Gegen die Auflösung der Nation
Die PT diskutiert ihr Regierungsprogramm
Bereits im Oktober letzten Jahres hatte die Partei Leitlinien zur Erarbeitung eines Regierungsprogramms veröffentlicht und eine Programmkommission eingesetzt, in der alle Strömungen der Partei vertreten waren. Die Erarbeitung eines Regierungsprogrammes war begleitet durch einen breiten innerparteilichen Diskussionsprozeß, wie auch durch ein hartes Ringen um einzelne Punkte. Oberste Leitlinie sollte dabei sein, daß die PT nichts versprechen dürfe, was sie als Regierung schließlich nicht umsetzen könne. Im März dieses Jahres legte die Programmkommission einen 112 Seiten starken Entwurf vor. Bis zum 25. April hatten die Gruppen in der Partei nicht weniger als 289 Änderungsvorschläge erarbeitet, die den Delegierten in einem 124 Seiten umfassenden, größeren DIN A4-Heft präsentiert wurden. Hinzu kamen unzählige nderungsanträge, die in letzter Minute eingereicht wurden – ein Papierwust, der kaum noch zu bewältigen war. Und so konnte es nicht verwundern, da sich die Diskussion auf dem Programmparteitag auf einige wenige symbolische Punkte konzentrierte: Abtreibung, Verhältnis zu den Militärs und die Frage der Auslandsschulden standen bereits im Vorfeld im Blickpunkt der Diskussion. Jenseits aber von Polemiken um einzelne Punkte, mußte die PT in ihrer Programmdiskussion eine Antwort auf die Frage finden, wie denn ein linkes Regierungsprojekt in Lateinamerika aussehen kann.
Die Linke will an die Macht
Eines sei gleich klargestellt: Es gibt unter den linken und fortschrittlichen Kräften keine wichtige Strömung, ja nicht einmal eine individuelle Stimme von Bedeutung, die die Regierungsübernahme nicht will. Die Linke hat in Brasilien die Chance, die Wahlen zu gewinnen und sie will regieren. Selbst die linksradikale PT-Abspaltung PSTU, die der PT übelsten Reformismus vorwirft, unterstützt vorbehaltlos die Kandidatur Lulas. Die Frage ist eher, was kann und will eine Regierung Lula erreichen. Dabei kann die internationale Situation nicht aus dem Blickwinkel geraten: Vier Jahre nach dem Fall der Mauer ist es wohl unmöglich, einen tropischen Sozialismus in einem Land zu verkünden, noch dazu aller Wahrscheinlichkeit nach ohne eine Mehrheit im Parlament. Die große Herausforderung, vor der die PT heute also steht, lautet: Wie kann unter den aktuellen Bedingungen von Weltmarkt, Globalisierung und interner Krise Brasiliens ein gesellschaftlicher Transformationsprozeß eingeleitet werden, der auf mehr Gerechtigkeit zielt.
In den Leitlinien zum Regierungsprogramm hatte die PT versucht, die Stoßrichtung eines solchen Projektes zu beschreiben: “Die Partei der Arbeiter geht in den Wahlkampf mit dem Profil einer sozialistischen, linken Partei, die mit anderen sozialen und politischen Kräften eine breite Koalition formieren muß. Die Vorschläge, die die PT in ihrem Regierungsprogramm vorlegen wird, gehen in die Richtung einer demokratischen und antimonopolistischen – und das heißt antiimperialistischen und gegen den Großgrundbesitz gerichteten – Transformation, die Teil einer langfristigen Strategie ist, um eine Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln, eine demokratische Revolution, die radikal die Basis der Macht ändert. Die Definition dieses sozialistischen Projektes entwickelt sich aus einer Vertiefung der Kritik an den Paradigmen des staatsbürokratischen Sozialismus und der Sozialdemokratie, über den Aufbau einer Alternative zum Kapitalismus, der weltweit und insbesondere in Brasilien seine Unfähigkeit an den Tag legt, die Forderungen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu erfüllen. Der Sozialismus kann für die PT nicht das Konstrukt einer Utopie sein, das dann in eine ferne Zukunft verschoben wird. Er hat eine aktuelle Bedeutung.”
Wie aber schlägt sich ein solches Bekenntnis zum Sozialismus im Programm nieder? Einen Hinweis gibt schon der Titel des Programms: “Eine demokratische Revolution in Brasilien.” Eine etwas gründlichere Lektüre des Programmentwurfes wie auch die Debatten um dasselbige, zeigen, daß zwei verschiedene Grundansätze ziemlich unverbunden nebeneinanderstehen: den einen könnte man als Rekonstruktion eines nationalen Entwicklungsprojektes bezeichnen, den anderen als Entwurf für eine neue gesellschaftliche Ethik.
Ein neues nationales Projekt?
