Guatemala | Nummer 468 - Juni 2013

Fruchtlose Mühe?

Eine Chronik des Prozesses gegen Efraín Ríos Montt

Die umstrittene Annullierung des Urteils gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt durch das guatemaltekische Verfassungsgericht (CC) am 20. Mai ist ein Schlag ins Gesicht für die Opfer seines Regimes. Damit wird das Ringen um die juristische Verantwortlichkeit für die begangenen Verbrechen, vor allem aber auch um die historische Wahrheit in Guatemala, wieder einmal nicht nur aufgehalten, sondern deutlich zurückgesetzt.

Markus Zander

Für alle am Prozess Beteiligten und insbesondere für die Opfer der staatlichen Repression, die für 90 Prozent der mehr als 200.000 Toten während des 36 Jahre währenden Bürgerkriegs in Guatemala verantwortlich ist, müssen die letzten Wochen ein grausames Wechselbad der Gefühle gewesen sein.
Zunächst hatte am 18. April die Richterin Carol Patricia Flores den laufenden Prozess gegen Ríos Montt annulliert und angewiesen, dass er auf den Stand vom 23. November 2011 zurück versetzt werden müsse – lange vor dem Beginn der Hauptverhandlung. Dies war der Tag, an dem sie auf Antrag der Verteidigung eines damals Mitangeklagten wegen angeblicher Befangenheit von ihrem Amt als kontrollierende Richterin der Voruntersuchung entbunden und ersetzt worden war. Sie stützte sich dabei auf ein Urteil des CC vom 23. März 2013, das die damalige Entscheidung aufhob und sie als kontrollierende Richterin wieder einsetzte (siehe LN 467).
Staatsanwaltschaft und Nebenkläger_innen riefen sofort den Verfassungsgerichtshof an, um die Annnulierung anzufechten, und für einen Moment schien alles auf Messers Schneide zu stehen. Nach ein paar Tagen des Wartens, in denen der CC über Verfahrensfragen, aber nicht über die Annulierung als solche entschied, beschloss die des für die Hauptverhandlung zuständigen Tribunal A vorsitzende Richterin Yasmin Barrios, die Annulierung des Prozessverlaufs durch Flores sei illegal und setzte die Anhörung fort.
In der zweiten Maiwoche hielten Verteidigung, Staatsanwaltschaft und die Anwält_innen der Nebenkläger_innen ihre Plädoyers, und auch Ríos Montt äußerte sich zum ersten Mal seit Prozessbeginn selbst. Wie zu erwarten, leugnete er seine Verantwortung für die Verbrechen des Militärs an der indigenen Zivilbevölkerung, delegierte sie an die lokalen Kommandeure, zu denen damals unter Anderen der jetzige Präsident Otto Pérez Molina gehörte, und bezeichnete sie als vereinzelte Exzesse. Von der Hauptstadt aus habe er überhaupt nicht kontrollieren können, was genau in den einzelnen Regionen geschah. Seine Verteidiger brachten keine neuen Argumente vor, sondern beschränkten sich in Fortführung ihrer bisherigen Strategie auf den Versuch, die Richter_innen zu delegitimieren und einzuschüchtern; Ríos Montts Anwalt Garcia Gudiel drohte den Richter_innen sogar mit den Worten „Ich werde nicht ruhen, bis Sie im Gefängnis sitzen“.
Die Argumentation der Staatsanwaltschaft und der Anwält_innen der Nebenkläger_innen in ihren Schlussplädoyers stützte sich vor allem auf folgende Punkte: Einmal die von Ríos Montt tatsächlich ausgeübte Kontrolle über das Militär und dessen Handlungen. Diese wurde von verschiedenen Zeug_innen im Prozess und von ihm selbst in einem Interview zu seiner Regierungszeit bestätigt, in dem er äußerte: „Wenn ich das Militär nicht kontrolliere, was mache ich dann hier? Wir haben Befehlsgewalt und sind in der Lage, dem Feind zu antworten“. Des Weiteren rekurrierte die Staatsanwaltschaft auf die von Ríos Montt verordnete Strategie der „verbrannten Erde“, die von der kollektiven Unterstützung der Guerrilla durch die gesamte indigene Zivilbevölkerung in der Ixil-Region ausging und diese zum Ziel militärischer Aktionen erklärte. Damit sollte der Guerilla ihre Basis entzogen werden, was in unterschiedlichen militärischen Dokumenten wie dem „Plan Sofia“ festgehalten ist, die dem Gericht als Beweise vorlagen – auch wenn es keinen expliziten schriftlichen Befehl zur Vernichtung der Ixiles als Volk gab. Dann ging die Staatsanwaltschaft auf die Untersuchungen des als Zeugen geladenen Statistik-Spezialisten Patrick Boyle ein. Dieser erklärte, dass die Wahrscheinlichkeit, in der Regierungszeit Ríos Montts als Angehöriger einer indigenen Ethnie Opfer des Militär zu werden, in der Ixil-Region um acht mal höher war als die für nicht-indigene Personen, dass es also eine klare Präferenz für die Verfolgung und Ermordung von Indigenen gab.
