„Freiheit ist das Wichtigste in meinem Leben!“
Die Gründerin der brasilianischen Prostituiertenbewegung, Gabriela Leite, verstarb im Oktober in Rio de Janeiro
Bereits Ende der sechziger Jahre nahm die damalige Soziologiestudentin der Universität São Paulo sich die Freiheit, das Studium abzubrechen und in der Boca do Lixo der Prostitution nachzugehen: „Die Bewegung der contracultura war prägend für meinen politischen Werdegang.“ Die Erfahrungen der Rebellion gegen traditionelle Werte und für eine soziale Revolution setzte sie bereits 1979 in die Praxis um. Zu Zeiten der Militärdiktatur organisierte sie die erste Prostituiertendemonstration gegen die Polizeirepression in São Paulo, nachdem drei Kolleg_innen gefoltert und umgebracht wurden. Der erste politische Erfolg war die Absetzung des verantwortlichen Polizeikommissars und die Einstellung der „Säuberungsaktionen“.
Ihre weiteren Wege führten sie über Belo Horizonte 1982 nach Rio de Janeiro, wo sie eigentlich nur ein paar Tage bleiben wollte. Dem Charme Rios erlegen, blieb sie und wurde zur echten carioca (Einwohnerin Rio de Janeiros), die den Samba frequentierte und Dichter wie Manuel Bandeira verehrte. Letzterer beschrieb das traditionelle Rotlichtviertel Mangue, wo sie in einer der Straßen, die die Stadtumstrukturierung überdauert hatte, anfing zu arbeiten.
1987 organisierte sie den ersten Prostituiertenkongress Brasiliens in Rio de Janeiro unter dem Motto „As rosas já falam“ („Die Rosen sprechen bereits“) in Anspielung auf das Lied des Sambakomponisten Cartola. Für sie war es wichtig, dass Prostituierte für sich sprechen und als Protagonist_innen ihrer Angelegenheiten in Gesellschaft und Politik wahrgenommen werden. „Freiheit ist das wichtigste in meinem Leben!“, sagte sie immer wieder. Dies war auch der Beginn der brasilianischen Prostituiertenbewegung, die heute in vielen Städten Brasiliens vertreten ist. Im Jahr darauf rief sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten, dem Journalisten Flavio Lenz, die Zeitung Beijo da Rua („Kuss der Straße“) ins Leben, wo die anschaffenden Frauen selbst zu Wort kommen. Ihre Kolumne nutzte sie stets, um über ihre politischen Gedanken zu philosophieren: „Wenn die Prostituierte wie jede andere Arbeiterin zu etwas Alltäglichem in der Gesellschaft wird, werden wir über Sexualität, Lust, Liebe, Glück, diese uns so wichtigen Dinge, besser nachdenken können.“
Um unabhängig von anderen Nichtregierungsoganisationen zu sein, gründete sie 1992 die Organisation Davida, die für die Rechte von Prostituierten eintritt. Als eine der Pionier_innen der Aidsbewegung machte sie sich immer dafür stark, die Krankheit im Kontext von Stigma und Vorurteilen zu sehen. „Heute werden wir als Gruppe, die „vulnerabel“ ist, bezeichnet“, argumentierte sie bei einem Treffen der Vereinten Nationen gegen diskriminierende Begrifflichkeiten. „Nach meinem Verständnis hat dies die gleiche Bedeutung wie Risikogruppe.“ Der Name habe sich geändert, aber das alte Vorurteil bleibe das gleiche. „Wenn wir als Risikogruppe bezeichnet werden, bedeutet dies, dass die anderen nicht für die Übertragung des Virus verantwortlich sind.“
