Film | Mexiko | Nummer 576 - Juni 2022

FRAUEN IM NARCOLAND

Noche de fuego vermittelt hautnah, was Leben im Gebiet der Drogenkartelle bedeutet

Von Martin Schäfer

„Weißt du, warum ich dich verstecke?“, fragt Rita ihre Tochter Ana in einer Szene von Noche de fuego, „Weißt du, was sie mit den Mädchen machen?“ Keine von beiden gibt eine Antwort, aber in dem kleinen Dorf in den mexikanischen Bergen wissen es alle: Das Drogenkartell, das den Mohnanbau in der Gegend kontrolliert, hat schon mehrere Mädchen verschleppt. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie kommen werden, um auch Ana abzuholen.

Tatiana Huezos erster Spielfilm, der auf dem Roman Ladydi von Jennifer Clement basiert, begleitet Ana und ihre besten Freundinnen María und Paula zwischen Kindheit und Jugend in einer Umgebung, die von Schutzlosigkeit geprägt ist: Wenn die Narcos in ihren schwarzen Pick-Ups wieder einmal angefahren kommen, geht die Angst um. Wer sich ihnen widersetzt, muss mit dem Schlimmsten rechnen und kann nicht auf die Hilfe von Polizei oder Militär hoffen, denn die stecken mit den Kriminellen unter einer Decke. Anstatt die Bewohner*innen zu schützen und den Drogenanbau zu bekämpfen, versprühen sie überall Pflanzengift, nur nicht auf den Mohnfeldern.

Das Verstecken von Weiblichkeit wird zum einzigen Schutz

Perspektiven gibt es kaum in dem armen Dorf: Viele Männer sind weggegangen, um anderswo Geld zu verdienen, ihre Söhne gehen schon in jungen Jahren in der lokalen Mine schuften oder steigen bei den Narcos ein. Wenn Lehrer*innen oder Ärzt*innen zur Arbeit ins Dorf geschickt werden, halten sie die Drohungen nicht lange aus, weshalb die Kinder auf Operationen warten müssen und mit der Schule kaum vorwärts kommen. Nur die Friseurin des Orts kann weiter arbeiten, da sie Schutzgeld bezahlt – die Mütter bringen ihr ihre Mädchen, damit sie ihnen die Haare kurz schneidet. Rita schimpft mit Ana, wenn sie sich schminkt, und lässt sie nur ungern auf die Straße. Hinter ihrem Haus gibt es eine getarnte Grube, in die Ana kriecht, wenn die schwarzen Pick-Ups nahen. Kurzum: Das Verstecken von Weiblichkeit ist der einzige Schutz, wenn der Staat versagt. Noche de fuego handelt davon, wie die Gewaltherrschaft der Kartelle über die Körper von Frauen bestimmt. Tatiana Huezo hat zuvor ausschließlich Dokumentarfilme gedreht, was man ihrem neuen Werk positiv anmerkt: ohne jegliche Verwendung von Klischees und ohne dabei allzu viel von der in der Luft liegenden Gewalt zu zeigen, beobachtet sie das Dorf und das Leben seiner Bewohner*innen, vor allem der Frauen, sehr genau. Es gibt in deren Alltag auch Lichtblicke und schöne Momente: die Menschen helfen sich gegenseitig und solidarisieren sich auch über Dörfer hinweg. Ana, María und Paula lieben es zu spielen, sie lassen sich gegenseitig Farben, Zahlen oder Tiere erraten. Sie sitzen zusammen im Wald, sie baden gemeinsam im Fluß und halten sich dabei an den Händen, sie genießen die Natur, umarmen sich. Dieser Zusammenhalt, diese heile Welt im Kleinen ist der Funken Hoffnung inmitten eines Meers der Trostlosigkeit. Folgerichtig fragt Ana einmal ihre beiden Freundinnen, was wohl passieren würde, wenn eine von ihnen plötzlich weg wäre. Es ist eine Frage, die sich in Mexiko heute leider allzu viele Frauen stellen müssen.

Noche de fuego // Tatiana Huezo // Mexiko 2021 // Spanisch // 110 Minuten // auf Netflix

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren