Mexiko | Nummer 442 - April 2011

Fünf Jahre nach Atenco

Interview mit Barbara Italia Méndez Moreno und Jaqueline Sáenz Andujo

Interview: Françoise Greve

Barbara Italia Méndez Moreno:
Politische Aktivistin aus Mexiko-Stadt und Mitglied der Anderen Kampagne. Sie gehört zu den elf Frauen, die bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte eine Klage wegen Folter und sexueller Gewalt gegen den Staat Mexiko eingereicht haben.
Jaqueline Sáenz Andujo:
Rechtsanwältin und juristische Leiterin des Menschenrechtszentrums Miguel Augustín Pro Juárez (Centro Prodh) in Mexiko-Stadt, das die Frauen juristisch vertritt.

Wer trägt für die in Atenco begangenen Menschenrechtsverletzungen die Verantwortung?

Sáenz Andujo: Der Fall Atenco ist für uns ein Beispiel dafür, wie der Justizapparat gegen den „inneren Feind” eingesetzt wird, also zur Abstrafung sozialer und politischer AktivistInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und MigrantInnen. Die Justiz hat einen Pakt mit den polizeilichen Behörden und der Politik geschlossen. Erst der massive und anhaltende Protest von vielen Seiten hat dazu geführt, dass das Oberste Gericht im Februar 2009 als Ergebnis einer Sonderermittlung massive Menschenrechtsverletzungen in Atenco feststellte. Zugleich erlegte sich das Gericht durch eine interne Anweisung eine Beschränkung auf, durch die es keine individuelle juristische Verantwortung aussprechen konnte. Es kann keine Schuldigen benennen. Es spricht von behördlicher Zuständigkeit, kann aber keine Namen geben.

Wie hat sich dabei die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) verhalten?

Sáenz Andujo: Auch die Rolle der CNDH ist in diesem Fall zu kritisieren, denn sie handelt nicht als unabhängige Institution, wie es eigentlich sein sollte. Ihre Mitarbeiter haben zwar versucht, die Anzeigen wegen Folter und sexueller Gewalt zu untersuchen und verfassten mehrere Gutachten. Dabei stellten sie schwere Menschenrechtsverletzungen fest, benannten aber ebenfalls keine Verantwortlichen. Die von ihr ausgesprochenen Empfehlungen ergingen an das Innenministerium, die Bundesregierung, die Regierung des Bundesstaates Mexiko und die Migrationsbehörde INM. Das Ministerium akzeptierte die Empfehlungen jedoch nicht und stritt jegliche Menschenrechtsverletzungen ab. Stattdessen gründet seine Argumentationslinie auf der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und der Angemessenheit des Einsatzes der Staatsgewalt. Die Regierung des Bundesstaates hingegen strengte formal eine Untersuchung der Folter an. Nach einem Jahr erklärte sie allerdings, keine gültigen Beweise gefunden zu haben und legte den Fall bis auf weiteres zu den Akten. Auch die Migrationsbehörde, die die internationalen AktivistInnen abgeschoben hatte, kam den Empfehlungen nicht nach.

Wurde denn gar niemand zur Verantwortung gezogen?

Sáenz Andujo: Bis heute mussten sich nur sechs Polizeibeamte in einem Prozess wegen geringfügiger Vergehen verantworten. Sie mussten diese Zeit nicht in Untersuchungshaft verbringen und wurden schließlich freigesprochen. Die Sonderstaatsanwaltschaft für Gewaltdelikte gegen Frauen stellte vor zwei Jahren fest, dass sie für die Klage nicht zuständig sei und gab sie an die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates ab.

Was geschah mit den zwölf Gefangenen, die Freiheitsstrafen zwischen 30 und 100 Jahren erhalten hatten und dann im letzten Jahr freikamen?

Sáenz Andujo: Das oberste Gericht wertete die Anklage wegen Entführung von Staatsbeamten als Strategie zur Kriminalisierung der sozialen Proteste und erklärte sie für nicht statthaft. Auch die Macheten der Protestierenden wurden von dem Gericht nicht als Waffenbesitz interpretiert, sondern als symbolisches Mittel des Protests. Es ordnete die sofortige Freilassung der Gefangenen an. Das geschah nach vier Jahren, kurz nach ihrer Inhaftierung in Hochsicherheitsgefängnissen. Zwar wurden die Angeklagten freigesprochen, es existiert jedoch kein juristisches Mittel, Entschädigung der von ihnen erlittenen Bedingungen einzufordern.

Wie versuchen Sie, auf das Thema aufmerksam zu machen?

Sáenz Andujo: Anlässlich des fünften Jahrestages von Atenco wollen wir das Thema öffentlich machen. Atenco ist nicht abgeschlossen, trotz der Freilassung der politischen Gefangenen. Einige Verfahren sind noch anhängig. Eine Gruppe von Compañeras hat ihrerseits die sexuelle Gewalt und die Folter in Atenco angezeigt. Nach fünf Jahren hat sich dabei kaum etwas getan und das ist beunruhigend. Das Centro Prodh begleitet die Frauen seit 2006. Wir haben einen Weg gesucht, ihre Anzeige voranzubringen und sexuelle Gewalt und Folter gegen Frauen in einem Kontext unkontrollierbarer staatlicher Gewalt zu dokumentieren. Deshalb entschieden wir uns dafür, die Interamerikanische Menschenrechtskommission anzurufen. Es soll der mexikanische Staat mit seinen verschiedenen Institutionen verklagt werden, und nicht einzelne Personen und Beamte.

