Brasilien | Nummer 601/602 - Juli/August 2024

Für eine geregelte digitale Demokratie

Die brasilianische Justiz passt sich neuen Technologien an

Edilene Lôbo, stellvertretende Ministerin des Obersten Wahlgerichtshofs (Supremo Tribunal Eleitoral – TSE) war Anfang Mai zu Gast in der brasilianischen Botschaft. Lôbo hat im Zivilprozessrecht promoviert und ist Gastprofessorin an der Sorbonne-Nouvelle-Paris 3. Im Folgenden werden Lôbos Aussagen zu den wichtigsten Stichworten ihres Vortrags in Berlin als erste Schwarze Richterin am TSE skizziert. Mit Genehmigung der Ministerin zeichnete LN exklusiv den Inhalt des Vortrags in der brasilianischen Botschaft auf und veröffentlicht ihn hier in zusammengefasster Form.

Von Luciana Haussen (Übersetzung: Laura Müller)

Schwarze Frauen an der Spitze der brasilianischen Justiz
Meine Geschichte ist dieselbe wie die vieler Schwarzer Mädchen und Frauen in Brasilien. Unser geliebtes Land ist ein Land vieler Ungleichheiten, obwohl es die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt ist. Ich bin die Tochter eines Schwarzen Vaters und einer nicht-Schwarzen Mutter, das 17. Kind einer 20-köpfigen Familie – eine riesige, arme Familie. Zu meinen Freunden pflege ich zu sagen, ich hatte keine Familie, wir hatten eine Armee!
Schon seit frühester Kindheit war es mein Traum zu studieren, aber in meiner Stadt gab es diese Möglichkeit nicht. Nach einem Konflikt in unserem Haus, der zu einer Gewalttat führte, sagte meine Mutter: Ihr müsst von hier fortgehen. Wenn ihr an diesem Ort bleibt, werdet ihr euch selbst verlieren. So ging ich mit 13 Jahren in die Hauptstadt meines Bundesstaates, Belo Horizonte. Mit der Hilfe des Freundes einer Nachbarin konnte ich eine Privatschule besuchen. Ich musste arbeiten, denn ich musste überleben, essen, mich einkleiden. Meinen ersten Job bekam ich mit 13 Jahren in einem Supermarkt. Dort und im Klassenzimmer, wurde ich politisiert. Das Wunderbare an Politisierung ist, dass sie zusammen mit Bildung und dem Zugang zu anderen, zum Beispiel kulturellen Gütern, Leben verändert. Auch mein Leben wurde dadurch verändert. Viele Frauen haben mir geholfen. Selbst die Leute, die sagten, ich würde es im Leben nicht schaffen, haben mir geholfen. Ich habe das öfter zu hören bekommen: Dass bestimmte Dinge nichts für mich seien. Dass ich nicht von einem internationalen Lehrstuhl träumen könnte. Dass ich keine Anwältin sein könnte. Aber dieses Netzwerk, das sich gebildet hat, hat mir geholfen.

Das Projekt Negraiar
Ich habe ein Projekt mit dem Namen Negraiar gegründet, das sich an Schwarze Mädchen und Frauen in Brasilien richtet und bei dem wir entlang von fünf Achsen arbeiten. Die erste lautet: kommunizieren, um Einfluss zu nehmen. Schwarze Mädchen und Frauen sollen lernen, ihr eigenes Schicksal zu beeinflussen. Die zweite Achse ist das Erlernen politischer Rechte, um Zugang zu politischen Räumen zu erlangen. Die dritte ist die Stärkung der psychischen Gesundheit, um das loszuwerden, was man uns seit Jahrhunderten erzählt: Dass wir etwas nicht können, weil das nicht unser Platz ist. Auf der vierten Achse geht es um Schönheit und Selbstfürsorge, damit Schwarze Mädchen und Frauen sich als Personen begreifen, die es verdienen, dass man sich um sie kümmert, und nicht nur als Menschen, die sich um andere kümmern – so wie wir es unser ganzes Leben lang getan haben. Die fünfte Achse ist ein eigenes Einkommen, damit wir auch wirtschaftlich unseren Platz finden. Die Nische der Schwarzen Schönheitsindustrie ist weltweit enorm gewachsen, vor allem in Brasilien. Dabei geht es auch darum, die Würde wiederherzustellen.

