El Salvador | Nummer 331 - Januar 2002

Frieden aber kein Fortschritt

Landfrage und Agrarpolitik im Friedensprozess – Eine Bilanz

Die ungelöste Landfrage war eine der grundlegenden Ursachen des Bürgerkrieges in El Salvador. Als vor zehn Jahren der Frieden endlich unterschrieben wurde, waren die Erwartungen hoch. Gerade bei der ländlichen Bevölkerung, den landlosen und landarmen Bäuerinnen und Bauern, erwachte die Hoffnung auf ein Stück Land, von dem sie sich ernähren und auf dem sie ihre Zukunft aufbauen könnten.

Martin Wolpold-Bosien

Der Agrarteil des zehn Jahre zurückliegenden Friedensabkommens in El Salvador war so gestrickt, dass sich zumindest für einige der Traum von der eigenen Krume erfüllen sollte. Ende 1992 wurde auf Vorschlag des damaligen UN-Generalsekreträrs ein Landtransferprogramm (PTT) vereinbart, in dessen Rahmen 47.500 ehemalige KämpferInnen der Guerilla, Soldaten, Bäuerinnen und Bauern in den ehemaligen Kriegsgebieten zu insgesamt 166.000 Hektar Land kommen sollten. Das würde zwar nicht für alle Armen reichen. Doch sei dies ein guter Anfang, hieß es damals auch aus den Kreisen der ehemaligen Befreiungsbewegung. Nach offiziellen Angaben wurde die Zahl der Landlosen 1992 auf 200.000 Familien geschätzt, weitere 97.000 Bauernfamilien galten mit weniger als einer Manzana (0,7 Hektar) als landarm. Außerdem wurde im Friedensabkommen ein Verfassungsartikel bestätigt, nach dem niemand in El Salvador mehr als 245 Hektar landwirtschaftlich nutzbares Land besitzen darf. Was darüber hinausgeht, das so genannte Überschussland, sollte nach den Gesetzen der Agrarreform enteignet und an Landlose übertragen werden. Auch für die Rücksiedlungen der Flüchtlinge sowie für eine weitere Landbesetzungswelle im Jahre 1990 sollten Sicherheiten für ihren neuen Besitz geschaffen werden. Schließlich stand im Friedensvertrag, dass die Regierung erstmals ein Agrargesetzbuch erarbeiten würde, in dessen Rahmen die Rechte der Bäuerinnen und Bauern, ihr Zugang zu Grund und Boden sowie die Sicherung ihrer Landrechte geregelt würden.

