Chile | Nummer 341 - November 2002

General stolpert über Manipulation

Der Chef der chilenischen Luftwaffe ist zurückgetreten

Am 13. Oktober endete vorläufig eine Krise, die einen Monat lang die chilenischen Medien beherrschte: General Ríos, Chef der Luftwaffe, trat zurück. Seine Abteilung steht in dem Verdacht, ihre Verbrechen während der Diktatur nicht wie vereinbart aufgedeckt zu haben. Der Konflikt zeigt in beispielhafter Form die Probleme der chilenischen Gesellschaft bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit.

R. Leuschner

Hat ein Geheimdienstkommando aus der Zeit der Diktatur sich weiterhin innerhalb der Luftwaffe darum bemüht, die Spuren früherer Verbrechen zu verwischen? In welchem Ausmaß hat es den Bericht über Menschenrechtsverletztungen manipuliert? Welche Verantwortung trägt dabei General Patricio Ríos, der Chef der Luftwaffe? Diese Fragen hatten die Führung der chilenischen Luftstreitkräfte seit September in erhebliche Turbulenzen gestürzt, bis am 13. Oktober Ríos dem Präsidenten seinen Rücktritt anbot. Der belässt ihn bis zur Ernennung des Nachfolgers im Amt. So wurde aus dem sich abzeichnenden Absturz des Generals doch noch ein Gleitflug. Im September hatte Otto Trujillo, ein ehemaliges ziviles Mitglied des geheimdienstlichen Terrorkommandos Comando Conjunto erklärt, dass die Luftwaffe in ihrem Beitrag für die Mesa del Diálogo (Runder Tisch) Informationen über Verbrechen dieses Kommandos in der Zeit der Diktatur unterdrückt hatte.
Der runde Tisch wurde im August 1999 vom damaligen Verteidigungsminister Edmundo Pérez Yoma als ein Forum einberufen, in dem Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, der Streitkräfte, der Polizei und der katholischen Kirche das Schicksal der unter der Diktatur Verhafteten und Verschwundenen klären sollten. Es war der Versuch, die Vergangenheit aufzuarbeiten und einen Schritt in Richtung Versöhnung zu tun.
Die Initiative des Verteidigungsministers stand sicher auch im Zusammenhang mit der damaligen Inhaftierung Pinochets in London. Die Regierung Frei setzte sich für die Rückkehr Pinochets nach Chile ein, damit ihm im Lande der Prozess gemacht werden könnte. Der Dialog mit den Streitkräften sollte auch dem Ausland zeigen, dass eine Aufarbeitung der Vergangenheit möglich sei.
Die „Ordnungskräfte”, also Militär und Polizei, verpflichteten sich, alles ihnen Mögliche zur Aufklärung beizutragen, etwa indem die Stätten preisgegeben wurden, an denen Verschwundene bestattet worden waren. Im Gegenzug wurde ihnen zugesichert, dass ihre Informanten absolut anonym bleiben durften. Auf diese Weise sollte die Ungewissheit der Angehörigen der Opfer beendet und die Mitwisser vor juristischer Verfolgung weitgehend geschützt werden.
Im Januar 2001 wurde Präsident Lagos ein Abschlussbericht übergeben, in dem das Schicksal von 180 namentlich genannten und 20 unbekannten Opfern geklärt wurde. Politisch bedeutsam war vor allem, dass die „Ordnungskräfte” eingestanden, dass unter der Diktatur militärische Institutionen schwerste Menschenrechtsverletztungen begangen hatten – und es nicht nur, wie bis dahin die Lesart war, zu individuellen Exzessen einzelner Uniformträger gekommen war. Innerhalb dieses Berichts spielt das Comando Conjunto, das sich aus Angehörigen der Luftwaffe und der Polizei zusammensetzte, eine besondere Rolle. In den Jahren 1975 und 1976 gelang es ihnen, die Führung der KP im Untergrund aufzuspüren und zu ermorden. Mitte der 80er Jahre, als der Widerstand gegen die Diktatur wuchs, war das Kommando abermals an der Ermordung Oppositioneller beteiligt.
Zweifel der Menschenrechtsvertreter an der Aufrichtigkeit der Aufklärungsbemühungen innerhalb der „Ordnungskräfte” wurden bestätigt, als zufällige Leichenfunde in militärischen Anlagen eindeutig identifiziert werden konnten, obwohl beispielsweise die Luftwaffe erklärt hatte, die Leichen seien vom Hubschrauber aus ins Meer geworfen worden. Offenbar war es den Verantwortlichen der Luftwaffe zweckmäßig erschienen, das barbarische Vorgehen einzugestehen und damit die Spuren zu den Tätern zu verwischen.