Die Anerkennung der Prostitution als Arbeit war eines ihrer wichtigsten Anliegen. Ihr stetes Engagement in Brasilien führte 2002 dazu, Prostitution in den Brasilianischen Tätigkeitenkatalog (CBO) des Arbeitsministeriums aufzunehmen. Auch mit der Position, Prostitution als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu verteidigen, war sie vielen ihrer Zeit oft voraus. „Über Prostitution nur im Zusammenhang mit Armut zu reden, bedeutet, die Sexualität außer acht zu lassen“, setzte sie den moralisch geprägten Debatten entgegen. „Auf diese Weise versuchen wir zu zeigen, daß Prostituierte keine Vagabundinnen sind oder ein Ergebnis des „wilden“ Kapitalismus, sondern ein Teil einer Gesellschaft, die vor Angst stirbt, wenn sie ihrer Sexualität gegenübertritt, und sich bedroht fühlt, wenn eine Prostituierte ihr Gesicht zeigt.“ Durch ihre klare Haltung prägte sie auch die internationale Sexarbeiter_innenbewegung, wo sie als Vorstandsmitglied des Netzwerks für Sexarbeit-Projekte (NSWP) eine entscheidende Rolle in Diskussionen mit UN-Organen einnahm. Während sich seit Ende der neunziger Jahre in vielen Ländern der Begriff der Sexarbeiterin durchsetzte, war Gabriela hingegen die Bezeichnung Prostituierte wichtig: „Ich benutze den Begriff Prostituierte als Politikum im Kampf gegen das Stigma“. Am liebsten war ihr aber das Wort Hure, das am besten die Nähe zur Boheme und Kunst charakterisierte: „Daher halte ich die Kunst, die über Prostituierte spricht, für sehr wichtig, da sie den Fantasien der Gesellschaft Raum bietet. Sie hilft, Prostituierte aus dem Ghetto zu holen und in die brasilianische Realität zu stellen.“
So waren auch die Kneipen ihr zweites Zuhause, wo sie ihre Treffen abhielt, Interviews gab, Projekte plante, neue Ideen hatte und vor allem mit unzähligen Menschen über Prostitution diskutierte und stritt. Viele haben später diese Gespräche als Lebenslektionen definiert. In ihrer Radikalität konnte sie provozieren und stieß so manchen vor den Kopf. Gleichzeitig schaffte sie es dadurch, die Menschen zum Nachdenken zu bewegen und die eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Als Ausgleich tankte sie zu Hause mit ihrer großen Leidenschaft des Kochens im Kreise der Freund_innen ihre Energien wieder auf.
Ihr wohl genialster Streich war die Gründung des Modelabels Daspu („das putas“ – „von den Huren“) im Jahre 2005, um für die Projekte von Davida Gelder zu akquirieren. Die Idee war, damit Projekte für die Rechte der Prostituierten umzusetzen, die normalerweise bei internationalen Geldgebern keinen Anklang fanden. Auf den T-Shirts sind ironische und doppeldeutige Sprüche über Rechte, Freiheit und Sexualität gedruckt, die von den Prostituierten selbst angeregt wurden: „Wir sind böse, wir können noch böser sein“, „Die guten Mädchen kommen in den Himmel, die schlechten gehen überall hin“, „Mode zum Umdenken“. Für Gabriela war es immer ein bewegendes Ereignis, wenn die Kolleg_innen über sich selbst hinauswuchsen, sobald sie als Models den Laufsteg betraten. Wenn sie am Ende unter Applaus auf die Bühne stieg, war sie stets vor Glück zu Tränen gerührt: „Wenn meine Kolleginnen, die Huren, als Models auftreten, ohne sich zu schämen, Hure zu sein, reden sie von sich selbst und sind politisch und revolutionär.“
Die zahlreichen Facetten ihres Lebens hat sie unter dem Titel Tochter, Mutter, Großmutter und Hure beschrieben, das 2009 als Buch erschien und im folgenden Jahr als Theaterstück adaptiert wurde. Darüber hinaus plant der Regisseur Caco Souza die Verfilmung ihres Buches. Auch durch den Gesetzentwurf des linken PSOL-Abgeordneten Jean Wyllys zur Regulierung der Prostitution wird sie uns in Erinnerung bleiben. Er reichte im Juni 2012 den Entwurf mit ihrem Namen als Anerkennung ihres Engagements im Parlament ein.
Nun kann sie von dem Friedhof Catumbi auf die ehemalige Vila Mimosa – die Bordellgasse, wo sie in Rio de Janeiro gearbeitet hat, blicken. Ob sie dort die Ruhe von den vielen Kämpfen, die sie Zeit ihres Lebens geführt hat, gefunden hat, weiß ich nicht. Aber ich kann mir bestens vorstellen, dass sie, wo immer sie jetzt weilt, auch dort mit aller Leidenschaft weiter gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit kämpfen wird. Viel Power dabei, Gabi!