Argentinien | Nummer 502 - April 2016

GEGEN DAS VERGESSEN

ZUM VIERZIGSTEN JAHRESTAG DES PUTSCHES IN ARGENTINIEN

Vor 40 Jahren, am 24. März 1976, putschten sich rechte Militärs um General Jorge Rafael Videla in Argentinien an die Macht. Der Putsch fiel in eine Zeit politischer Unruhe. Die politische Gewalt gegen Oppositionelle unter der amtierenden Präsidentin Isabel Perón lieferte die passende Rechtfertigung für den Staatsstreich. Ihm folgte eine sieben Jahre währende Militärdiktatur, deren systematischer Staatsterror für das gewaltsame Verschwindenlassen und die Ermordung von 30.000 Menschen verantwortlich war. Reaktionäre Kräfte und Wirtschaftseliten im Land begrüßten die neuen Machthaber, die „Ordnung in das politische Chaos des Landes“ bringen würden. Eine ökonomische und soziale Ordnung, von der eben diese unterstützenden Kräfte am meisten profitieren würden. Der gewaltsame Machtwechsel stand in einer Linie mit den Militärputschen Brasiliens 1964, Uruguays 1973 und Chiles 1973 und war Teil einer regionalen Strategie der organisierten Rechten Lateinamerikas, die von den USA geduldet und unterstützt wurde.

