Guatemala | Nummer 342 - Dezember 2002

Friedensverträge beseitigen keine Probleme

Interview mit Nery Rodenas vom Erzbischöflichen Menschenrechtsbüro in Guatemala-Stadt

Zum ersten Mal in der Geschichte Guatemalas werden hochrangige Mitglieder des Militärs verurteilt, die die Aufklärung von Menschenrechtsverbechen des Militärs in Guatemala seit Jahren brutal zu verhindern versuchten. Allerdings nehmen die Bedrohungen für MenschenrechtsaktivistInnen damit zu, und die Regierung ignoriert ihren Schutzauftrag aus den Friedensverträgen für diese Organisationen bewusst. Über diese Zustände, die Rolle der Paramilitärs und die Entschädigungszahlungen der Exil-Guatemalteken spricht Nery Rodenas im folgenden Interview. Er arbeitet im Erzbischöflichen Menschenrechtsbüro von Guatemala-Stadt (ODHA), wo auch das Projekt “Wiedererlangung des Historischen Gedächtnisses” (REMHI) koordiniert wurde, das die Gewaltgeschichte von 36 Jahren Krieg in Guatemala aus Sicht der Opfer dokumentierte.

Miriam Heigl und Tobias Hübner

Bischof Gerardi, der als Vorsitzender des REMHI-Projekts fungiert hatte, wurde 1998 mit einem Betonblock erschlagen, nur zwei Tage nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts von REMHI, der 80 Prozent der im Bürgerkrieg begangenen Menschenrechtsverletzungen den Militärs anlastet. Was ist der derzeitige Stand in diesem Verfahren und wie beurteilen Sie es?

Am 7. Juni 2001 wurde ein Urteil gegen drei Militärs gefällt, von denen zwei aus der Präsidentengarde stammen. Sie wurden wegen Mordes an Bischof Gerardi zu einer Höchststrafe von 30 Jahren Haft verurteilt. Ein katholischer Priester wurde wegen Beihilfe zu 20 Jahren verurteilt. Für uns ist das ein sehr wichtiger Prozess, weil zum ersten Mal in der Geschichte Guatemalas hochrangige Militärs verurteilt wurden und das Verbrechen als ein Verbrechen des Staates gewertet wurde. Momentan wird ein weiterer Fall verhandelt, und zwar der der ermordeten Anthropologin Mack. Auch hier wurde ein Mitglied des Militärs zur Rechenschaft gezogen und zum ersten Mal ein General ins Gefängnis geschickt.
Die Gerichtsverfahren waren sowohl im Fall Mack als auch im Fall Gerardi sehr schwer durchzuführen, weil die Gerichte leicht beeinflussbar sind. Ferner besteht stets die Gefahr, dass Druck ausgeübt wird, um eine Verurteilung von Militärs zu umgehen.

In welcher Situation befindet sich das Erzbischöfliche Menschenrechtsbüro im Moment?

Dieses Jahr haben wir bereits viele Drohungen per Telefon und Post erhalten; es gab den Versuch, eine Mitarbeiterin des Büros zu entführen, was zum Glück scheiterte. Aber diese Probleme haben nicht nur wir, sondern auch viele andere Menschenrechtsorganisationen in Guatemala. Wir haben es mit Leuten zu tun, die über klandestine Einheiten verfügen, welche aus Militärs beziehungsweise Ex-Militärs bestehen und deren Ziel es ist, Angst zu verbreiten. Manchmal ist es schwierig, dem Druck standzuhalten.

In einem der Friedensverträge steht, dass die Regierung Menschenrechtsorganisationen schützen muss.Tut sie das?

Von Seiten der Regierung gibt es keinen Schutz. Die Regierung gibt keine ausreichenden Garantien, mit denen wir arbeiten können; im Gegenteil – man hat uns die Türen verschlossen. Die Angriffe und Drohungen gegen Menschenrechtsorganisationen sind auf nationalem und internationalem Niveau angeprangert worden. Die Berichte der UN-Mission in Guatemala (MINUGA), der interamerikanischen Menschenrechtsorganisation und der UN-Berichterstatter über Menschenrechte kommen alle zu dem Schluss, dass die Menschenrechtssituation in Guatemala sich verschlechtert hat, insbesondere die der MenschenrechtsaktivistInnen.

1996 wurden die Friedensverträge in Guatemala unterzeichnet und damit der 36-Jährige Bürgerkrieg offiziell beendet. Was sagen Sie aus heutiger Sicht zu den Friedensverträgen? Waren diese ausreichend?

Es gibt eine Menge struktureller Probleme in Guatemala, die aus der Zeit der Kolonialisierung herrühren. Trotzdem wurde mit den Friedensverträgen versucht, die meisten dieser Probleme, wie etwa die Situation der indigenen Bevölkerung, die Frage der Landverteilung oder die Rolle der Armee anzugehen. In den Friedensverhandlungen wurden alle wichtigen Aspekte der guatemaltekischen Gesellschaft angesprochen. Niemals vorher war zwischen Regierung und Guerilla über derart wichtige Themen diskutiert worden. Aber es gab auch Probleme, beispielsweise dass in den Verhandlungen die VertreterInnen der Zivilgesellschaft nicht berücksichtigt wurden. Das Hauptproblem momentan ist, dass zu wenig an der Umsetzung der Verträge gearbeitet wird. Das bedeutet, dass die Probleme, die den bewaffneten Konflikt ausgelöst haben, nach wie vor virulent sind. Dies kann dazu führen, dass in Guatemala erneut ein bewaffneter Konflikt entsteht, denn große Teile der guatemaltekischen Bevölkerung sind frustriert und nicht einverstanden mit dem, was passiert. Die Hoffnungen, die mit den Friedensverträgen verbunden waren, wurden nicht erfüllt. Wir drängen daher darauf, dass die Verträge erfüllt werden, da es ansonsten zu einer sozialen Explosion kommen könnte. Die Regierungsinstitutionen haben die strukturellen Probleme bislang nicht angegangen und eine Erfüllung der Friedensverträge ist nicht abzusehen.

