches Publikum geschrieben wurden, ist das Buch für außerhalb der Wissenschaft stehende Interessierte eine eher anstrengende und zuweilen langweilige Lektüre. Wer sich jedoch über spektakuläre und abenteuerliche Straßenkinderepisoden hinaus mit dem Thema beschäftigen und auch über den derzeitigen Forschungsstand zur Problematik informieren möchte, demjenigen vermittelt das Buch durchaus neue und nachdenkenswerte Einblicke in das Leben auf der Straße, damals wie heute, in der Ersten wie in der Dritten Welt.
Christel Adick (Hrsg.): Straßenkinder und Kinderarbeit. Sozialisationstheoretische, historische und kulturvergleichende Studien, IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main 1997, 305 S.