Die VertreterInnen des ersten Grundansatzes durften sich vor allem im 4. Kapitel des Regierungsprogrammes ausbreiten: “Wirtschaft und Gesellschaft transformieren und eine Nation errichten”. Das Kapitel trägt deutlich die Handschrift von Cesar Benjamin, einem der Chefökonomen der PT. Es geht aus von einer Analyse der brasilianischen Krise, die nach fünfzehnjähriger Dauer nicht mehr einfach als eine Wirtschaftskrise begriffen werden kann, sondern eine Auflösung der Nation bewirkt: Explodierende Inlands- und Auslandsverschuldung und eine Inflation, die seit Jahren nicht zu besiegen ist, sind die Symptome einer tiefgehenden Systemkrise, die einen vorangegangenen fünzigjährigen Wachstumszyklus endgültig begraben hat. Die neoliberale Antwort auf die Krise verfolgt ein klares Ziel. Eine Gesellschaft mit einigen Entwicklungsenklaven und einer kleinen Oberschicht, während die große Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen bleibt.
Diesem Szenario will die PT (oder Cesar Benjamin) einen neuen Entwicklungszyklus entgegensetzen, der auf zwei Elementen aufbaut: über eine Einkommensumverteilung soll der interne Markt stimuliert werden und über politischen Druck soll eine effektive Politik der Armutsbekämpfung eingeleitet werden. Mit Hilfe dieser beiden Elemente kann – so das Szenario der PT – ein neuer, langer Wachstumszyklus eingeleitet werden. Für beides ist ein reformierter, effizienter und aktiver Staat erforderlich, der nicht mehr das Instrument einzelner Machtgruppen, sondern durch den Druck der sozialen Bewegungen zu einem Instrument eines nationalen Projektes werden würde.
Wachstum via Stärkung des internen Marktes ist weder ein neues noch ein besonders revolutionäres Projekt. Das Parteiprogramm bewegt sich hier auf recht traditionellem, altlinkem Terrain, in dem Wachstum der Schlüsselbegriff ist und der Reformaspekt sich auf die Frage der Einkommensverteilung zuspitzt. In demselben Kapitel finden sich aber Passagen, die offensichtlich die Handschrift eines anderen Theoretikers der PT tragen: Christovam Buarque, ehemaliger Rektor der Universität von Brasilia und jetziger Kandidat für das Gouverneursamt in der Hauptstadt. Buarque hat dafür gesorgt, daß der Begriff der “sozialen Apartheid” zu einem Schlüsselbegriff der Zustandsbeschreibung der brasilianischen Gesellschaft wurde. Durch diesen Begriff ist die Frage der sozialen Ausgrenzung in den Mittelpunkt der Analyse gerückt. Dies ist für die PT ein wichtiger Entwicklungsprozeß. Entstanden als “Partei der Arbeiter” mit starken Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung – deutlich verkörpert Lula diese Tradition der PT – ist sie auch zu einer Partei der unorganisierten Interessen der Gesellschaft geworden.
Noch bei den Wahlen 1989 hatt eine perverse Allianz zwischen Oligarchie und unorgansierten Sektoren der Gesellschaft die Wahl zugunsten des Demagogen Collor entschieden. Die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung arbeitet eben nicht in formellen Arbeitsverhältnissen, sondern im informellen Sektor. Und tendenziell nimmt das Gewicht der formalisierten Arbeitsplätze ab. Auf diese Herausforderung kann eine Politik, die sich primär auf die Forderungen der organisierten Sektoren stützt, keine Antworten geben. Und allein ein neuer Wachstumszyklus, das beweisen die Erfahrungen des entwickelten Kapitalismus, kann das Problem der Ausgrenzung nicht lösen. In einem Artikel zur Debatte über das Regierungsprogramm hat Buarque seine Ideen audrücklich den Wachstumsideologien entgegengestellt: “Es gibt zwei verschiedene Linke: Die eine beschäftigt sich mit der Verteilung zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Profit und Lohn… und es gibt eine andere Linke, die eine Revolution der nationalen Prioritäten erreichen will… Die Frage, die wir heute in Brasilien stellen müssen, lautet nicht Wie wachsen? sondern Wohin wachsen?” Für Buarque steht also die Definition von Wachstumszielen an erster Stelle. Und das bedeutet für ihn in erster Linie umfassendes Reformprogramm für die “Ausgeschlossenen”. Diese Orientierung hat er als “ethische Modernität” bezeichnet, die sich von einer rein technischen Modernität unterscheidet. Konzeptionell bedeutet dies eine Abwendung von den organisierten Interessen der Gesellschaft hin zu den unorganisierten Sektoren. Wichtig ist, daß zu der ethischen Modernität auch der Schutz der Umwelt gehört, ein Aspekt der bei den “Wachstumslinken” nicht auftaucht.
Auf die Frage, ob sich die beiden Reformansätze verbinden lassen, gibt der Programmentwurf der PT jedoch noch keine Antwort. Vielleicht ist diese Unklarheit aber auch lediglich Ausdruck der unterschiedlichen Strömungen in der PT.