Comando Conjunto weiter aktiv?

Bei seinen Aussagen im September erklärte Otto Trujillo, das Comando Conjunto habe weiterhin innerhalb der Luftwaffe mit dem Ziel agiert, Informationen über Verschwundene zu manipulieren, um sich und andere vor möglicher strafrechtlicher Verfolgung zu schützen. Trujillo, selbst in Haft, nannte den Namen einer ehemaligen „Agentin“ mit dem Spitznamen „la Pochi“. La Pochi ist inzwischen die Ehefrau des ranghohen Luftwaffengenerals Campos.
Publiziert wurden die Aussagen an zwei Sonntagen in Folge in der Zeitung La Nación, die als Sprachrohr der Regierung gilt. Damit gewannen die Vorwürfe Trujillos erhebliches Gewicht und die Zweifel an der Aufrichtigkeit der Aufarbeitung seitens der Militärs neue Nahrung. Das Besondere an der Veröffentlichung war, dass die Reportage aus der Feder eines Journalisten stammte, der sich bis dahin eher schillernden Figuren des gesellschaftlichen Lebens gewidmet hatte.
General Campos trat empört zurück, um so besser seine und die Ehre seiner Frau vor Gericht verteidigen zu können. Wenige Tage später wurde öffentlich bekannt, dass es eben dieser Ehemann der früheren Agentin war, der für die Luftwaffe die Informationen über das Schicksal der Ermordeten gesammelt und für den Abschlussbericht vorbereitet hatte.

Dürftige zwei Seiten

Schon nach Erscheinen der Reportagen und verstärkt nach Bekanntwerden dieses Details verlangte die Regierung von General Ríos eine Untersuchung der Vorwürfe und eine Erklärung der befremdlichen Personalentscheidung zu Gunsten von Campos. Der erste Bericht Ríos’ an Präsident Lagos fiel mit knapp zwei Seiten mehr als dürftig aus. Seine Erklärung, Campos sei mit der Sammlung der Informationen deshalb beauftragt worden, weil er eine besondere Nähe zur Problematik der Menschenrechtsverletzungen habe und deshalb bei möglichen Informanten besonderes Vertrauen genieße, fand Lagos „inexplicable”, nicht nachvollziehbar.
Aus dem Fall Comando Conjunto war der Fall General Ríos geworden. Die Medien titelten, Lagos habe kein Vertrauen mehr in den Luftwaffenchef. So wörtlich hatte Lagos das zwar nicht erklärt, aber genau dies war die Botschaft. Forderungen nach seinem Rücktritt kamen von verschiedenen Seiten. Der Chef der Luftwaffe wies sie entschieden zurück. Seine Amtszeit sollte im Juni 2003 enden.

Zwangsjacke Verfassung

Allerdings erhob niemand aus Regierungskreisen eine Rücktrittsforderung. Denn zu den Erblasten der chilenischen Verfassung aus Zeiten der Diktatur gehört, dass der Präsident die Oberkommandierenden der Streitkräfte und Polizei zwar auf vier Jahre berufen, aber nicht entlassen kann. Das ist allein dem „Sicherheitsrat” vorbehalten, der, anders als sein Name vermuten lässt, nicht nur berät, sondern auch entscheiden kann. Das achtköpfige Gremium ist zur Hälfte mit den Waffenträgern besetzt. Ein Schulterschluss mit dem bedrängten Waffenbruder wäre zu befürchten. Dass politisch-moralischer Druck seitens des Präsidenten wirkungslos bleibt, hatte Lagos’ Vorgänger, Präsident Frei, vor einigen Jahren in einem vergleichbaren Fall erlebt. Der betroffene Polizeichef Stange blieb trotz der Rücktrittsforderung des Präsidenten stur auf seinem Posten. Neu am Fall Ríos ist allerdings, dass er Kritik auch aus den eigenen Reihen erfährt, unter anderem wegen seines autoritären Führungsstils. Kritiker, die noch im Dienst sind, lassen sich in der Presse natürlich anonym zitieren, Generäle, die wegen Differenzen mit ihrem Chef zurückgetreten sind, zeigen ihm gegenüber keinen Korpsgeist mehr.

