Für Jeden etwas dabei
Das Ergebnis der Parlamentswahl in Venezuela eröffnet viel Raum für Interpretationen
Den ersten Reaktionen nach zu urteilen, gab es zahlreiche Sieger. Das Ergebnis der Parlamentswahl sei „der Anfang vom Ende für Präsident Chávez“, frohlockte Oppositions-Urgestein Enrique Mendoza, der im nördlichen Bundesstaat Miranda ins Parlament gewählt wurde. Hugo Chávez hingegen sah in der Wahl einen „soliden Sieg“ für die Regierung, „ausreichend, um den demokratischen und bolivarianischen Sozialismus zu vertiefen“. Tatsächlich bietet die Parlamentswahl vom 26. September, bei der eine ungewöhnlich hohe Beteiligung von 66,45 Prozent erreicht wurde, für jeden politischen Geschmack eine Interpretation.
Die harten Fakten sprechen zunächst eine klare Sprache: Das bolivarianische Regierungslager, das die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und ihre kleinen BündnispartnerInnen umfasst, stellt künftig 98 Abgeordnete. Die im Demokratischen Tisch der Einheit (MUD) zusammengeschlossenen Oppositionsparteien kommen auf 65 Mandate, während Heimatland für Alle (PPT) als dritte Option zwei Parlamentssitze gewinnen konnte. Damit wird das Parlament, das am 5. Januar 2011 erstmals tagt, nach dem Wahlboykott der Opposition 2005 als Ort politischer Debatten wieder an Bedeutung gewinnen. Für einfache Gesetze reicht die absolute Mehrheit der ChavistInnen weiterhin aus, wodurch die Regierungsfähigkeit vollends gewahrt bleibt. Die chavistischen Abgeordneten können aber weder Verfassungsreformen noch wichtige Gesetze mit Verfassungsrang alleine verabschieden, weil sie die anvisierte Zweidrittelmehrheit von 110 Stimmen nicht erreicht haben. Auch bei der Bestimmung der Mitglieder der staatlichen Gewalten, wie dem Obersten Gerichtshof (TSJ) und dem Nationalen Wahlrat (CNE), sind sie zukünftig auf ihre politischen GegnerInnen angewiesen. Für die Dreifünftelmehrheit, die zur vorübergehenden Bevollmächtigung des Präsidenten als Gesetzgeber ausreicht, fehlt dem Regierungsbündnis genau eine Stimme.
Laut dem landesweiten Endergebnis liegt das Regierungslager mit 48,13 Prozent nur gut 100.000 Stimmen vor dem Oppositionsbündnis, das auf 47,22 Prozent kommt. 350.000 VenezuelanerInnen votierten für die PPT (3,14 Prozent), die sich bewusst von beiden Bündnissen abgrenzt. Noch ist nicht klar, wie sich die zwei Abgeordneten der PPT positionieren werden. Klar ist aber, dass Opposition und PPT gemeinsam mehr Stimmen als die PSUV erreicht haben.
Daraus leiten führende VertreterInnen der Opposition zwei Schlüsse ab: Einerseits seien die Chávez-GegnerInnen durch ein auf die Bedürfnisse des Präsidenten zugeschnittenes Mehrheitswahlrecht um den Sieg gebracht worden. Andererseits sei Chávez am Taumeln und werde bei den Präsidentschaftswahlen 2012 abgelöst werden.
Ohne Zweifel hat die im vergangenen Jahr vom Parlament verabschiedete Stärkung des Mehrheits- gegenüber dem Verhältniswahlrecht zu erheblichen Verzerrungen geführt. 110 Abgeordnete wurden als DirektkandidatInnen gewählt und nur 52 durch Landeslisten. Damit sind laut Regierungslager die von der Verfassung verlangten Grundsätze sowohl einer „personalisierten“ Wahl, als auch einer „proportionalen Repräsentation“ gewährleistet. Der Nationale Wahlrat hat zuletzt einige Wahlkreise neu zugeschnitten und damit womöglich die regierende PSUV bevorzugt – eine unfaire Praxis, die beim Mehrheitswahlrecht als Problem weit verbreitet ist.
Vom Mehrheitswahlrecht an sich profitierte allerdings auch die Opposition: Im westlichen Bundesstaat Zulia etwa, einer Hochburg der Opposition, kam das Regierungslager auf fast 45 Prozent der Stimmen, erhielt aber nur drei von 15 Abgeordnetensitzen. Auch im östlichen Staat Anzoátegui errungen die ChavistInnen fast 45 Prozent – aber nur eines von acht Mandaten. Landesweit gewann das Regierungslager aber deutlich mehr Direktmandate als die Opposition.
