Nicaragua | Nummer 549 - März 2020

FOTOS, DIE IM WIND SCHAUKELN

„Liebe und vergiss nicht” – ein Museum gegen das Vergessen

Das Museum der Erinnerung gegen die Straflosigkeit wurde im September 2019 auf Initiative der Müttervereinigung Asociación de Madres de Abril (AMA) am Institut für Geschichte der Zentralamerikanischen Universität von Nicaragua in Managua eröffnet. Bis zum 6. Dezember 2019 hatten Interessierte Gelegenheit, das in seiner Art einmalige Museum zu besuchen. Dies tat auch der Schriftsteller Sergio Ramírez, dessen Beitrag wir nachfolgend veröffentlichen.

Von Sergio Ramírez (Übersetzung: Lutz Kliche)

Gelebte Erinnerung Angehörige zeigen Fotos der 2018 von Paramilitärs ermordeten jungen Menschen (Foto: Jorge Mejía Peralta via flickr.com CC BY 2.0)

Die Fotos, die an Fäden von der Decke hängen, schaukeln leicht im Wind wie die Blätter eines Baumes, die der Wind bewegt. Es sind Fotos mit einem Foto. Manchmal einzelne Mütter, eine Großmutter, ein Ehepaar, ein Paar mit Kindern, so halten sie behutsam, liebevoll das Foto ihres ermordeten Toten. Es sind Jugendliche und junge Leute, die seit jenem furchtbaren April 2018 im Gewehrfeuer umgekommen sind und deren Erinnerung dieses einzigartige Museum wachzuhalten versucht. Insgesamt 212 Opfer erbarmungsloser Repression, nur von April bis Juni, der Auflistung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten zufolge, eine Zahl, die nach Informationen der Nicaraguanischen Vereinigung für Menschenrechte ANPDH bis Oktober bereits auf 514 angestiegen war.

Geteilter Schmerz

Das Museum der Erinnerung gegen die Straflosigkeit wurde von der Vereinigung der Aprilmütter (AMA) ins Leben gerufen, unter dem Motto „Ama y no olvida – Liebe und vergiss nicht“ und öffnete seine Türen Ende September vergangenen Jahres für einige Monate. Jetzt kann man es im Internet aufrufen und die Videos anschauen, in denen jede dieser Mütter vom kurzen Leben ihrer Kinder erzählt, und von deren schrecklichem gewaltsamen Tod. Sich selbst haben sie zu Museumsführerinnen gemacht. An dem Tag, als ich das Museum besuchte, begleitete mich dabei Doña Guillermina Zapata, die Mutter von Francisco Javier Reyes Zapata, 34 Jahre alt, Buchhalter und mobiler Kleiderverkäufer. Sein Vater war einfacher Polizist. Francisco Javier wurde am 30. Mai 2018, dem nicaraguanischen Muttertag, in der Nähe der Technischen Universität von der Kugel eines Scharfschützen in den Kopf getroffen, gegen Ende einer riesigen Demonstration, der größten, die Managua bis dahin gesehen hatte und die „die Mutter aller Demonstrationen“ genannt wurde. Doña Guillermina erzählt mir die Geschichte ihres Sohnes, spricht von seiner freundlichen Art, seinen Hobbies, seiner wunderbaren Art, Unterhaltungen zu führen. Sie erzählt von dem Tag, als man ihn umbrachte und an dem sie selbst auch an der Demonstration teilnahm. Wie das Schießen losging und von ihrer Ungewissheit, weil ihr Junge nicht an sein Handy ging, bis sie schließlich erfuhr, dass man ihn schwer verletzt ins Krankenhaus der Baptisten gebracht hatte, wo sie ihn schließlich fand. Doch die Geschichten der anderen Ermordeten gehören auch zu ihr, denn hier geht es ja darum, den geteilten Schmerz dieser Gruppe von Frauen zu zeigen, die gemeinsam das Andenken ihrer Kinder bewahren. Im Museum sind nicht nur ihre Fotos. Jede Familie hat irgendein Erinnerungsstück herbeigebracht, etwas, das zum Leben ihrer Kinder gehörte. Eine Sammlung alltäglicher Gegenwart. Ein paar Tennisschuhe, ein Sweatshirt, ein Abiturzeugnis, Schulrucksäcke, Sportpokale, in der Schule gewonnene Medaillen, ein Trikot des 1. FC Barcelona, eine Gitarre. Von einem, der gern Volkstanz aufführte, findet man den Strohhut und sein Kostüm, eine Brille liegt im offenen Futteral, ein Fußball voller Unterschriften, ein Skateboard. Auf einer Mauer aus Pflastersteinen, die an die Barrikaden erinnert, die damals errichtet worden waren, liegt die Ausgabe des Romans „Les misérables – Die Elenden“ von Victor Hugo, den Franco Valdivia, der am 20. April im Parque Central von Estelí ermordet wurde, nicht mehr zu Ende lesen konnte.