Von Caroline Kim

Um sein neoliberales Paradigma durchzusetzen, wandte das Regime grausamste Repressionsmittel gegen die argentinische Bevölkerung an: Menschen, die der Ideologie des Regimes nicht zustimmten, sollten systematisch vernichtet werden. Im Namen des Antikommunismus wurde das „Subversive“ zum totalen inneren Feindbild erklärt, wobei bereits ein Alphabetisierungskurs im Armenviertel als subversive Aktion gelten konnte. Das Ziel der Junta war ein „Prozess der Nationalen Reorganisation“ und die Umerziehung der Gesellschaft durch die physische Vernichtung der „Subversiven“und das Auslöschen ihrer Identitäten und ihrer politischen Ideen. Die Diktatur mordete selektiv: Sie löschte die „Aktivsten, Intelligentesten und die mit dem größten Potential für Veränderung in Kultur und Gesellschaft“ aus, erinnert Raúl Zaffaroni, Richter am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Militärs wollten „alles vernichten, was eine Gesellschaft mobilisieren und verändern konnte“. Dazu nutzten sie die heute in Lateinamerika bekannte Methode des „Gewaltsamen Verschwindenlassens“, die als „argentinischer Tod“ traurige Berühmtheit erlangt hat. Regimegegner*innen wurden entführt und in 500 geheimen Haftzentren im ganzen Land gefoltert und ermordet. Durch den systematischen Raub von Kindern der Gefangenen wurde die perfide Systematik der Umerziehung bis zur Perversion gesteigert. Schwangere politische Gefangene mussten ihre Babys in der Haft austragen, wurden dann ermordet und die Neugeborenen von den Folterern und Mördern ihrer Eltern oder den Militärs nahestehenden Familien aufgezogen, ohne über ihre wahre Identität informiert zu werden. Man geht von 500 geraubten Kindern während der Diktatur aus, von denen bis heute 120 ihre Geschichte kennen.
Während der Diktatur wurde die ökonomische und soziale Struktur des Landes grundlegend verändert. Bis heute wirken sich in der Diktatur gefestigte Machtstrukturen, Gesetze und ökonomische Modelle aus. Deswegen ist die Aufklärung der Rolle, die Wirtschaft, Medien, Kirchen und Gerichten in der Diktatur gespielt haben in den vergangenen Jahren zu einer der wichtigen Forderungen der sozialen Bewegungen geworden. Um eben der Verantwortung ziviler und ökonomischer Interessengruppen nicht nur beim Putsch, sondern auch bei den Verbrechen der Diktatur Rechnung zu tragen, wird mittlerweile der Begriff „zivil-militärische Diktatur“ verwendet.
Die Diktatur endete 1983 nach dem verlorenen Krieg mit Großbritannien um die Falklandinseln. Die geschwächte Führung konnte dem internen und internationalen Druck nicht mehr standhalten und trat zurück und ließ freie Wahlen zu. Seither existiert in Argentinien ein steter Kampf sozialer Bewegungen für die Aufarbeitung der Verbrechen. Memoria, Verdad y Justicia – Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit ist eins der Mottos der unermüdlichen Zivilgesellschaft in ihrem Kampf gegen das Vergessen und die Straflosigkeit. Dieser hat in den vergangenen 40 Jahren verschiedene Phasen erlebt. Nach anfänglichen Verurteilungen der Hauptverantwortlichen unter dem ersten Präsidenten der neuen Demokratie Raúl Alfonsín folgten 1986 bereits Amnestiegesetze und 1990 Begnadigungen durch seinen Nachfolger Carlos Menem. 2005 wurden die Amnestiegesetze unter Präsident Nestor Kirchner annulliert und der Weg für einen bemerkenswerten Prozess der juristischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung der Diktaturverbrechen freigemacht. Bis Anfang 2015 wurden 155 Urteile gefällt, in denen 666 Personen aufgrund von Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurden.
Aber auch abseits der juristischen Aufarbeitung ist Erinnerung im argentinischen Alltag präsent. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Kirchnerismus Erinnerungspolitik zu einem der wichtigsten Eckpfeiler seiner Regierungspolitik gemacht hat. Er hat ihr im öffentlichen Raum Sichtbarkeit gegeben, im Diskurs, im Stadtbild, in den politischen Programmen, in der Etablierung von Gedenkstätten, in der Unterstützung der Menschenrechtsgruppen, in der Aufarbeitung, in der Symbolik und durch die Anerkennung der Verantwortung des Staates. Er hat den starken Ruf nach Erinnerung unterstützt und institutionalisiert. Möglich war dies aber nur wegen der unermüdlichen Vorarbeit der sozialen Organisationen selbst und ihrer jahrzehntelangen Forderungen an die verschiedenen Regierungen, die den Prozess der gesellschaftlichen und juristischen Aufarbeitung erst möglich gemacht haben.