Die Ergebnisse werden aber auch dadurch verzerrt, dass die kleineren Staaten mehr Abgeordnete bestimmen, als ihnen gemäß der Bevölkerungsgröße proportional zustehen würden. In den neun größten Staaten konzentrieren sich 67 Prozent der Wählerschaft, sie stellen aber mit 87 Abgeordneten nur 53 Prozent des Parlaments. Diese Verzerrung ist in der Verfassung ausdrücklich vorgesehen, um den kleinen Staaten eine Repräsentanz zu ermöglichen. Mit Verabschiedung der neuen Verfassung 1999 wurde der Senat abgeschafft, in dem alle Einzelstaaten die selbe Anzahl an SenatorInnen stellten. Im neuen Einkammerparlament soll nun jeder Staat unabhängig von seiner Bevölkerungszahl mindestens drei Abgeordnete stellen. Die restlichen Mandate werden auf die Staaten im Verhältnis zur Bevölkerung verteilt. Da die Opposition in den ländlichen Regionen vergleichsweise schwach ist, konnte Chávez‘ PSUV deutlich mehr Mandate erringen und gewann in 17 der 23 Staaten. Der oppositionelle MUD hatte lediglich in den restlichen sechs Staaten und im Hauptstadtdistrikt die Nase vorn.
Da bei der 2012 anstehenden Präsidentschaftswahl nicht nach Wahlkreisen gezählt wird, sondern die Gesamtstimmen ausschlaggebend sind, sieht sich die Opposition schon fast im Präsidentenpalast angekommen. Die Hoffnung könnte sich allerdings als trügerisch erweisen. Denn die Ergebnisse der letzten Abstimmungen zeigen auch, dass sich das chavistische WählerInnenpotenzial deutlich besser mobilisieren lässt – wenn es um die Person des Präsidenten geht. Hatte Chávez bei der Präsidentschaftswahl 2006 mit 7,3 Millionen Stimmen sein historisches Hoch, blieben ein Jahr später beim Verfassungsreferendum drei Millionen chavistische WählerInnen zu Hause. Als Anfang 2009 über die Abschaffung der Wiederwahlbeschränkung abgestimmt wurde, von der Chávez direkt profitiert, stimmten etwa 6,3 Millionen dafür. Bei der Parlamentswahl stimmten hingegen nur gut 5,4 Millionen WählerInnen für das Regierungslager, obwohl alleine die PSUV offiziell über sieben Millionen Mitglieder zählt. Die innerhalb des chavistischen Lagers weit verbreitete Unzufriedenheit über staatliche Ineffizienz, interne Grabenkämpfe oder Korruption führt nicht dazu, dass enttäuschte ChavistInnen reihenweise zur Opposition überlaufen. Diese konnte zwar ihr Ergebnis von 4,3 Millionen Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen 2006 auf nunmehr gut 5,3 Millionen steigern, gegenüber dem zweiten Verfassungsreferendum 2009 legte sie aber nur etwas mehr als 100.000 Stimmen zu. Dafür, dass Venezuela im vergangenen Jahr eine Energiekrise durchlitt, die Wirtschaft stagniert und die Zeitungen voll mit Horrormeldungen über die hohe Kriminalität sind, ist das Ergebnis für die Opposition eher enttäuschend. Der größte Erfolg besteht darin, einheitlich aufgetreten zu sein. Diese Einheit zu erhalten, wird entscheidend für den zukünftigen Erfolg der Opposition sein. Der Präsidentschaftskandidat für 2012 soll Ende kommenden Jahres in Vorwahlen ermittelt werden.
Dass der Sieg bei der Parlamentswahl letztlich auch für das Regierungslager kein Grund für überschwängliche Freude ist, sprach Chávez einige Tage nach der Wahl offen aus. „Wir haben gewonnen, aber müssen uns selbst von Grund auf kritisieren, um uns zu verbessern und zurückzugewinnen, wo wir verloren haben“. In ersten internen Debatten nach dem Wahltag war immer wieder die Forderung nach einer Neudefinition der drei R zu vernehmen. Bereits nach der Niederlage beim Verfassungsreferendum 2007 hatte Chávez „revisión, rectificación, reimpulso“ (Revision, Korrektur, Neuantrieb) zur Leitlinie erklärt.