Demokratie und das Recht auf Information im digitalen Zeitalter
Demokratien haben heute mit einer Reihe von Schwierigkeiten zu kämpfen, selbst jene, die Geld haben. Spannungen, Konflikte und Debatten sind Teil einer demokratischen Welt. Damit es sie weiterhin gibt, müssen wir qualitativ hochwertige Informationen als ein grundlegendes Gut begreifen. Wir befinden uns in einer Zeit, in der wir ein Recht auf Fakten einfordern. Beim politischen Wettbewerb sollte es um Ideen, die frei zirkulieren, und nicht um Menschen gehen. Die digitale Welt bietet uns viele Möglichkeiten, qualitativ hochwertige Informationen zu erhalten, fördert aber auch Manipulation und Desinformation.
Demokratie beruht zwar auf Meinungsfreiheit und braucht dennoch Zugang zu guten Informationen. Um fundierte Urteile fällen zu können, brauchen wir hochwertige Informationen ohne Verzerrungen. Die fünf großen technologischen Plattformen (Apple, Microsoft, Alphabet/Google, Amazon, Meta Platforms) sind fünf große transnationale Unternehmen. Dabei sprechen wir nicht mehr über etwas, das sich innerhalb der Grenzen von einzelnen Ländern abspielt, sondern es handelt sich um ein globales Phänomen. Somit ist der Umgang mit dieser Art von Unternehmen nicht die Aufgabe eines Landes allein. Das Phänomen ist de-territorialisiert.

Wirksame Rechtsvorschriften für digitale Wahlwerbung
Wir befinden uns in einer technologischen Revolution, die mit ihren Dysfunktionalitäten wie Fake News ein transnationales Regulierungsmodell erfordert. In Brasilien gibt es die Resolution 23610 aus dem Jahr 2019, die für die Wahlen 2024 aktualisiert wurde und die Nutzung neuer Kommunikationstechnologien für Wahlwerbung erlaubt. Es wird aber nicht toleriert, dass generative Technologien der künstlichen Intelligenz beispielsweise zur Manipulation, Fehlinformation oder zur Verbreitung von Chaos eingesetzt werden. Brasilien hat für die Kommunikation im Zusammenhang mit Wahlen einige Regelungen im Hinblick auf den Wahlprozess geschaffen. Es ist möglich, die neuen, digitalen Kommunikationstechnologien für Wahlwerbung zu nutzen. Die Nutzung dieser Medien senkt sogar die Kosten und erleichtert den Zugang für traditionell ausgeschlossene Gruppen, wie zum Beispiel Schwarze Frauen. Vor allem ermöglicht sie die Ausweitung der Kommunikationsinhalte. Der Einsatz von Wahlwerbung in der digitalen Welt ist also zu begrüßen und hat in Brasilien bereits eine Tradition.

Die neue digitale Elite
Es gibt eine Hyperkomplexität, die reduziert werden muss. Hyperkomplexität meint in diesem Kontext, dass das digitale Universum eine Welt ist, die nur sehr wenige Menschen kennen – und damit eine Elite bildet. Wenn wir über Demokratie sprechen, müssen wir uns aber von der Idee der Elite und der Autokratie lösen. Wenn eine kleine Anzahl von Unternehmen dieses digitale Universum kontrolliert, entspricht dies nicht demokratischen Standards. Wir müssen Licht in die Verwaltung der digitalen Welt bringen. Wir müssen wissen, wie sie funktioniert. Wir, die wir so sehr von der digitalen Demokratie träumen, müssen unsere Hausaufgaben machen und die digitale Welt demokratisieren. Denn wir sind durchsichtig, ja nackt, geworden für diese Plattformen. Aber die Plattformen bleiben für uns völlig undurchsichtig und undurchschaubar.

