Afrika | Lateinamerika | Nummer 337/338 - Juli/August 2002

Gegen den Gleichheitsmythos

Rassismus und Anti-Rassismus in Brasilien

Anfang des vorigen Jahrhunderts galt Brasilien noch als Musterschüler in Sachen Rassismus. Schwarze aus Nordamerika kamen in das Land, um die dortigen Verhältnisse zu studieren. Doch spätestens seit den siebziger Jahren machen zahlreiche brasilianische AktivistInnen darauf aufmerksam, dass es mit der Harmonie zwischen den Rassen nicht so weit her ist. Nun erkennt auch die brasilianische Regierung das Problem an und bemüht sich, der Bevölkerung die Benachteiligung von Schwarzen bewusster zu machen.

Sérgio Costa

Verblüfft hörte der brasilianische Präsident letzten Mai anlässlich eines offiziellen USA-Besuches die Frage seines Kollegen George W. Bush: „Do you have blacks, too?“ Die Frage Bushs ermöglichte allerdings keine Ja-Nein-Antwort für den Soziologen Cardoso, der seine eigene Mestizität gerne verkündet. Andererseits durfte der perplexe F. H. Cardoso des Protokolls halber Bush über die moderne Kolonialgeschichte nicht belehren. Glücklicherweise kam Condolezza Rice zur Hilfe und klärte Mr. President auf, dass Brasilien das Land außerhalb Afrikas mit dem größten Bevölkerungsanteil von Schwarzen ist.
Bush’s Amtsvorgänger wussten über die ethnische Zusammensetzung Brasiliens besser Bescheid, so schrieb etwa Theodore Roosevelt bis 1914 eine Reihe von Zeitungsartikeln zum Thema „Brazil and the Negro“, in der er bedauerte, dass es das brasilianische friedliche Zusammenleben aller demographischen Gruppen in den USA nicht gebe. Auch die US-amerikanische „Zivilgesellschaft“ weist eine historische Verbindung zu Brasilien auf. So kamen bis in die 40er Jahre Delegationen von US-amerikanischen schwarzen AktivistInnen nach Brasilien, um den angeblichen Erfolg Brasiliens bei der Beseitigung ethnischer Spaltungen näher zu betrachten.
In den 50er Jahren gab die UNESCO eine umfassende Studie über die ethnischen Beziehungen in Brasilien in Auftrag, in der Hoffnung, dass daraus positive Impulse hervorgehen könnten, um dem Westen bei der Überwindung der Tragödie des Holocausts zu helfen. Die Absicht der UNESCO scheiterte allerdings an der von dieser Studie tatsächlich erfassten sozialen Kluft zwischen weißen und schwarzen Brasilianern.
Seit den 1970er Jahren wurden die Kontakte zwischen den anti-rassistischen Bewegungen in beiden Ländern intensiviert, wobei man sich nun auf die Bekämpfung des Rassismus in Brasilien konzentrierte. Inzwischen hat sich ein dichtes Netwerk herausgebildet, das US-amerikanische und brasilianische Nichtregierungsorganisationen, SozialwissenschaftlerInnen, anti-rassistische AktivistInnen und US-amerikanische Stiftungen unter Führung der Ford Foundation zusammenschließt. Es ist ein neuer Anti-Rassismus, der von einem in Brasilien bereits etablierten historischen Anti-Rassismus abweicht. Im Rahmen der US-amerikanischen-brasilianischen Kooperation sind zunächst mehrere Untersuchungen entstanden, die zeigen, dass eine deutliche Chancenungleichheit zugunsten der weißen BrasilianerInnen herrscht und dass diese Disparitäten historisch nicht nachlassen sondern steigen.

Strukturelle Benachteiligung der Nicht-Weißen

Aus der strukturellen Benachteiligung der Nicht-Weißen (pretos (Schwarze) und prados (Braune)) zogen die AktivistInnen politische Konsequenzen. Wenn die Polarisierung zwischen Weißen und Nicht-Weißen die sozialen Chancen mit strukturiert, sollten die sozialen Identitäten dadurch ebenfalls geprägt werden. Demgegenüber existiert ein Gleichheitsmythos, der die bestehenden Missverhältnisse ideologisch verbirgt. Deshalb müsse der Anti-Rassismus die Entstehung eines Bewusstseins über die „rassische“ (bras.: racial) Ungleichberechtigung fördern. Politisch wurde dafür plädiert, dass der brasilianische Staat durch eine differenzierte Politik die Entstehung einer schwarzen Identität zu unterstützen habe. Kulturell sollte sich der Anti-Rassismus in Brasilien an die Demonstrationen der afrikanischen Diaspora anschließen, die sich im Kulturraum des so genannten Black Atlantic abspielen, wobei zum Beispiel das US-amerikanische Civil Rights Movement, die kulturelle Renaissance der Karibik, der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika und so weiter gemeint waren.