Realität nach zehn Jahren
Die Bilanz dieser Vereinbarungen liest sich nach zehn Jahren wie folgt: Über das Landtransferprogramm PTT kamen insgesamt 35.000 Begünstigte zu insgesamt 90.000 Hektar Land. Rein quantitativ betrachtet wurde die Zahl der Begünstigten um etwa ein Viertel, die Größe der übertragenen Fläche um über 40 Prozent gestutzt. Charakteristisch für das Programm war weiterhin, dass pro Familie nur sehr kleine Flächen gekauft werden konnten (im Durchschnitt knapp 2,6 Hektar) und der Boden von meist schlechter Qualität war. Das wesentliche Manko des PTT bestand jedoch darin, dass dabei lediglich das Stück Land übergeben wurde, ohne weitere Beratungs- und Begleitmaßnahmen damit zu verbinden. Als die Bäuerinnen und Bauern nach fünf Jahren beginnen sollten, den Landkaufkredit zurückzuzahlen, war die Unmöglichkeit dieses Unterfangens derart offensichtlich, dass die USAID und die Europäische Union ohne Zögern ihre Kredite für den PTT in Schenkungen verwandelten. Der PTT wurde inzwischen von vielen BeobachterInnen des Prozesses als gelungenes Pazifizierungsprogramm bewertet, das jedoch die Dimension der ländlichen Entwicklung nicht in Betracht zog. Für viele der Begünstigten war es ein Anreiz, die Waffen abzugeben, aber kein Weg aus der Armut.
Die Auseinandersetzungen um das Überschussland zogen sich über fast zehn Jahre hin. Erst nach vielen Impulsen nationalen und internationalen Drucks wurde 1999 mit den Enteignungen begonnen. Bis Ende Juni 2001 wurden über 7.800 Hektar meist guten Bodens an 4.200 Bäuerinnen und Bauern übertragen. Ein bescheidener, aber politisch nicht unwesentlicher Erfolg. Denn hierbei handelt es sich um verfassungsrechtlich geregelte Enteignungen auf Entschädigungsbasis. Der PTT stand im Gegensatz dazu unter den Gesetzen und dem neuen Paradigma des Bodenmarktes: die Landbank kaufte das Land auf der Basis der Freiwilligkeit von Großgrundbesitzern, oft zu überhöhten Preisen, um es anschließend den Begünstigten des PTT weiter zu verkaufen.
Die Vereinbarung über die Sicherung der Landrechte der RücksiedlerInnen und der LandbesetzerInnen von 1990 wurden nur teilweise umgesetzt. Noch immer ist in einigen der ehemaligen Flüchtlingsdörfer die Besitzfrage nicht geklärt. Bis heute gibt es kein Agrargesetzbuch, obwohl von zivilgesellschaftlicher Seite zwei Vorschläge vorgelegt wurden. Einen „Agrarkodex mit Gender-Perspektive präsentierte das Fraueninstitut IMU in Zusammenarbeit mit dem Rechtsinstitut FESPAD. Dieser Vorschlag basiert auf einer ausführlichen Analyse der vielfältigen Diskriminierungen, denen Bäuerinnen und andere Landfrauen hinsichtlich der Landrechte ausgesetzt sind. Zwar hat dieser Entwurf derzeit keine reelle Chance, im Parlament in Gesetzesform überführt zu werden. Doch das Potenzial, über dieses auch bei den Bauernorganisationen kontroverse Thema eine breite Debatte anzustoßen, steckt in diesem Vorschlag ganz gewiss.
Die erzielten Fortschritte des Friedensabkommens sind, so ließe sich zusammenfassen, im Blick auf die Größe und Komplexität der Landfrage sehr beschränkt. Noch ernüchternder wird das Bild, wenn weitere Prozesse der 90er Jahre mit in Betracht gezogen werden. Zunächst wurden Anfang der 90er Jahre mehrere Parzellierungsgesetze erlassen, die zu einer Privatisierung der Agrarreformgenossenschaften führen sollten und tatsächlich dazu einen Anreiz gegeben haben. Im Rahmen der ersten Phase der Agrarrefom von 1980 waren insgesamt 317 große Kooperativen auf dem enteigneten Land gegründet worden. Zwar liegen bislang weder von Regierungs- noch von Kooperativenseite genaue Zahlen über Verkäufe von Agrarreformland vor. Dennoch scheinen Schätzungen realistisch, nach denen es zumindest bei der Hälfte der Kooperativen nach den ersten Parzellierungsschritten zu Landverkäufen gekommen ist.
Die Hauptströmung der Landpolitik der 90er Jahre ging dahin, die Agrarreform durch den freien Bodenmarkt abzulösen, wie dies auch in anderen Ländern Lateinamerikas der Fall war. Für die große Mehrheit der Landlosen und Landarmen bietet das Modell keinen Ausweg aus der Armut. In El Salvador sind weniger als ein Viertel der Landlosen über die Friedensverträge zu Land gekommen. Die Situation der Landarmen hat sich dadurch gar nicht verändert. Viele der Begünstigten kommen über die Subsistenzlandwirtschaft nicht hinaus. Eine Agrarpolitik, die die bäuerliche Landwirtschaft als Basis einer ländlichen Entwicklungsstrategie verstehen und fördern würde, ist in El Salvador nicht in Sicht.
Leider bietet auch die Existenz als LandarbeiterIn keine Perspektive. Nach Angaben des „UN-Berichts über menschliche Entwicklung in El Salvador 2001“ sind die landwirtschaftlichen Reallöhne in den 90er Jahren um fünf Prozent gesunken. Selbst nach offiziellen Angaben reicht ein aktueller landwirtschaftlicher Mindestlohn (2,75 US-Dollar pro Tag) nicht einmal für den Nahrungsbedarf einer Familie aus, von den anderen Grundbedürfnissen ganz zu schweigen.

Ein Blick auf die politischen Akteure
Die drei ARENA-Regierungen seit Friedensschluss hatten und haben weder ein Interesse noch eine Strategie zur ländlichen Entwicklung. Diese Haltung führte im Falle der Auseinandersetzungen um den Erlass der Agrarschulden zu der paradoxen Situation, dass die Kleinbauern- und Kooperativenbewegung zusammen mit Großgrundbesitzern gegen ARENA Druck machten und schließlich ihre Forderungen zu einem guten Teil durchsetzen konnten. Es sind nicht nur die organisierten Kleinbauern, die sich von ARENA im Stich gelassen sehen. Der ganze Agrarsektor hört nicht auf zu klagen, dass die Regierung ihr Heil lediglich in den Bereichen Dienstleistungen, Finanzwirtschaft und Maquilas sieht. Zwar hat die jüngste Kaffeekrise und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen bei den Regierungsfunktionären zu einer gewissen Sensibilisierung dafür geführt, dass sie auch ein Auge auf die Landwirtschaft richten müssen. Letztlich hat die Krise ARENA aber in ihrer Grundüberzeugung bestätigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung El Salvadors nicht notwendigerweise auf der landwirtschaftlichen aufbauen muss, sondern im Gegenteil von dieser abgekoppelt werden kann.
Auch die ehemalige Befreiungsbewegung und heute stärkste Oppositionspartei FMLN hatte sich in den ersten Jahren nach dem Friedensschluss eher mit sich selbst als mit dem Agrarproblem befasst. Insgesamt lässt sich beobachten, dass bis heute die ländliche Entwicklung auch von dieser Partei nicht als Schwerpunkt ihrer parlamentarischen Tätigkeit verstanden wird. Dennoch wird die FMLN-Fraktion heute von den meisten Bauernorganisationen mit linker Tradition als strategische Partnerin innerhalb des gesetzgebenden Prozesses gesehen und genutzt. Diese Art der horizontalen Zusammenarbeit einer bäuerlichen Interessenvertretung mit einer für ihre Anliegen offenen Partei ist eine Errungenschaft des Friedensprozesses. Paradoxerweise ergab sich gerade durch die mangelnde Beachtung der Landfrage durch die FMLN und die dadurch entstandene Frustration ihrer bäuerlichen Kader die Chance zu einem Bruch mit der vertikalen Tradition des Verhältnisses zwischen Partei und sozialer Bewegung.

