Geisel der armen Geburt
“Como nascem os anjos” prangert geschickt die sozialen Gegensätze in Brasilien an
Es beginnt in einer der ältesten Favelas von Rio de Janeiro. Ein deutsches Fernsehteam ist bemüht, die Sorgen und Hoffnungen der BewohnerInnen von Dona Marta einzufangen, deren Hütten am steilen Hang tief zu Füßen des Corcovado-Berges kleben. Die dreizehnjährige Branquinha ist nur allzu gerne bereit, Rede und Antwort zu stehen, träumt sie doch lange schon von einem Auftritt im Fernsehen. Die Fragen sind ihr zwar offenkundig zu abstrakt, aber sie plappert munter drauf los.
Nur daß sie immer von ihrem Mann spricht, verwirrt JournalistInnen wie ZuschauerInnen gleichermaßen. Der macht im Auftrag eines Mafia-Bosses eine erbeutete M16-Maschinenpistole funktionsfähig. Niemand traut dem dicklichen Tolpatsch Maguila Derartiges zu. Doch den Beweis von dessen waffentechnologischen Fähigkeiten bezahlt der Obergangster mit seinem Leben. Grund für Maguila, erst einmal unterzutauchen und schließlich aus Dona Marta zu fliehen. Die improvisierte Entbführung eines Autos, bei der Maguila und seine jugendliche Möchtegern-Ehefrau noch den befreundeten Pennäler Japa mitnehmen, endet in einem Villenviertel der brasilianischen Metropole.
Als die größte Aufregung vorüber ist, verspürt Maguila ein menschliches Rühren, doch sein verständlicher Wunsch nach Erleichterung wird vom Chauffeur der angepeilten Villa mißverstanden: Er schießt dem von Harndrang Gepeinigten kurzerhand ins Bein. Nun überstürzen sich die Ereignisse. Obwohl die drei Eindringlinge von Anfang an beteuert hatten, sie wären keine Kriminellen und wollten auch gar nichts Böses, rutschen sie doch immer tiefer in die Rolle von GeiselnehmerInnen hinein. Vorbild für das Handeln der beiden Kinder, die nach der Verletzung von Maguila auf sich allein gestellt sind, ist unverkennbar die Pseudorealität tausender Fernsehkrimis, die sie in ihrem kurzen Leben schon gesehen haben. Japa freut sich jedes Mal wie ein Schneekönig, wenn seine “Fernseherfahrungen” eintreffen und er als kleiner Macho Herr der Lage bleibt. Währenddessen entdecken die beiden Favela-Kinder Branquinha und Japa in dem großbürgerlichen Haushalt immer neue Dinge, die sie bisher nur aus dem Fernsehen kannten. Plötzlich wird die virtual reality ihres eigenen Lebens ganz real und erfahrbar, beispielsweise in Form moderner Sportschuhe, die auf legalem Wege für die Armen nicht zu haben sind. Ein gelungener Beweis dafür, daß man das Elend der Slums nicht unbedingt zeigen muß, um die ungerechte Einkommensverteilung in einem Land wie Brasilien eindringlich darzustellen.
Der Hausherr, ein Techniker aus den USA, seine hysterische, kein Wort Portugiesisch sprechende Tochter und die Hausangestellte werden mit Pistolen in Schach gehalten und gefesselt. Geduldig sucht der US-Bürger immer wieder nach einer Lösung für die verfahrene Situation, seine oberste Maxime scheint die der Besonnenheit zu sein. Doch die von Zufällen lebende, an Absurdität kaum zu überbietende Geschichte der “geborenen Engel” nimmt scheinbar unaufhaltsam ihren Lauf. Bald ist der Ort der versehentlichen Geiselnahme von schwerstbewaffneter Polizei umzingelt. Es gibt Versuche, die merkwürdige Situation zu beenden. Doch wo Arm und Reich so unvorbereitet und ungefiltert aufeinander treffen, ist keine Kommunikation möglich.
Das Ende des Films erleben die ZuschauerInnen nicht mehr ausschließlich aus der Sicht der KinobesucherInnen. Immer nachdrücklicher schiebt sich eine andere, für die meisten Menschen unserer Zeit viel gewohntere Wahrnehmung darüber: Ganz im Stile des Reality-TV, das auch in Brasilien längst ungehemmte Urstände feierte, bestimmt die mediale Darstellung des Ereignisses die letzten Eindrücke. Die Fernsehkameras sind hautnah dabei, doch sie können offenkundig nicht die ganze Wirklichkeit erfassen. Gegenüber dem filmischen Erlebnis verblassen die Kommentare der BerichterstatterInnen zu einem Einheitsbrei mit künstlicher Emotionaltät.
Ein absurder Film über eine absurde Realität
Murilo Salles ist es mit seinem Spielfilm gelungen, die sozialen Ungleichheiten in Brasilien anzuprangern. Die Absurdität der gesellschaftlichen Gegensätze in Brasilien klarzumachen, ist seine Idee. Er tut dies mit einem absurden Film, nicht mit einem erhobenen Zeigefinger. Es gibt keine klare Trennung zwischen Gut und Böse. Es gibt nur eindeutige VerliererInnen. Die vermeintlich Bösen, die ja eigentlich gar keine Bösen sind, sondern durch eine absurde Verkettung von Umständen in diese Rolle geraten, haben ganz sympathische, kindliche Züge. Aber eben keine Chance. Aus der Vermischung eines absurden Dramas, dessen tragisches Ende unausweichlich erscheint, mit der Ästhetik des modernen Reality-TV bezieht der Film, “Wie Engel geboren werden” seine Dynamik und seine Spannung. Und er hinterfragt nachdrücklich die gesellschaftlich dominierende Rolle des Mediums Fernsehen.
“Como nascem os anjos”, Buch und Regie: Murilo Salles; Brasilien, 1996.