Gender | Nummer 279/280 - Sept./Okt. 1997

Für uns selbst

Lesbenbewegung(en) in Lateinamerika

esben in Lateinamerika -Ist das schlicht ein marginales und zudem westliches Thema? In ihrem Beitrag beschreibt Rebeca Sevilla die Entstehungsbedingungen der lateinamerikanischen Lesbenbewegung im Umfeld von sozialen Bewegungen, das Engagement von Lesben innerhalb der Frauenbewegung und die 0rganisation eigenständiger Treffen der feministischen Lesben.

Rebeca Sevilla

Es wird immer wieder in Frage gestellt, ob der Feminismus auch ein für Lateinamerika geeignetes Konzept sei. Ebenso wird behauptet, lesbische Liebe sei ein westliches Phänomen. Wie aber läßt sich dann die Existenz feministischer und lesbischer Organisationen erklären?
Erinnerungen an eine exotische Bewegung?
Die Organisation von Frauen in Lateinamerika und der Karibik ist sichtbar, vielschichtig und oft kämpferisch. Mit dem Kampf um das Überleben und Fortkommen ihrer Familien begannen Frauen am politischen Geschehen teilzunehmen. Sie kämpften in Gewerkschaften, Berufsverbänden und politischen Parteien. Dazu kam noch der Kampf der Feministinnen um die Durchsetzung von Frauenrechten. Von Anbeginn, das heißt seit den 70er Jahren schlossen sich Feministinnen den oppositionellen Strömungen an. Sie klagten Militärregimes, aber auch demokratische Regierungen wegen ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ausbeutung an.
Die feministische Bewegung und ihr Leitmotiv, das Persönliche als politisch zu begreifen und den Alltag zu reflektieren, brachten neue Themen auf (Gewalt gegen Frauen, Sexualität, Reproduktion, Machtverhältnisse in der Familie). Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf andere Bewegungen -so auf die Lesben-und Schwulenbewegung -,wobei in jedem Land das eigene kulturelle, soziale und wirtschaftliche Umfeld eine Rolle spielte.
Seit Ende der 60er Jahre entstanden in einigen Ländern gleichzeitig Bewegungen, die für die Rechte der Lesben und Schwulen eintraten. Diese individuellen und kollektiven Prozesse stießen in der Öffentlichkeit auf Widerstände oder wurden negiert, in vielen Ländern dauert die Diskriminierung im kulturellen Umfeld, ja sogar in der Rechtsprechung noch an.
Auf ihrer langen Suche nach einem unabhängigen politischen Weg veranstalteten feministische Frauen aus Lateinamerika und der Karibik zu Beginn der 80er Jahre ihr erstes regionales Treffen. Thema sollte der Wandel der feministischen Politik und ihre Beziehung zu jenen Bewegungen sein, die ebenfalls für eine Welt ohne Ausgrenzung und Unterdrückung eintreten. Mittlerweile hat es sieben solche Treffen gegeben…..
Obwohl die feministischen Lesben auf vielfältige Weise aktiv in der Frauenbewegung mitgearbeitet hatten, wurde dies nur selten anerkannt. Einerseits gab es in den 80er Jahren noch immer gesellschaftliche sexistische
Unterdrückungsmechanismen,
andererseits hatten einige Feministinnen auch Angst davor, “beschuldigt” zu werden, Feminismus mit Lesbianismus gleichzustellen, oder als Männerhasserinnen zu gelten. Es wurde für Lesben notwendig, eigene Organisationsstrategien zu entwerfen. Das führte zu den Treffen der ” Feministischen Lesben Lateinamerikas und der Karibik, ‘ die daraufhin in Mexiko (1987), Costa Rica (1990). Puerto Rico (1992) und Argentinien (1995) stattfanden.
Lesben: Mehr als eine exotische Minderheit
Sexualität ist ebenso wie Freundschaft, Glaube und Liebe ein Teil der privaten Sphäre, und niemand hat das Recht, sich hier einzumischen. Frauen haben sich diesbezüglich Freiräume und Rechte erkämpft, die religiösen und konservativen Teilen der Gesellschaft ein Dom im Auge sind. Insbesondere lesbische Liebe wird von dieser Seite her als “unmoralisch, lasterhaft und schädlich für das soziale Leben und die Gesundheit” angeprangert. Tatsächlich hat die Bewegung für eine freie sexuelle Orientierung einen bislang unerforschten Freiraum eröffnet, von dem aus ein zentraler Aspekt der herrschenden Vorstellung über das menschliche Leben hinterfragt werden kann: die Sexualität. Solange die Sexualität nach wie vor Gegenstand autoritärer Unterdrückung und eines verzerrenden und verdammenden Stillschweigens ist, trägt die Möglichkeit, diese Sicht offen zu hinterfragen, zu demokratischeren Beziehungen und einem gesellschaftlichen Klima der gegenseitigen Achtung bei.