Könnten Sie genauer darlegen, welche Bevölkerungsgruppen am stärksten von den strukturellen Problemen betroffen sind?

Die Mehrheit der guatemaltekischen Bevölkerung ist indigener Abstammung. Dieser Bevölkerungsteil wurde seit der Kolonialisierung immer marginalisiert. So wurde den Indigenen unter anderem der Zugang zu öffentlichen Ämtern und Dienstleistungen verweigert. Daher war es ein wichtiger Punkt, diesen Sektor der Gesellschaft bei den Friedensverhandlungen zu berücksichtigen. Einer der Friedensverträge behandelt daher beispielsweise die Multikulturalität, den Multilinguismus sowie die Identität der verschiedenen indigenen Gemeinden mitsamt ihren Konfliktlösungsmechanismen. Trotzdem hat es bis heute keine konkreten Fortschritte in diesem Bereich gegeben.
Aber auch die Zivilgesellschaft ganz allgemein ist von dem strukturellen Problem der zunehmenden Militarisierung des Landes betroffen. Die Militarisierung hat dazu geführt, dass die Zivilgesellschaft sich nicht entwickeln konnte. So hatten beispielsweise während des bewaffneten Konflikts viele Militärs Posten – wie etwa Ministerämter – inne, die eigentlich ZivilistInnen vorbehalten sind. Nach dem Abschluss der Friedensverträge wurden zwar ZivilistInnen auf diese Posten berufen, aber mit der Machtübernahme durch die Republikanisch-Guatemaltekische Front (FRG) wurden die Militärs erneut mit diesen Ämtern betraut.
So stehen Militärs heute wieder an der Spitze beispielsweise der Nationalpolizei oder des Tourismusministeriums. Das alles bedeutet eine erneute Schwächung der Zivilgesellschaft. Eine weitere Gruppe, die vernachlässigt wurde, ist diejenige der Menschen, die ins Exil gehen mussten und seit kurzem ins Land zurückkehren. Sie wurden nicht entschädigt, im Gegenteil: Die Regierung plant, eine Entschädigung an die ehemaligen Mitglieder der Patrullas de Autodefensa Civil (PAC), die Paramilitärs, auszubezahlen, nicht aber an die Opfer des bewaffneten Konflikts.

Was halten sie von der Reorganisation der PAC im Juni diesen Jahres und der von ihnen erhobenen Forderung nach Entschädigung?

Die PAC wurden zu Beginn des bewaffneten Konflikts in Guatemala vom Militär organisiert, um die Bevölkerung zu kontrollieren und um sie in den Kämpfen mit der Guerilla einzusetzen. Dabei begingen sie viele Menschenrechtsverletzungen. Nach der Unterzeichnung der Friedensverträge sollten sich die PAC eigentlich auflösen. Sie gaben ihre Waffen zwar ab, aber viele von ihnen sicherten sich ihre Kontrollmacht und ihre Privilegien. Daher kann man sagen, dass sich die PAC eigentlich nie ganz auflöste. Die Patrullas waren in den Gemeinden stets präsent und haben diese polarisiert. Jetzt treten sie erneut geschlossen auf, um Entschädigungen zu verlangen. Dieses Begehren verstößt eindeutig gegen Artikel 155 der Verfassung, der besagt, dass in Guatemala keine Gruppen, die während des bewaffneten Konflikts dem Staate gedient haben, Entschädigung verlangen können. Dieser Artikel ist hier anzuwenden. Die PAC haben kein Recht, Entschädigungen zu fordern und der Staat hat kein Recht, sie zu entschädigen.
Aber in Guatemala wird das Gesetz oft nicht respektiert, wenn politische Interessen etwas anderes verlangen und die PAC könnten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen Ende 2003 eine entscheidende Rolle spielen. Sie sind Anhänger der derzeitigen Regierungspartei, deren Chef General Rios Montt die Patrullas während seiner Zeit als Diktator formierte. Das Kalkül der FRG ist eine sehr riskante Angelegenheit, denn so könnte es in Guatemala erneut zu einer sehr starken gesellschaftlichen Polarisierung kommen.

Wie ist die Situation im Land heute verglichen mit der von vor fünf Jahren?

Heute erscheint die Situation schwieriger, schlechter. Im Menschenrechtsbereich stagniert es. Während die Situation der Menschenrechte zu wünschen übrig lässt und die Zivilgesellschaft an Spielraum verliert, lässt sich eine Remilitarisierung der Gesellschaft beobachten. Die Friedensverträge werden nicht erfüllt, und die Gewalt nimmt derweil stetig zu. Nicht zu vergessen ist hier die institutionelle Krise, Korruption ist weit verbreitet. Aus diesen Gründen gestaltet sich die Lage heute schwieriger. Von daher ist es uns wichtig, dass die internationale Gemeinschaft nicht glaubt, dass es – da ein Friedensvertrag unterzeichnet wurde – keine Probleme mehr gibt. Die Situation in Guatemala bleibt sehr schwierig und verschärft sich stetig. Das hat auch damit zu tun, dass die internationale Aufmerksamkeit und der internationale Druck nach dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen stark nachgelassen haben.

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