240 Hautfarben

Im Lager des historischen Anti-Rassimus wird die Betonung der rassischen Identität abgelehnt. Danach ist die Chancengleichheit in Brasilien „eine ritualisierte Bestätigung von Prinzipien, die für die Sozialordnung einen konstituierenden Wert aufweisen“, wie der in Rio lebende britische Anthropologe Peter Fry sagt. Daraus gehen individuelle und kollektive Identitätsmuster hervor. Eine anti-rassistische Politik müsste also dazu führen, dass die Etablierung einer Chancengleichheit mit der Würdigung zahlreicher selbstkonstruierter Zwischenkategorien einhergeht – in einer 1999 in Brasilien durchgeführten Befragung kamen 240 Bezeichnungen der eigenen Hautfarbe zum Vorschein. Der historische Anti-Rassismus beschreibt Brasilien im Gegensatz zu den USA als eine Gesellschaft, die die kulturelle Erbschaft aller vorhandenen Ethnien in eine „hybride“ brasilianische Kultur absorbiert hat. Das nationale Selbstverständnis integriert also alle demographischen Gruppen. Man befürchtet, dass antirassistische Maßnahmen, die zu einer expliziten Differenzierung zwischen Schwarzen und Weißen führen (Quotenregelung, affirmative action usw.), das vorhandene interethnische Zusammenleben zerstören könnten.
In der Innenpolitik Brasiliens kommen sowohl der historischen als auch der neuen Form des Anti-Rassismus eine wachsenden Bedeutung zu. Die radikale Politik der Identität wird zwar von einer gewissen international vernetzten Elite von AktivistInne befürwortet, findet aber kein großes Echo bei der Basis der Schwarzenbewegung und bei der schwarzen Bevölkerung selbst. Die antirassistische Botschaft wird wahrgenommen aber reinterpretiert und umformuliert, so dass sie den lokalen Bedürfnissen und Ansprüchen angepasst wird. Im Grunde erkennt man die Notwendigkeit, die auf der Hautfarbe basierenden sozialen Ungleichheiten zu bekämpfen, wobei ein Selbstverständnis, welches Schwarze und Weiße polarisieren würde, abgelehnt wird.

Neue Regierungsmaßnahmen gegen Rassismus

Die brasilianische Regierung zeigte sich für die Botschaft der antirassistischen Bewegungen empfänglich und erkennt immer mehr die strukturelle Benachteiligung der Schwarzen. Jüngst wurden sogar kompensatorische Maßnahmen eingeführt, die afro-descendentes (Afrostammige) begünstigen sollen. Erwähnenswert ist hier das kürzlich eingeführte Programm des Außenministeriums, das den Zugang der afro-descendentes zu diplomatischen Karrieren erleichtern soll. Eine rechtliche Bestimmung der Kategorie afro-descendentes riskiert die Regierung allerdings nicht: Das entscheidende Kriterium bleibt also die Selbstdefinition der BewerberInnen.
Im Rahmen der internationalen Vernetzung der Anti-Rassismus-Bewegung wurden durchaus neue Erkenntnisse über die ungleiche Behandlung der schwarzen BrasilianerInnen sowie politische Fortschritte erreicht. Die internationale Unterstützung hat dem Anti-Rassismus eine neue politische Legitimation verliehen und dazu verholfen, die Bekämpfung des Rassismus in die politische Agenda zu integrieren. Bislang hat der historische Anti-Rassismus nur wenige greifbare Ergebnisse erzielt, dennoch darf man seine Rolle nicht unterschätzen: Er trägt dazu bei, die antirassistische Politik der Regierung den lokalen Anerkennungsansprüchen anzupassen.

Eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft

Gleichgültig in welcher Prägung er erscheint, stellt die zunehmende Bedeutung des Anti-Rassismus in Brasilien eine wichtige politische Errungenschaft dar. Immer mehr BrasilianerInnen erkennen, dass der strukturellen Benachteiligung der Schwarzen eine Begünstigung der Weißen innewohnt. Infolgedessen reicht es für eineN weißeN BrasilianerIn nicht mehr, sich als Nicht-RassistIn zu bekennen. Solange er/sie sich nicht aktiv am Anti-Rassismus beteiligt, profitiert er/sie von der rassistischen sozialen Ordnung. Auf der politisch-moralischen Ebene ist die Beseitigung aller Formen des Rassismus also eine Aufgabe der gesamten brasilianischen Gesellschaft.

Der Autor ist promovierter Soziologe am Lateinamerika-Institut der FU Berlin

Buchveröffentlichung: Dimensionen der Demokratisierung, Frankfurt, 1997.

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