Und da ist die Messdienersoutane von Sandor Dolmus, der am 14. Juni in León ermordet wurde, kurz nachdem er 15 Jahre alt geworden war. Es ist dieselbe Soutane, die er auf dem goldgerahmten Foto trägt, das seine Mutter Ivania del Socorro Dolmus in Händen hält, nur dass er darauf über der scharlachroten Soutane noch das weiße Chorhemd und den vollständigen Ornat eines Messdieners der Kathedrale von León trägt. Und dieselbe auch, die er in seinem Sarg trägt, dessen Innendeckel mit fächerförmig gefalteter Seide bespannt ist und in dem er aussieht wie ein Kardinal, bis man näher kommt, wie es die Kamera tut und gewahr wird, dass da ein Kind an der Schwelle zur Jugend liegt. In den Händen hält er eine kleine religiöse Statue, von der man nur den unteren Teil sieht, auf seinem Bauch liegt ein Kruzifix. Über seiner rechten Schulter wird er von den blauweißen Falten der Fahne Nicaraguas eingerahmt und zu seinen Füßen breitet sich ein Strauß aus Lilien und weißen Rosen aus. Das braune Gesicht ein wenig zur linken Seite geneigt, die Lippen leicht geöffnet, so macht er mit seinem schwarzen Schopf den Eindruck, als schliefe er tief und fest, bis er bei Tagesanbruch am Hochaltar der Kathedrale dem Bischof bei der ersten Messe des Tages zur Hand gehen müsse. Doña Ivania, seine Mutter, sieht nicht älter aus als fünfunddreißig. Sie arbeitet als Hausangestellte. Mag sein, dass sie nicht älter war als zwanzig, als sie ihren Sohn zur Welt brachte, der Messdiener wurde und vielleicht Priester werden wollte. Ihren einzigen Sohn. Ihr rosafarbenes Kleid ist auf der Vorderseite leicht geblümt, um den Hals trägt sie eine Kette aus dunklen Steinen, an der so etwas wie ein Skapulier [Teil einer religiösen Ordenstracht, Anm. d. Red.] hängt. Ihr Blick, direkt auf die Kamera gerichtet, also auf uns, ist ruhig und fest: „Als sie ihn erschossen, war er mit meinem Neffen hinter einer Barrikade, ungefähr drei Blocks von hier. Jedes Mal, wenn er loszog, sagte er mir sehr ernst: Wenn ich nicht zurückkomme, dann bin ich mit dem Vaterland gegangen … Da sahen sie, wie die Paramilitärs kamen. ‚Lass uns abhauen, Sandor!‘ rief mein Neffe. Aber da hatten sie ihn schon getroffen. Man hat ihn ins Hospital gebracht … und nach ungefähr einer halben Stunde kam der Arzt heraus und sagte mir, er sei gestorben, die Kugel habe seine Lunge durchschlagen und sein Herz getroffen .

„Eine Mutter kann sich heiser schreien, wenn sie nach Gerechtigkeit schreit, auch wenn ich weiß, dass ich ihn damit nicht wieder lebendig machen kann.“ Diese Frau, heiser von so viel Schreien, sie liebt und sie vergisst nicht, genau wie die anderen auch.

Sergio Ramírez Mercado ist nicaraguanischer Schriftsteller und Journalist. Während der Sandinistischen Revolution war er von 1984 bis 1990 Vizepräsident der Republik Nicaragua.


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