Und schließlich ging es um die Aussagen der fast 100 Ixiles, die als Zeug_innen im Prozess aufgetreten waren und von den Verbrechen des Militärs an Ihnen, ihren Angehörigen und Nachbarn berichtet hatten. Edgar Pérez, der als Anwalt der Nebenkläger_innen auftrat, zitierte sie in seinem Schlussplädoyer immer wieder. „Ich habe gesehen, wie sie 96 Personen von der Brücke stießen, sie schnitten einigen die Kehle durch, andere fielen mit Machetenhieben ins Wasser“, so einer von ihnen. Ein anderer Zeuge hatte ausgesagt: „Als das Militär kam, sind wir gelaufen. Da war eine Frau, die auch lief und ein Soldat hat sie erreicht, ihr den Bauch aufgeschnitten, dass Baby rausgenommen und gegen einen Stein geschlagen.“ Eine Frau sagte aus: „Als sie meine Mama vergewaltigten, musste ich zuschauen. Und danach haben sie es mit mir gemacht, ich war 12 Jahre alt.“ Schließlich fragte der Anwalt: „Darf ein Zivilist, der der Guerrilla Essen gibt, militärisches Ziel sein? Dürfen Sie ein Kind töten, das Guerrilleros zu Eltern hat? Starben die Ixiles im Gefecht? Ist ein Sympathisant ein erlaubtes militärisches Ziel?“ Er schloss sein Plädoyer mit den Worten: „Justiz ohne Gerechtigkeit ist Tyrannei, Justiz ohne Kraft bringt keine Gerechtigkeit“, und zitierte einen Zeugen, der sagte: „Ich bin hier, weil ich wissen will, ob es Gerechtigkeit auch für uns gibt“.
Während der mehr als halbstündigen, live in Radio und Internet übertragenen Verlesung des Urteils am 10. Mai vor fast 500 Anwesenden herrschte nach Zeitungsberichten gespannte Stille im Saal. Begründet wurde der Schuldspruch Ríos Montts für Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in erster Linie mit seinem Wissen um die Verbrechen des Militärs gegen die Ixiles während seiner Zeit als Staatschef und damit oberster Befehlshaber der Armee. Juristisch begründet wurde es zudem dadurch, dass Ríos Montt nichts unternommen habe, diese Verbrechen zu unterbinden. Im Gegenteil, er habe dies im Rahmen der Strategie der verbrannten Erde zumindest billigend hingenommen. Die Spannung entlud sich erst in „Bravo“-Rufen, als die Richterin Yasmin Barrios am Ende das Strafmaß für Ríos Montt verkündete: Die Höchststrafen von 50 Jahren Gefängnis für Völkermord und 30 Jahren Gefängnis für Verbrechen gegen die Menschlichkeit für Ríos Montt, aber Freispruch aus Mangel an Beweisen für seinen mitangeklagten ehemaligen Geheimdienstchef Rodriguez Sanchez. Einen Moment lang sah es so aus, als könne die Stimmung zwischen den noch anwesenden Ex-Militärs mit ihren Anhänger_innen und den Opfern, ihren Angehörigen und Unterstützer_innen in Tumult umschlagen. Dann aber begannen inmitten von Umarmungen und Freudentränen immer mehr der Anwesenden zu singen und den Vornamen der Richterin Yasmin Barrios zu skandieren, die sich erhob, sich ihnen zuwand und ihre Arme über der Brust kreuzte.
Auch wenn alle Beteiligten sich der Tatsache bewusst waren, dass in der Sache Ríos Montt noch lange nicht das letzte Wort gesprochen war, wurde das Urteil von Opfern des Bürgerkriegs, Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen Guatemalas, aber auch von ausländischen Presseoganen, Menschenrechtsorganisationen und Regierungen als ein großer Fortschritt für die guatemaltekische Justiz und Gesellschaft gefeiert – und die Richter_innen erhielten Lob für ihren durch das Urteil bewiesenen Mut.
Die Anhänger Ríos Montts reagierten ihrerseits damit, den Prozess als ideologisch motivierte und vom Ausland gesteuerte Farce zu diffamieren und dem Tribunal, vor allem seiner Vorsitzenden Yasmin Barrios, Parteinahme und die grobe Verletzung der Rechte der Angeklagten vorzuwerfen. Die Verteidigung Ríos Montts legte mehrere Rechtsmittel ein, klagte vor dem Verfassungsgerichtshof gegen das Urteil und ging so weit, Yasmin Barrios wegen eines Cafébesuchs mit drei weiteren Frauen am Tag nach der Urteilsverkündung (die sich als ihre Mutter und zwei Bekannte herausstellten) der Konspiration mit ausländischen Mächten zu bezichtigen und anzuzeigen. Der die guatemaltekische Oligarchie vertretende Unternehmer_innenverband CACIF verlangte die Annullierung des Urteil, militärische Veteranenverbände protestierten auf der Straße für „ihren General“ und die Rettung des Vaterlands, und Vertreter_innen der paramilitärischen Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen (PAC) aus der Zeit des Bürgerkriegs drohten mit dem Marsch auf die Hauptstadt zur Befreiung Ríos Montts. Nur ihr Repräsentant aus dem Departamento Jutiapa erklärte, er begrüße das Urteil, denn die damals zwangsrekrutierten Angehörigen der PACs seien durch die Verantwortung Ríos Montts ebenso Opfer des Bürgerkriegs wie die Ixiles oder ehemalige Mitglieder der Guerilla.
