Colonia Dignidad | Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016

GAUCK ENTTÄUSCHT DIE OPFER

KEINE ENTSCHÄDIGUNGEN FÜR DIE BETROFFENEN DER „COLONIA DIGNIDAD“, ABER TÄTER AUF DER GÄSTELISTE DES BOTSCHAFTSEMPFANGS

Der Besuch des Bundespräsidenten Joachim Gauck im Juli dieses Jahres in Chile hat Nachwehen. Während Verantwortliche der „Colonia Dignidad“ zu einem Empfang in der deutschen Botschaft eingeladen wurden, verweigerte Gauck den Angehörigen von Verschwundenen das gewünschte direkte Gespräch. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass das Auswärtige Amt an einem Umsetzungsplan für Hilfsmaßnahmen für Opfer der deutschen Sektensiedlung arbeitet.

Von Martin Ling

Das Bundespräsidialamt war not amused: „Wir haben großen Wert auf eine sorgsame Auswahl der Gäste gelegt – vor allem im Hinblick auf die Geschichte der ‚Colonia Dignidad’“, sagte eine Sprecherin des Bundespräsidenten. „Wir bedauern mit Blick auf die Opfer sehr, dass diesem Maßstab nicht entsprochen wurde.“ Am Verfehlen des Maßstabs gibt es keinen Zweifel: Beim Empfang in der deutschen Botschafterresidenz in Santiago de Chile am 13. Juli 2016 zu Ehren des Bundespräsidenten Joachim Gauck waren mehrere Hundert Personen geladen – darunter Reinhard Zeitner und Hans Schreiber. Zeitner wurde im Januar 2013 rechtskräftig im Verfahren um den systematischen sexuellen Missbrauch in der „Colonia Dignidad“ wegen Kindesentziehung zu drei Jahren und einem Tag Haft verurteilt, ausgesetzt auf vier Jahre zur Bewährung. Schreiber sitzt im Vorstand mehrerer Colonia-Unternehmen und organisiert die juristische Vertretung der Colonia-Täter. Auch Horst Paulmann, Multimilliardär und Eigentümer des Einzelhandelsimperiums Cencosud war eingeladen – erschien jedoch nicht. Ihm wurden in der Vergangenheit Geschäftsbeziehungen zur Colonia Dignidad nachgesagt.

Der Skandal ist durch das Bedauern des Präsidialamts jedoch nicht vom Tisch, denn die Einladung von Zeitner und Schreiber war alles andere als ein Versehen: Sie geschah in voller Absicht, wie die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag offenbart. Die Namen wurden ganz bewusst „nach einem Abwägungsprozess“, der die „Vergangenheit und gegenwärtige Positionierungen der betreffenden Personen einbezogen hat“ auf die Liste gesetzt. Dabei habe die deutsche Botschaft in Chile dem Umstand Rechnung getragen, „dass Grenzen zwischen Tätern und Opfern in einem geschlossenen verbrecherischen System wie der Colonia Dignidad nicht mit letzter Trennschärfe zu ziehen“ seien. „Viele frühere Bewohner der Colonia wurden zur Täterschaft gezwungen, waren aber selbst Opfer“, heißt es im Antwortschreiben des Auswärtigen Amtes, das den Lateinamerika Nachrichten vorliegt. In der Tat sind die Grenzen zwischen Täter*innen und Opfern der kriminellen Sekte nicht immer leicht zu ziehen. Dies ist unter anderem auch dem Umstand geschuldet, dass eine strafrechtliche Aufarbeitung der von der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen in der Bundesrepublik bisher gar nicht und in Chile nur in Teilen stattfand. Bei Reinhard Zeitner handelt es sich jedoch um einen der wenigen bislang rechtskräftig verurteilten Straftäter. Er wurde im selben Verfahren schuldig gesprochen, in dem auch der Arzt Hartmut Hopp verurteilt wurde, der sich im Jahr 2011 seiner Strafe durch Flucht in die Bundesrepublik entzog (siehe LN 450) und bis heute straflos in Krefeld lebt.

