Nummer 308 - Februar 2000 | Sachbuch

Freiwillige und erzwungene Flucht

Das 23. Jahrbuch Lateinamerika beleuchtet Ausschnitte der neueren Forschungsansätze über Migrationen in, nach und von Lateinamerika – leider ohne eine historisch umfassendere Betrachtung zu liefern

Lateinamerikas Geschichte ist eine Geschichte der Wanderbewegungen. Der Kontinent hat – auch ohne die vorkolonialen Wanderungen mit einzubeziehen – eine ‘bewegte’ Vergangenheit: Angefangen mit der Eroberung des ‘neuen Kolonialreiches’ und der damit verbundenen Verschleppung von Sklaven und der Anwerbung von Zuwanderern, denen zwischen 1850 und 1930 europäische Auswanderer folgten. Im letzten Jahrhundert schließen sich daran die Flüchtlinge des deutschen Faschismus an, sowie jene, die flüchteten, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen. In Lateinamerika selbst wandert die ländliche Bevölkerung auf der Suche nach Arbeit zunehmend in die Städte. Heute trifft man schließlich auf sogenannte ‘transnationale’ Gesellschaften, die ihre familiären Strukturen, ihre gemeinschaftlichen Normen und Werte in kontinentalen oder transozeanischen „Migrationssystemen“ ausbilden.

Laurissa Mühlich

Diese transnationalen Gesellschaftsstrukturen sind überwiegend Gegenstand des 23. Jahrbuches Lateinamerika – Analysen und Berichte. Wie viele der Beiträge zeigen, gibt es „zwei Tendenzen in der Migrationsforschung der letzten Jahre (…) Diese Tendenzen sind erstens die Hintergründe von Migration und zweitens der geänderte Blick auf die MigrantInnen und Migranten als handelnde Personen.“ Beispielsweise werden zunehmend sogenannte „Zielfaktoren“, wie nicht abgesicherte Niedriglohnarbeit in Industrieländern, diskutiert.

Mobile Lebensführung

Ninna Nyberg Sorensen lenkt den Blick auf die Situation migrierender Individuen. Sie greift den Begriff des ‘Transnationalen’ auf und stellt die Verbindungen, die MigrantInnen aus der Dominikanischen Republik zwischen ihrem Herkunftsland und den Aufnahmeländern USA und Spanien herstellen, in den Vordergrund. Anhand von Berichten aus Migrationsfamilien, die einen ersten anschaulichen Einblick in die Problemstellung liefern, zeigt die Autorin, daß es nicht einfach um Menschen geht, die sich in transnationalen Räumen über nationale Grenzen hinweg bewegen. Entscheidend für die Untersuchung der Migration seien vielmehr soziale, ethnische, geschlechtliche und nationale Ungleichgewichte, die auf das transnationale Leben wirken. Denn diese bestimmen die Ausgangsbedingung der Migration, die wiederum zu unterschiedlichen Lebensbedingungen und Erfahrungen im Aufnahmeland führen: „Schließlich sollten wir uns fragen, wie groß die Gemeinsamkeiten der Erfahrungen zwischen Hausangestellten, die im Haushalt ihrer Arbeitgeber leben und von deren gutem Willen stark abhängig sind, und männlichen Geschäftsinhabern oder deren Angestellten in einer ethnischen Geschäftsenklave tatsächlich sind.“
Die Idee der ‘transnationalen sozialen Räume’ greift auch Ludger Pries im zweiten Beitrag über die Arbeitsmigration von der im Südosten Mexikos gelegen mixteca-Region nach New York auf. Er trifft bei der Untersuchung der Arbeitswanderung nicht mehr auf klassische EmigrantInnen, sondern auf sogenannte TransmigrantInnen. Diese PendelwanderarbeitnehmerInnen – Mitte der neunziger Jahre etwa 250.000 – suchen für bestimmte Perioden in den USA Beschäftigung, kehren in ihre Heimatorte zurück, arbeiten hier wieder einige Zeit und migrieren erneut. Sie sind in den USA – wie aus Kalifornien bekannt – auch nicht im Agrarbereich, sondern im sekundären und tertiären Sektor oder im Migrationsnetzwerk selbst tätig. TransmigrantInnen versorgen mit Geldüberweisungen bisweilen ganze Dörfer in der mixteca. Die Entwicklung transnationaler sozialer Räume , in denen ein alltägliches Leben an mehreren Orten zugleich stattfindet, schafft also auf Dauer eigene soziale Strukturen und addiert die betroffenen Lebensräume nicht mehr, sondern verbindet sie, so Pries.
Thomas Winschuh richtet den Blick auf die andere Seite transnationaler Arbeitsmigration, auf die Zielländer, die für die meisten MigrantInnen doch immer noch das ‘gelobte Land’ darstellen. Er untersucht dort die Nachfrage nach einwandernden Arbeitskräften im Kontext eines „in die Zentren drängenden Arbeitskräfteüberschusses“. Außer der Tatsache, daß zunehmend KurzzeitarbeiterInnen gefragt werden, stellt Winschuh vor allem fest, daß neben dem Berufsfeld der ausgebildeten Spezialisten die Dienstleistungssparte am anderen Ende der Qualifikationsleiter die Berufskategorie mit dem zweitgrößten Jobwachstum ist. US-amerikanische Arbeitsmarktforscher, die zunehmend auf die Konkurrenz zwischen der einheimischen untersten Lohngruppe und den Zuwanderern verweisen, stellt der Autor eine statistisch erwiesene zukünftige Verknappung des US-amerikanischen Arbeitskräftepotentials bis ins Jahr 2006 entgegen. „Eine umfassende Restriktion der Zuwanderung, die, wie der heute schon hohe Anteil an irregulärer Zuwanderung demonstriert, gar nicht durchsetzbar wäre, würde die sich sowieso schon abzeichnende Arbeitskräftelücke nur noch vergrößern.“ Durch eine zunehmende Illegalisierung werden letztlich nur die Interessen derer vertreten, die von der breiten Verfügbarkeit billiger und entrechteter Arbeitskraft profitieren, so Winschuh. Die restriktive einwanderungspolitische Gesetzgebung und Militarisierung der Grenze spiegelt die durch Kürzungen der sozialen Sicherungssysteme angeheizten, massiven Ressentiments der Bevölkerung in den südlichen Bundesstaaten der USA gegen die Einwanderer wieder.