Die Lesbenbewegung bedroht somit das vorherrschende Muster der weißen, heterosexuellen, männlichen Dominanz. Daraus entstehen nicht nur gesellschaftliche Konflikte, sondern auch Konflikte in den verschiedenen Organisationen und Basisbewegungen, die sich mit partizipatorischen Konzepten, mit Meinungsvielfalt, mit verschiedenen Optionen und Lebensstilen auseinandersetzen müssen.
Diskriminierung passiert an vielen Orten -trotz verschiedener internationaler Abkommen und Erklärungen, die von der UNO festgelegt wurden. In Ländern wie Chile, Nicaragua, Ecuador und Puerto Rico herrscht eine repressive Politik, die Lesben und Schwulen das Recht auf Versammlungsfreiheit vorenthält. In anderen Ländern ist die Repression durch die Gesellschaft drückender als die gesetzlichen Regelungen. Die katholische Kirche nimmt eine starre Haltung ein. Die traditionelle Familienstruktur, die mangelnde Information und der fehlende Respekt vor anderen Lebensformen -all das sind Hindernisse für die Bewegungsfreiheit von Lesben.
Sag mir, mit wem du gehst…
Da die lateinamerikanischen Lesben in ihrem jeweiligen Umfeld unterschiedlicher sexueller und gesellschaftlicher Unterdrückung ausgesetzt waren, wurden sie zu Expertinnen im Verheimlichen und im Entwickeln verschiedener kleiner Signale zum gegenseitigen Erkennen.
Die beste Art sich zu treffen, war die Teilnahme an Frauenaktivitäten. In diesem Umfeld war es für uns leichter, uns zu er-kennen und dies mit unseren feministischen Aktivitäten zu verbinden. Über das gegenseitige Erzählen der Lebensgeschichte fühlten sich viele gestärkt, und es kam der bis dahin unerhörte Gedanke auf, eine Lesbengruppe zu gründen.
wir wollten dadurch auch diejenigen Lesben unterstützen, die Angst hatten, sich offen zu bekennen und andere zu suchen, um aus ihrer Isolierung heraus-zukommen oder auch um einfach einmal ein bißchen Spaß zu haben. Die Freiräume und Tätigkeiten der Lesbenorganisationen sind vielfältig; einige &von sind kurzlebig, andere wiederum gefestigt.
Das Auftreten der AIDS-Krise wurde in einigen Ländern zum bestimmenden Merkmal der Lesben-und Schwulenorganisationen. Eine der sozialen Folgen ist die Homosexualisierung von AIDS und die sich daraus ergebende Ablehnung oder Diskriminierung aller Personen, von denen man annimmt, daß sie homosexuell sind. Dies führte zu neuen, sozialen, politischen und humanitären Aktivitäten. Kampagnen zur AIDS-Vorbeugung richteten sich meist an die ge-samte Gesellschaft. Dadurch wurden Tabuthemen wie Sexualität und vor allem Homosexualität öffentlich diskutiert.
Erstes öffentliches Auftreten von Lesben
Verschiedene feministische Ereignisse waren für die Bildung einer Lesbenbewegung entscheidend und prägten die gegenseitige Beziehung von Frauen-und Lesbenbewegung.
Im Juli 1983 kamen 600 Frauen beim II. Feministischen Treffen in Lima zusammen. Die geplante Tagesordnung sah das Thema der Liebe zwischen Frauen nicht vor. Dennoch veranstaltete eine Gruppe unabhängiger Frauen einen kleinen Workshop über Patriarchat und Lesbianismus. Dort trafen verschieden Erwartungen, Neugier, Spannung und die unvermeidlichen neutralen Beobachterinnen zusammen. Der Workshop berührte viele, brachte sie einander näher, führte zu den verschiedensten Diskussionen. Es war ein wichtiger Versuch, aus der Isolierung auszubrechen und einander als lesbische Feministinnen mit verschiedenen Hintergründen zu begegnen. Es war das erste öffentliche Auftreten der Lesben und eine Herausforderung für die heterosexuellen Feministinnen. die sich dadurch mit ihrer Homophobie auseinandersetzen mußten. Aus diesem Treffen entwickelten sich Organisationen wie die Gruppe der selbstbewußten feministischen Lesben (Grupo de Autoconciencia de Lesbianas Feministas -GALF) in Peru und des Lesbenkollektivs Ayuquelen in Chile.