Myrna Troncoso und Rosa Merino blieb das Aufeinandertreffen mit Zeitner und Schreiber zum Glück erspart. Sie hatten aus Enttäuschung über das verweigerte Gespräch mit dem Bundespräsidenten ihre Teilnahme am Empfang abgesagt. „Als Angehörige eines Verschwundenen möchte ich nicht an einem sozialen Empfang in der Residenz des deutschen Botschafters teilnehmen und anderen zuprosten. Wir haben erwartet, dass der Bundespräsident mit uns spricht und uns zuhört“, so Troncoso.

Die chilenischen Opfervereinigungen hatten hohe Erwartungen an den Besuch von Gauck. Diese beruhten auf der selbstkritischen Rede von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier Ende April in Berlin: „Im Spannungsfeld zwischen dem Interesse an guten Beziehungen zum Gastland und dem Interesse an der Wahrung von Menschenrechten ging Amt und Botschaft offenbar die Orientierung verloren“, so der SPD-Politiker am 26. April dieses Jahres im Rückblick.

Nach dieem selbstkritischen Eingeständnis hatten Menschenrechtsgruppen nun konkrete Ankündigungen erwartet: Erhofft wurde eine gemeinsame Ankündigung von bilateralen Aufarbeitungsvorhaben seitens Gauck und der chilenischen Staatspräsidentin Michelle Bachelet. Zudem hatten Angehörige von während der Diktatur in der Siedlung verschwundenen Personen Gauck um ein Gespräch im Rahmen seines Besuchs gebeten. Aus Beidem wurde jedoch nichts. Myrna Troncoso, Rosa Merino und Victor Sarmiento mussten sich damit begnügen, Staatssekretär David Gill ein Schreiben an den Bundespräsidenten übergeben zu dürfen. Michelle Bachelet äußerte sich bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Gauck gar nicht konkret zum Thema, während bei den Äußerungen des Bundespräsidenten der Abwehrreflex überwog: „Was die deutsche Regierung sicher nicht tun wird, das sind irgendwelche Wiedergutmachungsansprüche zu akzeptieren“, so Gauck. Die Hauptverantwortung liege stattdessen in Chile, „denn die deutsche Regierung hat nicht in Chile die Diktatur gebaut oder daran mitgewirkt. Was wir betrauern und bedauern ist, dass deutsche Diplomaten in einer Zeit Menschenrechtsverletzungen und -verbrechen nicht ernst genug genommen haben.“

Dass Gauck seinem Erschrecken Ausdruck verlieh, „wenn zum Beispiel deutsche Diplomaten jahrelang wegschauten, wenn in der deutschen Sekte ‚Colonia Dignidad’ Menschen entrechtet, brutal unterdrückt und gefoltert wurden, und dann gar der chilenische Geheimdienst dort foltern und morden konnte“, konnte die verschiedenen Opferkollektive nicht wirklich besänftigen. Der Rechtsanwalt und ehemalige Bewohner der „Colonia Dignidad“, Winfried Hempel, zeigte sich von diesen Worten enttäuscht: „Die Bundesrepublik Deutschland ist mitverantwortlich, da sie wusste, was in der ‚Colonia Dignidad’ vor sich ging und trotzdem nichts unternahm, um die Verbrechen zu unterbinden“, so Hempel. Es sei enttäuschend, dass Gauck während seines Besuches nicht mit einem einzigen Opfer gesprochen habe. „Wir verlangen, dass beide Staaten, Deutschland und Chile, endlich Verantwortung für alle Opfergruppen übernehmen“, sagte der Rechtsanwalt Hernán Fernández, der maßgeblich an der Festnahme Paul Schäfers im Jahr 2005 in Argentinien beteiligt war.