Elon Musks Angriffe auf die brasilianische Justiz


Hintergrund: Im April beschuldigte der Milliardär und Eigentümer der Plattform „X” den Minister Alexandre de Moraes vom Obersten Gerichtshof, die Meinungsfreiheit zu verletzen, indem er die Sperrung von Nutzer*innen anordnete, gegen die im Rahmen der Untersuchung der „Digitalen Milizen” seit 2020 ermittelt wurde. Bei der Untersuchung geht es um organisierte Kriminalität und Gruppen, die die Demokratie über das Internet angreifen. Musk erklärte, dass er die Anordnungen des Gerichtshofs nicht befolgen und die gesperrten Konten wieder freischalten werde. Daraufhin nahm Moraes Musk in die Untersuchung „Digitale Milizen” auf und ordnete eine tägliche Geldstrafe an, falls das Unternehmen den gerichtlichen Anordnungen nicht nachkomme.

Wenn wir über die Bekämpfung von Desinformation sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass Demokratien auf Staatsgewalten und Institutionen wie der Justiz beruhen – im Einklang mit Legislative und Exekutive. Brasilien hat eine Verfassung, Brasilien hat Gesetze, Brasilien hat ein strukturiertes Justizwesen. Wer sich in Brasilien weigert, gerichtliche Entscheidungen zu befolgen, hat zwei Möglichkeiten: Berufung einzulegen und hoffen, dass eine andere Entscheidung die vorherige ersetzt oder sich mit dem abfinden, was das Gesetz vorschreibt.

Die Untersuchung der „digitalen Milizen“ und die Harmonie zwischen den drei Staatsgewalten
Wir wissen immer noch nicht genau, wie die „digitalen Milizen“ funktionieren; dem ist diese Untersuchung gewidmet. Sie hat außerdem auf sehr transparente Weise die digitalen Straftäter und digitalen Milizen Brasiliens aufgespürt. Dabei ist der Oberste Gerichtshof, der Ermittlungen durchführt, natürlich ein Störfaktor für sie. Bei allem Respekt, ich sehe nicht, dass der Oberste Gerichtshof mit seinen Ermittlungen gegen digitale Milizen in die gesetzgebende Funktion Brasiliens eingreift. Wenn es zu einer Überschreitung von Befugnissen durch die Justiz kommt, verfügt das brasilianische Parlament über Mechanismen, im Rahmen der Verfassung einzuschreiten.

Beschränkungen und Vorschriften im digitalen Raum
Wenn künstliche Intelligenz für Wahlpropaganda eingesetzt wird, müssen die Menschen darüber informiert werden, dass dieses Mittel genutzt wird, um zum Beispiel den Inhalt eines Videos zu bearbeiten. Was nicht toleriert wird, ist die Verwendung von Chats oder Avataren, die ein Verhalten oder eine Aussage fälschen, die es in Wirklichkeit nicht gab. Mit anderen Worten: Diese neue Form von Fake News, Deep Fakes, wird nicht toleriert. Der Wahlgerichtshof wird auf der Grundlage bereits bestehender Rechtsvorschriften darauf bestehen, dass Plattformen, die ihre Produkte für finanzierte Wahlwerbung angeboten haben, dafür sorgen müssen, dass sie zum Beispiel einen Plan für Integrität in der digitalen Kommunikation haben. Sie müssen auch Berichte erstellen, in denen die Auswirkungen dieser Kommunikation bewertet werden. Ganz so, wie wir es von Umweltverträglichkeitsberichten gewohnt sind.

Algorithmen und Transparenz in der Informationsverbreitung
Ich sehe, dass diese fünf großen transnationalen Unternehmen auch wenn sie als Technologieunternehmen erscheinen in Wirklichkeit Unternehmen für Daten, Werbung und Datenhandel sind. Dies scheint der verschleierte Aspekt des digitalen Plattformgeschäfts zu sein. Wir brauchen eine zielgerichtete globale Anstrengung, um ehrlich mit diesem Thema umzugehen. Wir müssen über die Transparenz der Algorithmenentwicklung sprechen.
Wir müssen wissen, wie diese neuronalen Formeln in der Computersprache funktionieren und wie sie auf bestimmte Situationen in unserem Leben angewendet werden; wie sie konzipiert sind, um auf Probleme zu reagieren oder Produkte zu liefern. Deshalb sind die Länder aktiv geworden und machen Fortschritte. In Brasilien wurde 2018 die Nationale Datenschutzbehörde (ANPD) für die Überprüfung und Zertifizierung von Algorithmen eingerichtet.

Edilene Lôbo Ministerin des TSE trotz aller Widrigkeiten (Foto: Luciana Haussen)


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