Die so starke soziale Bewegung von heute wurde in der argentinischen Diktatur geboren: Ende der 1970er bildeten sich heute renommierte Gruppen wie das Zentrum für legale und soziale Studien CELS, die Organisation der Angehörigen der politischen Gefangenen und Verschwundenen oder die der Mütter der Plaza de Mayo, die es zu großer internationaler Anerkennung gebracht haben. Die Demonstrationen zum Jahrestag des Putsches sind zu einem Ausdruck der Menschenrechtslage und gesellschaftlichen Stimmung im Land geworden. Über die Jahre veränderten sich die Forderungen der Demonstrierenden, zunächst der Ruf nach Institutionen und Konsolidierung der Demokratie, nach Anerkennung des Verschwindenlassens als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nach Freiheit für politische Gefangene. Dann die Suche der Mütter nach ihren verschwundenen Kindern, ihr Versuch, ihnen durch Zeigen ihrer Fotos und Nennung ihrer Namen ihre Identitäten zurückzugeben, das Menschlichmachen der gesichtslosen Opfer der faschistischen Gewalt. Und immer wieder der Ruf gegen das Vergessen, gegen die Straflosigkeit, für Aufarbeitung, Urteile und Strafen – ni olvido, ni perdón, kein Vergessen, kein Vergeben.
Seit der Demonstration zum 20. Jahrestag des Putsches am 24. März 1996, als sowohl die politische Vielfalt als auch die Größe der Demonstration neue Ausmaße erreichte, ist der 24. März der Tag im Jahr, an dem für Menschenrechte sowohl in der Vergangenheit als auch in der Aktualität demonstriert wird.
Aktuelle Forderungen an die Politik werden auch von Organisationen der Mütter oder der Kinder der Verschwundenen mitgetragen. Zwar war es in den vergangenen Jahren zu Differenzen innerhalb der Bewegung hinsichtlich der Regierungsnähe der Organisationen gekommen. Insgesamt bleiben die Aktionen zum Jahrestag jedoch eine Synthese der verschiedenen sozialen Kämpfe des Landes mit der Diktatur als gemeinsamem Referenzpunkt.
Der diesjährige 24. März ist nicht nur ein weiterer Gedenktag. 40 Jahre sind seit dem Putsch vergangen. Die wirtschaftlichen Motive, für die damals geputscht wurden, gleichen auf erschreckende Art und Weise denen, die die demokratisch gewählte Regierung Mauricio Macris vertritt. Auch die Modelle ähneln den heutigen: Es beginnt ein neuer Zyklus der Auslandsverschuldung, Haushaltsdefizite werden durch Sparpolitik und Tarifanpassungen ausgeglichen, starke Abwertung der Währung für mehr Wettbewerbsfähigkeit, und auch heute sind wieder die wichtigsten Posten der öffentlichen Verwaltung mit Leuten aus der Wirtschaft besetzt. Erschreckend ist zudem, wie seit dem Tag des Amtsantritts Mauricio Macris seine Regierung und die ihr nahestehenden Kräfte in vielen symbolischen Aktionen versuchen, die Erinnerung umzudeuten, die Verbrechen der Diktatur zu relativieren und die hart erkämpfte Erinnerungskultur zu demontieren. Es gibt unzählige Beispiele, die mit dem Editorial der rechten Tageszeitung La Nación zum Wahlsieg Macris beginnen, das das „Ende der Lügen über die 70er Jahre“ feiert und mit dem Kulturminister der Stadt Buenos Aires, Dario Lopérfido, weitergehen, der die Zahl der 30.000 Verschwundenen öffentlich in Frage stellt. Dann sind da noch massenhafte Entlassungen und Kürzungen in Menschenrechtsprogrammen und in solchen zur Ermittlung und Aufarbeitung der Diktaturverbrechen; ein Treffen des Sekretärs für Menschenrechte Claudio Avruj mit einer Organisation von Angehörigen von Militärs, die den Staatsterror leugnet, das zu allem Überfluss im ehemaligen Folterzentrum und heutigem Ort der Erinnerung ESMA stattfand und zu guter Letzt der US-amerikanische Präsident, der am Jahrestag des Putsches auf Staatsbesuch in Argentinien war. Zwar werden allzu zwielichtige Aussagen aus Regierungskreisen im Nachhinein zurechtgewiesen, aber es handelt sich nicht um isoliertes Geschwätz, sondern um gewollte symbolische Attacken, die längst diskreditierte Aussagen wieder in die öffentliche Debatte zurückholen. Denn das, was als kollektive Erinnerung allgemein anerkannt ist, ist nun unter anderen politischen Vorzeichen erneut umkämpft. Es gibt Teile der Gesellschaft, die wieder die „gesamte Erinnerung“ fordern, in der sie den Staatsterrorismus mit linkem Widerstand gleichsetzen und Täter zu Opfer stilisieren. Heute stoßen sie wieder auf offene Ohren und einen politischen Rahmen, der den Raum dafür gibt. Die juristische Aufarbeitung kann Präsident Macri zwar nicht stoppen, aber er nimmt die ihr zugrundeliegende Struktur finanziell und personell auseinander. Auf mehreren Ebenen schafft er also mehr oder weniger subtil den Rahmen für einen anderen Erinnerungsdiskurs.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, das gemeinsame Ringen gegen das Vergessen hat die argentinische Gesellschaft aber nachhaltig geprägt. Erinnerung ist Identität geworden. Die Geschichte der Menschenrechte in Argentinien ist, wie Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel sagt, „eine Geschichte des Genozids und des Widerstands“. Die Diktatur hat nicht nur das Grauen hinterlassen, sondern auch die Kultur und Kraft des Widerstands. Dass dieser mehr als lebendig ist, hat die Demonstration zu 40 Jahren Putsch gezeigt. Nunca más – Nie wieder – bleibt die Parole unter der sich die sozialen Bewegungen den Herausforderungen der Gegenwart stellen müssen.


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