Ein ambivalentes Resümee des Besuchs von Gauck zog Jan Stehle vom Berliner Forschungsund Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL): „Es ist positiv, dass das Thema ‚Colonia Dignidad’ ein solch breites Medienecho gefunden hat. Die Worte von Gauck blieben jedoch hinter den Erwartungen der Opfer zurück und es ist historisch falsch, wenn der Bundespräsident dem chilenischen Geheimdienst die alleinige Schuld für die in der Siedlung begangenen Verbrechen zuweist. Gerichtsurteile belegen heute die Beteiligung von Führungsmitgliedern der Colonia an den Verbrechen der chilenischen Militärdiktatur. Es hätte daher eine wichtige Symbolkraft gehabt, wenn Gauck den Angehörigen der Verschwundenen die Hand gereicht hätte. Mit dem Finger auf Chile zu zeigen hingegen hat im Fall ‚Colonia Dignidad’ traurige Tradition. Das hat jahrzehntelang eine Aufarbeitung verhindert und die Straflosigkeit begünstigt“, so der Wissenschaftler, der nichtsdestotrotz vorsichtig optimistisch in die Zukunft blickt: „Es gibt Anzeichen dafür, dass das Auswärtige Amt nach der Steinmeier- Rede nun konkrete Hilfsmaßnahmen für die Opfer der ‚Colonia Dignidad’ ins Auge fassen möchte. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch die chilenische Regierung an solchen Maßnahmen beteiligt.“

Ein solches Anzeichen war der Besuch der Siedlung durch Dieter Lamlé, dem Regionalbeauftragten des Auswärtigen Amts für Lateinamerika und die Karibik im vergangenen Juni. Dass Lamlé als bisher höchstrangigster deutscher Diplomat vor dem Gauck-Besuch der Siedlung seine Aufwartung machte, hatte offenbar die Funktion, Informationen zu gewinnen, die in einen Umsetzungsvorschlag für einen Hilfsfonds münden sollen. Das Szenario ist dabei nicht unkompliziert: Bei den heutigen und ehemaligen Siedlungsbewohner*innen gilt es, trotz Lücken bei der strafrechtlichen Aufarbeitung, zwischen Täter*innen und Opfern zu unterscheiden. Chilenische Menschenrechtsgruppen fordern vor allem Unterstützung bei Erinnerungsvorhaben, wie die Errichtung einer Bildungs- und Gedenkstätte in der heutigen „Colonia Dignidad“, während die heutigen Siedler*innen derzeit dort einen deutschtümelnden Folkloretourismus betreiben.

 

Lamlé traf sich im Juni mit gegenwärtigen und ehemaligen Siedlungsbewohner*innen. Sie forderten Hilfsmaßnahmen und Rentenzahlungen für die jahrzehntelange Zwangsarbeit. Bei einer weiteren Reise im September will er nun auch chilenische Opfervertreter*innen wie Myrna Troncoso treffen. Ende des Jahres soll dann ein von zivilgesellschaftlichen Gruppen organisiertes und vom Auswärtigen Amt finanziertes Seminar – wie schon im vergangenen Februar – verschiedene Akteur*innen und Vertreter*innen beider Staaten zusammenbringen.

 

Jan Stehle hält einen Dialog zwischen den Siedlungsbewohner*innen und den chilenischen Opferverbänden für sinnvoll. „Jedoch ist es wichtig, dass beide Staaten, Chile und die Bundesrepublik, diesen Dialogprozess begleiten und gemeinsam Verantwortung für alle Opferkollektive übernehmen“, so Stehle. Für die Bundesregierung, die sich in der Vergangenheit nur den deutschen Staatsangehörigen gegenüber in der Pflicht sah und dabei keine Unterscheidung zwischen Täter*innen und Opfern vornahm, wird – geht es nach Stehle – ein Umdenken stattfinden müssen: „Der Fall ‚Colonia Dignidad’ ist eine deutsch-chilenische Menschenrechtstragödie, es bedarf bilateraler Lösungen. Die Menschenrechte sind unteilbar und Hilfsmaßnahmen dürfen nicht anhand von Staatsangehörigkeiten konzipiert sein. Beide Staaten tragen eine gemeinsame Verantwortung für alle Opfer“, so Stehle. Bei Gauck angekommen ist diese Botschaft noch nicht und bei Steinmeier nur in Teilen.

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