Comando Conjunto aus den Schlagzeilen

Die Turbulenzen um den Oberkommandierenden der Luftwaffe haben das eigentliche Problem, das Fortwirken des Comando Conjunto innerhalb der Luftwaffe, aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Seinem ersten, allzu kargen Untersuchungsbericht hat Ríos inzwischen einen zweiten nachgeschoben. Über seinen Inhalt wurde öffentlich nichts bekannt; über seinen Umfang zirkulieren in den Medien Angaben von zwei (sic!) bis zu dreihundert Seiten. Die Regierung hat ihn der Justiz zukommen lassen. Sie soll ermitteln, ob die von Trujillo behaupteten Manipulationen des Comando Conjunto als Behinderung der Justiz zu bewerten und zu verfolgen sind.

KASTEN:
Die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen

Mit der 1978 von der Diktatur verkündeten Amnestie bleiben bis zu diesem Jahr begangene Verbrechen weitgehend straffrei. Die der Diktatur hörige Justiz interpretierte das Gesetz so, dass auch jegliche Untersuchung der Verbrechen – bei anschließender Amnestie – zu unterbleiben habe. Als einer der wenigen aufrechten Richter begann Carlos Cerda in den 80er Jahren die Verbrechen des Comando Conjunto von 1975-76 zu untersuchen. Dabei hatte er auch die Agentin ”La Pochi” im Visier. Das Oberste Gericht erzwang die Anwendung der Amnestie und damit die Niederschlagung des Verfahrens, die erteilte Rüge hat Cerdas weitere Karriere bis in die Gegenwart beschädigt. Erst unter Aylwin, dem ersten Präsidenten nach der Diktataur, setzte sich mühsam eine andere Interpretation des Amnestiegesetzes durch: Die Gerichte sollen versuchen, die Menschenrechtsverbrechen aufzuklären , um anschließend allerdings zu amnestieren. Als hilfreich erwies sich dabei die juristische Figur, die Fälle der Verschwundenen als noch andauernde Entführungen zu verstehen, die aufzuklären seien. Hinzu kam, dass diese staatlichen Terrorbanden durch kein Dekret der Diktatur legalisiert worden waren. Einige Richter beurteilen diese Gruppierungen inzwischen als asociación ilícita, was wohl einer kriminellen Vereinigung entspricht. So ist es in einer Reihe von Fällen doch noch zu Prozessen gekommen. Dieser Gefahr sollten die Manipulation der Informationen durch General Campos offenbar entgegenwirken.

Eine versöhnliche Geste

Während der geschilderten Turbulenzen um die Luftwaffe zeigte sich das Heer um eine versöhnliche Geste bemüht – es ehrte seinen ehemaligen Oberkommandierenden Carlos Prats mit einer Gedenkmesse. Dieser Akt war offenbar schon länger geplant, also keine Reaktion auf die Probleme der Luftwaffe. Das Besondere an dieser Gedenkveranstaltung: Prats war der Vorgänger Pinochets. Als er in den letzten Wochen der Allende-Regierung zurücktrat, ahnte er ebenso wenig wie Allende, dass damit den Putschplänen Pinochets ein Hindernis aus dem Weg geräumt war. Prats ging nach dem Putsch ins Exil nach Buenos Aires. Dort fiel er mit seiner Frau am 30. September 1974 einem Bombenanschlag der chilenischen Geheimdienstes DINA zum Opfer. Noch im vorigen Jahr lehnten Vertreter des Heeres ihre Teilnahme an einer Gedenkmesse ab, zu der die Regierung eingeladen hatte, mit der Begründung, das sei ein politischer Akt. Der neue Chef des Heeres Cheyre, seit einigen Monaten im Amt, sucht offenbar neue Akzente zu setzen.

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