Lesbianismus als Politikum
Beim III . Feministischen Treffen in Bertioga/Sao Paulo in Brasilien (1985) organisierte GALF einen geschlossenen Workshop zum Thema “Wie organisieren wir Lesben uns?” Wir tauschten unsere Erfahrungen aus, aber das reichte noch nicht. Wir entschieden, ein eigenes Treffen zu organisieren – eine Idee, die auch 1986 auf der internationalen Konferenz von ILIS (International Lesbian Information Service) in Genf wieder auftauchte, an der mehr als 700 Lesben aus Asien, Afrika Ost-und Westeuropa. Lateinamerika und der Karibik teilnahmen. Es wurde beschlossen, das I. Treffen der Feministischen Lesben Lateinamerikas und der Karibik in Mexiko -parallel zum IV. Feministischen Treffen in diesem Land -abzuhalten.
Fast 220 Frauen trafen sich im Oktober 1987 in Cuemavaca, Mexiko. Dieses I. Treffen Fe-ministischer Lesben Lateinamerikas und der Karibik wurde zu einem der repräsentativsten überhaupt.

Als Folge entstand ein Netzwerk, mit dessen Hilfe die Isolierung durchbrochen und solidarische Beziehungen gestärkt wer-den sollten. Solche regionalen Treffen sollten in Zukunft regelmäßig, d.h. alle zwei bis drei Jahre, stattfinden. Zur Teilnahme aufgerufen waren feministische Lesben, aber auch Lesben. die sich in anderen Zusammenhängen bewegen. Die Beschlüsse sollten einstimmig gefaßt werden. Um den Informationsfluß zu verbessern, sollte ein halbjährlich erscheinendes Bulletin herausgegeben werden. Trotz des Widerstands seitens der Regierung, der Kirche und der Medien fand das II. lateinamerikanische Treffen der Feministischen Lesben in Costa Rica im April 1990 statt. Frau mußte zu einer heimlichen Strategie greifen, denn die Einwanderungsbehörden hatten die Weisung, keine alleinreisende Frau einreisen zu lassen. Zugleich sollte die persönliche Sicherheit der Frauen im Land gewährleistet werden, und alle Teilnehmerinnen mußten -um jedes Risiko zu vermeiden -am Veranstaltungsort bleiben. Ein Treffen unter solchen Bedingungen war schwierig. Neben kulturellen Veranstaltungen wurden Workshops durchgeführt. Themen waren unter anderem die nicht immer freundschaftlichen Beziehungen zwischen Feminismus und Lesbianismus, die Problematik der lesbischen Mütter und ihr Kampf um das Sorge- recht für ihre Kinder, die gesetzliche Unterdrückung und die internalisierte Lesbophobie.
Auf dem VI. feministischen Treffen in Cartagena / Chile im November 1996, an dem fast 600 Frauen teilnahmen. drehten sich die Diskussionen in erster Linie um die politische Verortung und die Autonomie der Frauenbewegung, um Führungsrollen und Vertretung nach außen, um Ethik und um finanzielle Ressourcen. Das Treffen war sehr spannungsreich und polarisiert. Es nahmen viele, vor allem junge Lesben teil. Trotz ihrer großen Präsenz und Energie, die sich nicht zuletzt in künstlerischen Beiträgen und in der Abendgestaltung manifestierte, waren sie nicht imstande, ihre Vorstellungen und Visionen als konkrete politische Vorschläge zu formulieren. Sie ließen sich vielmehr von einer destruktiven
wußte Sichtbarmachung Ausdruck der nach wie vor bestehen- den Diskriminierung innerhalb der Frauenbewegung ist. Es scheint aber auch, daß es einem nicht unwichtigen Teil der Lesbenbewegung schwerfällt, eine gewisse Opferhaltung zu überwinden.
Perspektiven