Der Ex-General und Präsident Otto Pérez Molina, der mehrmals zuvor den Völkermord in Guatemala bestritten hatte, mahnte nach dem Urteil zur Ruhe und dazu, dieses zu respektieren und den weiteren Fortgang des Prozesses vor den höheren Instanzen abzuwarten – wahrscheinlich auch aus der Einsicht heraus, dass jedes Eingreifen seinerseits angesichts der internationalen Aufmerksamkeit für den Prozess ihn und seine Regierung in große Legitimationsschwierigkeiten bringen würde. Gleichzeitig scheint die Anklage im Prozess gegen Ríos Montt bemüht zu sein, den Präsidenten aus der Schusslinie zu halten. So schreibt der Journalist José Luis Sanz in einem Artikel für die Internetzeitung El Faro aus El Salvador, dass die Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz dem Präsidenten versprochen habe, sein Name werde im Prozess nicht fallen. Eine direkte Verwicklung Otto Pérez Molinas in den Prozess gegen den mit ihm verfeindeten ehemaligen Staatschef könnte ihn jedoch zu dessen Zweckverbündeten machen und den Fortgang des Prozesses noch weiter gefährden. Derweil mehren sich die Anzeichen für die Beteiligung des jetzigen Präsidenten an den Menschenrechtsverbrechen in der Ixil-Region. Dort diente er zur Zeit der Regierung Ríos Montts unter dem Decknamen „Tito Arias“ als Militärkommandeur. Sanz zufolge seien nach der Otto Pérez Molina stark belastenden Aussage eines ehemaligen Armeemechanikers im Rahmen des Prozesses zwei weitere Zeugen der Anklage zurückgezogen wurden, um keine weitere Angriffsfläche zu bieten.
Von allen Beteiligten wurde nach der Urteilsverkündung gegen Ríos Montt mit großer Spannung die noch ausstehende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zu mehreren Klagen seiner Verteidigung erwartet. Dabei wurde von der politischen Rechten in der Öffentlichkeit und hinter den Kulissen der größtmögliche Druck auf den CC und seine Mitglieder aufgebaut, um eine Entscheidung zu Gunsten Ríos Montts zu erzwingen. Am 21. Mai verkündete der CC sein Urteil: Die Annullierung der Prozesstage ab dem 19. April und des Urteils auf 80 Jahre Gefängnis gegen den Ex-Diktator.
Diese Entscheidung war von Anfang an höchst umstritten und wurde nur von dreien der insgesamt fünf Richter_innen getragen; die beiden anderen, Mauro Rodriguez Chacón und Gloria Porras, legten ein Minderheitenvotum gegen die Annullierung ein. Das Mehrheitsvotum für die Annullierung bezieht sich im Wesentlichen auf die Klage des Rechtsanwalts Garcia Gudiel gegen seinen Ausschluss als Verteidiger Ríos Montts durch das Gericht, nachdem er sofort nach dem Antritt der Verteidigung am 19. März die Ablösung der Richter_innen gefordert hatte, die angeblich eine persönliche Feindschaft gegen ihn als Anwalt hegten. Ríos Montt blieb für mehrere Stunden ohne Anwalt, bis ein Pflichtverteidiger zur Stelle war. Gudiel hatte gegen seinen Ausschluss geklagt und war als Verteidiger Ríos Montts wieder eingesetzt worden. In seiner Urteilsbegründung behauptet der CC die Verletzung der Rechte Ríos Montts als Angeklagtem während des Prozesses durch den zeitweiligen Ausschluss seines Wahlverteidigers.
Ihr Minderheitenvotum gegen die Annullierung begründen die beiden abweichenden Richter_innen damit, dass Gudiel mit der Übernahme der Verteidigung Ríos Montts inmitten des Prozesses und seiner Forderung zur Ablösung der Richter_innen böswillig mit der einzigen Absicht gehandelt habe, den Prozess zu verzögern oder zu verhindern; schließlich habe er genau gewusst, wie sich das Tribunal zusammensetzte, und damit die Verteidigung Ríos Montts nicht antreten dürfen. Zudem sei der Verfassungsgerichtshof für die von ihm getroffene Entscheidung gar nicht zuständig gewesen, da diese strafrechtliche, jedoch keine verfassungsmäßigen Belange berührt hätten. Dabei werden sie von mehreren namhaften Rechtsexpert_innen wie zum Beispiel einem ehemaligen guatemaltekischen Verfassungsrichter unterstützt. Sie sehen im Urteil des CC eine gefährliche Fortsetzung der bisherigen Politik der Straflosigkeit gegen die Verantwortlichen für die Verbrechen während des guatemaltekische Bürgerkriegs, die die in den letzten Jahren mühsam errungenen Fortschritte im guatemaltekischen Justizsystem wieder stark in Frage stellen. Der Fortgang des Prozesses gegen Ríos Montt ist damit wieder vollkommen offen.