Wandel im Handel
Die aktuelle Kaffeekrise hat El Salvador hart getroffen. Nach ersten Schätzungen haben über 12.000 Kaffeeproduzenten aufgegeben. Rund 150.000 Arbeitsplätze sollen verloren gegangen sein. Nach Angaben der salvadorianischen Zentralbank waren 2001 die durchschnittlichen Produktionskosten für ein Quintal (47 kg) Kaffee fast doppelt so hoch wie der Erzeugerpreis. Das bedeutet, dass selbst die Großproduzenten in diesem Jahr von der Substanz leben mussten. Seit über zwei Dekaden haben KritikerInnen darauf hingewiesen, dass dieses Agrarexportmodell nicht nur eine sehr schmale Schicht der Bevölkerung gut verdienen ließe, sondern durch die wachsende Konkurrenz auf den Weltmärkten langfristig ein unsicheres Geschäft sei. Nun ist das Ende der Kaffeeexportepoche in aller Munde. Doch was wird folgen?
Was den Import betrifft, ist die Liberalisierung auch für landwirtschaftliche Produkte seit 1999 weit fortgeschritten. Die jüngste Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens mit Mexiko verstärkt diesen Trend. Zunehmend stehen die salvadorianischen Bäuerinnen und Bauern in direktem Wettbewerb mit hochsubventionierten US-Farmern. Gerade bei den Grundnahrungsmitteln drücken die gedumpten Billigeinfuhren auf die internen Preise. Die salvadorianische Zentralbank gibt an, dass im Jahr 2001 die Erzeugerpreise für Reis ein Fünftel unter den durchschnittlichen Produktionskosten lagen. Bei Mais bekamen die salvadorianischen Bäuerinnen und Bauern sogar 28 Prozent weniger als ihre durchschnittlichen Produktionskosten waren. Im Klartext bedeutet dies zunächst, dass hier nichts mehr zu verdienen ist, dass dann eine Phase der Verschuldung folgt und schließlich der Verlust des Landes unvermeidlich wird.
Die Agrarpolitik in El Salvador steckt nicht allein wegen des Kaffees, sondern auch schon seit längerem wegen des Zuckerexports in einer tiefen Krise. Auch bei den Importen zeigt sich eine erschreckende Sorglosigkeit über die unfairen Wettbewerbsbedingungen, denen die salvadorianische Landwirtschaft ausgesetzt ist. Das Stichwort von der Ernährungssouveränität, das die internationale Bauernbewegung La Vía Campesina geprägt hat, steht inzwischen ganz oben auf der politischen Agenda von Bauernorganisationen auch in El Salvador. Ein Konzept, was dies für die politische Praxis im Detail bedeuten könnte, existiert jedoch noch nicht.
Ein anderes Stichwort, das mit den Erdbeben erneut an Dringlichkeit gewonnen hat, ist die ökologische Verwundbarkeit des Landes. In der „nationalen Strategie zur Erhaltung der Umweltressourcen“ ist nachzulesen, dass inzwischen über die Hälfte der salvadorianischen Böden von Erosion betroffen sind. Insbesondere in den Hanglagen, wo zumeist auf kleinen Parzellen Grundnahrungsmittel angebaut werden, ist die Lage dramatisch. Nach den amtlichen Angaben der nationalen Strategie verliert das kleinste Land Zentralamerikas jedes Jahr 4.545 Hektar fruchtbaren Bodens. Die Frage ist daher, wie eine angemessene, nachhaltige Landwirtschaft betrieben und gefördert werden könnte.
Nicht zuletzt: das Konzept der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte wird inzwischen auch von zivilgesellschaftlichen Gruppen in El Salvador genutzt. Dieser Rechtsansatz wird nicht nur bei der Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit gefördert, sondern zunehmend auch in juristischen Verfahren und politischen Kampagnen verwendet. Der Agrarkodex mit Gender-Perspektive ist ein Beispiel dafür. Schwerlich vorstellbar ist in El Salvador jedenfalls ein dauerhafter Frieden, solange für einen großen Teil der Bevölkerung nicht einmal diese grundlegenden Menschenrechte Wirklichkeit sind.

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