Warum haben Sie den Fall der Kommission zur Überprüfung vorgelegt?

Méndez Moreno: Wir wollten damit deutlich machen, dass wir den Staat für den verantwortlichen Akteur halten und dies auch öffentlich machen. Wir wollten zeigen, dass es sich nicht um einen einzelnen Exzess polizeilicher Gewalt handelte, sondern um eine gezielte Strategie gegen politische und soziale Bewegungen.

Was ist bisher mit der Klage vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission geschehen?

Sáenz Andujo: Die Klage vor der Kommission enthält als Sammelklage mehrere Punkte, darunter willkürliche und unrechtmäßige Freiheitsberaubung, Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, sexuelle Folter, Verweigerung des Zugangs zu Rechtsmitteln sowie Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Die Klage wurde im April 2008 präsentiert. Das sind jetzt fast schon drei Jahre und die Phase der Überprüfung zur Annahme der Klage dauert immer noch an. Wenn die Kommission nach Annahme des Falles keine befriedigende Lösung finden kann und die von ihr ausgesprochenen Empfehlungen durch Mexiko nicht eingehalten werden, wird sie den Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen. Zur Erinnerung: Mexiko ist in den letzten Jahren bereits in fünf Fällen durch den Gerichtshof verurteilt worden. Bei Inés Fernández und Valentina Rosendo ging es beispielsweise um von Militärs begangene sexuelle Folter, mit einer ganz klaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Auch bei dem Campo-Algodonero-Fall zu den Frauenmorden in Ciudad Juárez wird die institutionalisierte Gewalt des Staates gegen die Frauen deutlich. Mexiko hat die bisherigen Anfragen nicht beantwortet, die Regierung zögert den Prozess hinaus.

Welche Rolle hatte und hat die internationale Unterstützung für Sie?

Méndez Moreno: Die internationale Solidarität war sehr wichtig. 2006 kamen die ersten 160 Gefangenen aufgrund der breiten Mobilisierung der Proteste bereits nach vierzehn Tagen frei. Die nationale und internationale Unterstützung hat über die Jahre angehalten und bis zur Freilassung der letzten zwölf politischen Gefangenen geführt. Und sie war auch der Grund, weshalb der Staat sie letztendlich freisprechen musste, weil er ihre Haft nicht länger rechtfertigen konnte. Mein Besuch hier in Europa gibt mir viel Kraft. Die öffentlichen Veranstaltungen und die Möglichkeit, über unsere Erfahrungen zu sprechen, ist Teil unserer Heilung. Das hilft uns dabei, uns als Frauen und Menschen wiederherzustellen, unser Bewusstsein und unsere Körper wiederzuerlangen. Für uns bietet das die Chance, nach vorn zu schauen und weiterzumachen.

Wie hat sich die Lage für AktivistInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen mit dem Krieg gegen die Drogenkartelle und der einhergehenden Militarisierung verändert?

Sáenz Andujo: Die Situation ist sehr schwierig. Das lässt sich schon an den Übergriffen und Morden ablesen. Wenn einE MenschenrechtsaktivistIn ermordet wird, sagt die Regierung: „Das war die organisierte Kriminalität.“ Und rechtfertigt damit die Militarisierung des Landes. Jedes Mal benutzt die Regierung dieses Argument und bezeichnet die Kartelle als Verantwortliche. Die Militarisierung ist in vielen Regionen sehr schwerwiegend.
Gleichzeitig werden Stellungnahmen von Behörden veröffentlicht, in denen MenschenrechtsaktivistInnen, MigrantInnen und die organisierte Kriminalität als Gefahr für das Land fungieren. Angeblich tragen sie alle zur Instabilität der Ordnung bei. Ein Beispiel für diese Haltung ist eine Stellungnahme des mexikanischen Geheimdienstes CISEN vom letzten Dezember. Danach sind jene eine Gefahr, die gegen die Staatsmacht protestieren. Darin zeigt sich die gleiche Logik, mit der in den 1970er Jahren die Guerilla bekämpft wurde. Das hat sich bis heute nicht geändert. Die staatliche Politik lebt mit dem Bild des „inneren Feindes“.

INFO-KASTEN:
Repression und Straflosigkeit in Atenco
Am 3. und 4. Mai 2006 mündeten die Proteste von BlumenhänderInnen in Texcoco und San Salvador Atenco im Bundesstaat Mexiko in Auseinandersetzungen mit den Gemeindeverwaltungen. Daraufhin marschierten 2.500 Beamte der bundesstaatlichen und nationalen Polizeieinheiten ein. Während des Einsatzes wurden Protestierende und Unbeteiligte angegriffen, zwei Jugendliche erschossen, unzählige Personen verletzt. Es fanden mehr als 200 Verhaftungen statt. Es folgten Misshandlungen, Demütigungen, Vergewaltigungen. Einige der AktivistInnen erhielten hohe Gefängnisstrafen wegen angeblicher Entführungen. Nur der anhaltende Protest im In- und Ausland führte zu ihrer Freilassung. Bis heute ist kein Polizist, Beamter oder Politiker für die begangenen Menschenrechtsverletzungen verurteilt worden.

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