Die Zitate aus dem Schlussplädoyer von Edgar Pérez stammen aus einem Prozessbericht des Anwalts Miguel Mörth, der ebenfalls Opfer und deren Angehörige als Nebenkläger_innen im Prozess vertritt.

Infokasten:

Der Prozessverlauf

1999: Die “Vereinigung Gerechtigkeit und Versöhnung” zeigt Ríos Montt und andere Militärs als Verantwortliche für den Tod Tausender
Ixiles an.
2011, September: Eröffnung der Vorverhandlung gegen drei ehemalige hohe Militärs durch die Richterin Carol Patricia Flores.
2011, 23. November: Die Verteidigung legt Beschwerde gegen sie als Richterin ein.
2012, Januar: Ríos Montt verliert seine Immunität als Abgeordneter und wird in die laufende Vorverhandlung eingeschlossen.
2012, Februar: Patricia Flores wird durch den Richter Miguel Angel Gálvez abgelöst. CALDH legt Berufung dagegen ein.
2013, Januar: Galvez ordnet die Eröffnung der Hauptverhandlung gegen Ríos Montt und Rodriguez Sanchez an.
2013, März: Berufungsgericht ordnet die Wiedereinsetzung von Patricia Flores an.
2013, 19. März: Prozesseröffnung. Garcia Gudiel lehnt als neuer Verteidiger Ríos Montts das Gericht ab. Er wird ausgeschlossen.
2013, 18. April: Die Anwälte der Verteidigung verlassen den Prozess „aus Protest“.
Patricia Flores ordnet die Annullierung des Prozesses an.
2013, 19. April: Das Tribunal A ficht die Entscheidung von Flores vor dem CC an und setzt den Prozess fort.
2013, 8. und 9. Mai: Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung, Ríos Montt sagt zum ersten Mal aus.
2013, 10. Mai: Urteilsverkündung und Schuldspruch gegen Ríos Montt
2013, 21. Mai: Annullierung des Urteils durch CC

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