Geldüberweisungen nach Kuba

Auf das zuvor bereits erwähnte Phänomen der Geldüberweisungen im Zusammenhang mit EmigrantInnen aus Kuba geht der kubanische Ökonom Pedro Monreal konkreter ein. Er geht von der „eher vorsichtigen“ Schätzung von etwa 500 Millionen US-Dollar an Überweisungen aus, was etwa 27 Prozent der gesamten kubanischen Exporteinnahmen im Jahre 1996 entspricht. Über die Bedeutung dieser beachtlichen Devisenzufuhr für die Zahlungsbilanz hinaus, wirft der Autor Fragen nach den Ursachen für die Überweisungen der Emigrierten an Familienangehörige in Kuba auf. Er stellt fest, daß sie Ausdruck vielschichtiger familiärer Sicherungssysteme sind: „Dabei wird Migration als Familienstrategie verstanden, bei der die Familie als kollektive Einheit agiert und eine Nutzenmaximierung über die Zeit anstrebt“. Dies zeigt sich beispielsweise in der Verwendung der Überweisungen für die Ausbildung der heranwachsenden Generation, der damit wiederum die Emigration ins Ausland ermöglicht werden soll. Monreal apelliert schließlich an den Staat, aus dem Unvermeidlichen das Beste zu machen und das Potential der Auslandsüberweisungen über eine veränderte Migrations- und Wirtschaftspolitik zu nutzen.
Elke Schäfter und Susanne Schultz skizzieren einen möglichen Arbeitsmarkt für MigrantInnen im Ausland, nämlich das Leben von Latinas in Berlin, die als Dienstmädchen in Privathaushalten arbeiten. In dieser Arbeitssituation befinden sich etwa zwei Drittel aller emigrierten Lateinamerikanerinnen. Innerhalb der Diskussion um transnationale gesellschaftliche Netzwerke ist es auch ein Novum, daß „Frauen zunehmend als selbständige Akteurinnen in der Migration erscheinen“. Die europäische Nachfrage nach privaten Dienstleistungen im Haushalt ist steigend. Allerdings ist die Situation, in der die Latinas in Europa als informelle oder geringfügig Beschäftigte leben, sehr ambivalent. Man vermutet, so die Autorinnen, daß weniger als ein Drittel der in Berlin lebenden lateinamerikanischen MigrantInnen ,legale’ MigrantInnen sind. Der Zustand der Rechtlosigkeit überschattet also das Leben der ‘Dienstmädchen’. Oftmals werden sie schlecht oder gar nicht bezahlt, sind sexueller Belästigung ausgesetzt und sind mit extremen Flexibilitätsanforderungen in ihrer Arbeit konfrontiert. Andererseits bietet die Arbeit in privaten Haushalten jedoch auch einen weitaus größeren Schutz als die Arbeit im Gaststättengewerbe u.a. Dazu kommt außer der Belastung, der Familie im Herkunftsland finanziell helfen zu wollen, aber in Europa selbst kaum überleben zu können.