Im Zuge ihrer Selbstorganisation hat sich die feministische Lesbenbewegung gewisse Freiräume in der Gesellschaft schaffen können. Diese Freiräume entstanden nicht aufgrund der Aktivitäten der Frauenbewegung oder als Zugeständnis der Gesellschaft. Die Lesben haben hart gearbeitet, das zu erreichen -sowohl innerhalb der Frauenbewegung als auch gemeinsam mit anderen Minderheiten, mit Männem und Frauen, Feministinnen und nicht-feministischen Frauen, national und international. Die Solidarität von Lesben-und Schwulenorganisationen aus dem Norden hat ebenfalls zur Schaffung dieser Freiräume beigetragen.
Die Zunahme an Sichtbarkeit, Legitimität, Anerkennung und die Vielfalt von Aktionen der feministischen Lesben in ihren jeweiligen -zum Teil gemischten -Organisationen bringt neue Spannungen und Herausforderungen in Bezug auf Prioritäten, den Kampf ums Überleben, den ungleichen Zugang zu Ressourcen. die Autonomie der Bewegung, die Teilnahme an anderen Gruppen oder Netzwerken, aber vor allem in Hinblick auf organisierte Strukturen der Bewegung. Diese Aufgaben werden lösbar, wenn Frau die alte Rendenz überwindet, sich Opposition zur Macht zu begreifen, wie es die linken Gruppen tun, denn diese Dynamik schränkt ein und führt zur Erschöpfung. Es geht drum, von der Wut zur Selbstermächtigung überzugehen, und nicht erstere als permanenten emotionalen Zustand zu kultivieren.
Die Zukunft der feministischen Lesbenbewegung wird also von ihrer Fähigkeit abhängen, unterschiedliche ideologische Vorstellungen, die es in der Bewegung gibt, zusammenzubringen und sie in globalere Strategien einfließen zu lassen, um so Antworten auf die komplexe Realität zu finden. Das bedeutet, daß die bestehenden Gruppen gestärkt werden und sich erweitern müssen, um auch schwarze, behinderte oder indigene Frauen zu integrieren. Ziel muß sein, als Bewegung Strategien zu entwickeln, die sich von jenen der NGOs, der Institutionen und der politischen Parteien unterscheiden. Mithilfe dieser Strategien sollen Brücken geschlagen und verschiedene Allianzen und Kooperationen auf regionaler und internationaler Ebene aufgebaut werden.
Es ist eine beständige Herausforderung für uns alle, die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse so zu verändern, daß alle Menschen friedlich zusammenleben können.

Rebeca Sevilla

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