Gewalt und Vertreibung

Die kolumbianische Soziologin Nora Segura Escobar geht auf das komplexe Geflecht der verschiedenen Gewalttypen Kolumbiens ein, welches seit 1985 etwa eine Million Vertriebene innerhalb Kolumbiens zur Folge hat. Da heute endlich von ‘Vertriebenen’ – im Unterschied zu MigrantInnen durch Naturkatastrophen – gesprochen wird und damit die Zwangslage der vielen Flüchtlinge Beachtung findet, führt die Autorin auf ein gewachsenes soziales Bewußtsein in Kolumbien zurück. Dem stellt sie gegenüber, daß für eine wirkliche Be- und Verarbeitung der sozialen und Interessen-Konflikte die politische Umsetzung fehlt. Dies zeigt sich in der bewußten Behinderung systematischer Bestandsaufnahmen über die Situation der Vertriebenen. Sie leben, insbesondere seit der Zunahme der Konfliktregionen und ‘Fronten’ Anfang der 80er Jahre in einem Klima der Angst und Unsicherheit und in willkürlichen Freund-Feind-Verhältnissen. „[Die Verschärfung des Krieges] führte natürlich zu einem wachsenden Ungleichgewicht zwischen den bewaffneten Gruppen und der unbewaffneten Bevölkerung, was sich in den gewaltsamen Vertreibungen niederschlägt.“ Escobar analysiert die Situation der Vertriebenen in einem Drei-Phasen-Modell, daß die Lage der Flüchtlinge vor, während und nach der Vertreibung anhand verschiedener Faktoren wie beispielsweise der sozialen Herkunft der Vertriebenen, Geschlechterrollen, Beschäftigungssituation und Alter untersucht. Sie stellt unter anderem fest, daß allgemeines Mißtrauen soziale Beziehungen zerstört, „kollektive Organisationsprozesse“ und „Integrationsrituale“ verloren gehen und traditionelle familiäre Bezüge sich auflösen. Nach außen und vor allem in den Städten zeigen sich die Auswirkungen der Vertreibung in der Ausweitung des informellen Sektors und wachsenden Stadtrandsiedlungen, wo mit den Flüchtlingen „paradoxerweise“ Unsicherheit und Verbrechen verbunden wird.

Wissenschaftsmigration

Ruth Stanley beschäftigt sich mit dem Versuch Argentiniens und Brasiliens, durch WissenschaftlerInnentransfers aus Deutschland nach 1945 an die Spitze internationaler militärischer Technologieentwicklungen zu gelangen. Dabei vergleicht sie die konfliktbesetzte Beziehung zwischen Argentinien und den USA mit dem engeren Verhältnis Brasiliens zu den USA, was sich in Unterschieden des Anwerbens deutscher Fachkräfte bemerkbar machte. Außerdem beschreibt Stanley die Versuche der WissenschaftsmigrantInnen, durch die Auswanderung in ihrem Tätigkeitsfeld als militärische Forscher weiterhin tätig zu sein.
Insgesamt wäre eine historisch reichere Zusammenstellung der Beiträge wünschenswert gewesen. Zu Beginn lassen die HerausgeberInnen den Anspruch auf geschichtliche Einordnung auch anklingen, die Text-Zusammenstellung spiegelt das jedoch nicht wider. Dennoch ist dieser Band dem von den HerausgeberInnen eingangs formulierten Anspruch, den Fragen der aktuellen Diskussion um Migrationen nachzugehen, durchaus gerecht geworden. Keiner der einzelnen Beiträge bearbeitet wirklich alle drei gesellschaftlichen Dimensionen des Kulturellen, Politischen und Ökonomischen umfassend – und insofern handelt es sich bei den einzelnen hier zusammengefaßten Analysen um wenig herausfordernde Diskussionsbeiträge – dennoch liefern sie in einer Gesamtschau eine gelungene Ausbreitung des Themas.
So sei das Buch auf jeden Fall empfohlen, da es – zusammen mit den informativen Länderberichten – einen lesenswerten Ein- und Überblick über das Thema gibt.

Karin Gabbert u.a (Hg.), Migrationen / Lateinamerika / Analysen und Berichte, Horlemann-Verlag, Bad Honnef 1999, 223 Seiten.

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