Genozid ohne Täter
Zum Stand der juristischen Aufarbeitung des Massakers von Tlatelolco
Seit über einem Jahr steht Luis Echeverría Álvarez unter Hausarrest. Ihm wird vorgeworfen, in seiner Funktion als Präsident (1970-1976) und Innenminister (1964-1970) maßgeblich für die Massaker an Studierenden 1968 und 1971, sowie für die Verbrechen des so genannten Schmutzigen Krieges gegen die Linke in den 1970er Jahren verantwortlich zu sein. „Die Anklage lautet Genozid“. Beweismaterial gibt es zu genüge. 52 000 Seiten zählt Echeverrías Ermittlungsakte von der ehemaligen Sonderstaatsanwaltschaft zur Aufarbeitung der staatlichen Verbrechen der 1960er bis 1980er Jahre – angfangen mit dem „Massaker von Tlatelolco“ am 2. Oktober 1968, bei dem eine bis heute ungeklärte Zahl von Menschen von staatlichen Sicherheitskräften während einer studentischen Kundgebung erschossen wurde. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes mussten 2002 ein Ex-Präsident und hohe Militärs vor Gericht aussagen. Erstmalig zeigte eine Justizbehörde in ihren Ermittlungen, dass es sich bei den Taten um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt und machte oberste Staatsvertreter dafür verantwortlich.
Das sind auch heute noch unbequeme Entwicklungen für viele Kräfte im mexikanischen Staat, die kein Interesse an einer wirklichen Aufarbeitung haben. Im Juli 2007 entschied nun Bundesrichter Luna Altamirano mittels eines amparo, einer Art Einspruch, den Prozess gegen Echeverría erneut vorerst einzustellen. Dieser Entscheidung waren in den Jahren zuvor mehrere juristische Querelen voraus gegangen. Zur Begründung der einstweiligen Verfügung der Anklage hieß es diesmal, es konnte in der Durchsicht der Ermittlungsakte kein Beweis dafür gefunden werden, dass Echeverría an der „Planung, Konzeptualisierung und Ausführung“ der Verbrechen beteiligt gewesen wäre. Zugleich aber erkannte der Richter an, dass es sich bei den Verbrechen um Genozid gehandelt habe. „Absurd“ nennt Raúl Álvarez Garín, Vorsitzender des von ehemaligen studentischen Aktivisten geführten Comité 68, diese Konstruktion eines „Genozids ohne Täter“. Der Tatbestand Genozid besage vielmehr, dass es sich um eine über einen längeren Zeitraum systematische politische Praxis der Verfolgung und beabsichtigten Auslöschung einer bestimmten Gruppe oder eines Gegners handele. Altamirano befand zu dem, dass es Unklarheiten darüber gäbe, gegen wen sich der Genozid gerichtet habe.
Laut Garín versuchten Altamirano, Echeverrás Anwälte und die Staatsanwaltschaft, diese Entscheidung in der Öffentlichkeit massiv als endgültigen Freispruch darzustellen, um den Fall als erledigt zu verkaufen. Tatsächlich titelte auch die linksliberale Presse „Freispruch für Echeverría“. „In den folgenden Monaten waren wir als Komitee damit beschäftigt, dieses öffentliche Bild zu revidieren und die Bundestaatsanwaltschaft PGR dazu zu bringen, Widerspruch einzulegen“, erzählt Álvarez Garín. Schließlich wurde der Oberste Gerichtshof aufgefordert, den Fall zu übernehmen, was dieser jedoch Anfang 2008 ablehnte und den Fall an ein anderes Bundesgericht zurückgab. Das Urteil steht derzeit noch aus. Der Oberste Gerichtshof hatte sich schon zuvor einmal geweigert, den Fall zu übernehmen. „Fehlende juristische Bedeutsamkeit und Transzendenz“ war damals die Begründung. Für Álvarez Garín eine „sehr fragwürdige Entscheidung“. Doch der Leiter des Comité 68 bemüht sich um Optimismus: Die Verteidigung von Echeverría stehe auf sehr dünnen Beinen und funktioniere nur aufgrund der „Komplizenschaft des Systems und der Angst seiner Repräsentanten“. Er hoffe deshalb, dass die PGR gezwungen werden könne, die 50 abgeschlossenen Vorermittlungen der 2001 ins Leben gerufenen Sonderstaatsanwaltschaft Femospp über Fälle von Verschwindenlassen in die Anklage aufzunehmen. Bis jetzt hat die Bundestaatsanwaltschaft das einfach unterlassen. „Wenn das geschieht, kommt Echeverrría nie mehr frei“, glaubt Álvarez Garín. Doch die jetzige Situation ist sehr delikat. Bestätigt das Gericht die Entscheidung von Altamirano, könnte es sehr schwer werden, in Mexiko juristisch gegen Echeverría vorzugehen.
Wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen 2006 hatten die Bundesstaatsanwaltschaft und Exekutive bekannt gegeben, die Femospp „aufgrund mangelnder Ergebnisse und schlechter Führung“ abzuwickeln. Die Ermittlungen wurden offiziell von der PGR übernommen. Als Nebenkläger nimmt das Comité 68 die Femospp gegen staatliche und zivilgesellschaftliche Anfeindungen in Schutz. „Die Femospp ist ihrer Aufgabe im Großen und Ganzen korrekt nachgegangen“, so Alvarez Garín. „Vielmehr ist Sonderstaatsanwalt Carillo Prieto selber Opfer eines Interessenkonfliktes innerhalb von Justiz und Exekutive geworden. Es wurde eine regelrechte Kampagne gegen ihn gestartet, um die Institution zu diskreditieren und leichter abwickeln zu können.“ Zahlreiche Angehörigen- und Menschenrechtsorganisationen sehen das anders. Für sie ist die Femospp nicht Opfer, sondern Teil des Problems. Sie werfen der Behörde unter anderem vor, das Militär in Schutz genommen, die Ermittlungen vernachlässigt und internationale Menschenrechtsstandards missachtet zu haben. Die Femospp bezeichnet das Menschenrechtszentrum Pro Augustín Júarez als „paradigmatischen Fall“ einer Fortschreibung von Straflosigkeit unter Fox.
Fox hatte 2002 auch die Teile der Archive der ehemaligen politischen Polizei DFS, des sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum des Innenministeriums IPS und der Streitkräfte SEDENA geöffnet. Seit dem sind mehrere historische Forschungsarbeiten auf Basis des neuen Materials entstanden. Doch das Rätsel über die wirkliche Zahl der Toten am 2. Oktober 1968 hat die Öffnung nicht aufklären können. Bis dato schwanken die geschätzten Zahlen der Todesopfer zwischen 20 und 400. Der historische Abschlussbericht der Femospp von 2006 ist in Bezug auf die Geschehnisse am 2. Oktober 1968 „voller Fehler“ und „Ungenauigkeiten“, schrieb Kate Doyle vom unabhängigen US-amerikanischen Forschungsinstitut NSA in der Zeitschrift Proceso im Jahre 2006. Unter ihrer Leitung hat eine Forschergruppe des NSA die geöffneten Archive erneut auf diese Frage hin durchforstet. Lediglich 34 namentlich identifizierte und 10 als „unbekannt“ registrierte Tote konnten ermittelt werden. Ein „erstaunend armes, aber dennoch in seinen Implikationen schwerwiegendes Resultat“, meint Doyle. Doch auch dieses Ergebnis bleibt vorläufig. Das Archivmaterial ist lückenhaft, politisch gefärbt und zum Teil widersprüchlich. Das NSA hat nun einen Blog eingerichtet, in dem sie alle dazu aufruft, ihre Informationen, Dokumente und Fotos zu präsentieren, um auf diesem Weg der Wahrheit über die Toten ein Stück näher zu kommen.
Álvarez Garín ist überzeugt, dass heute zunehmend mehr juristische Instrumente Verfügung stehen, viele der Personen, die über den Verbleib der Verschwunden Kenntnisse haben und die Verschleppungen mit zu verantworten haben, zur gerichtlichen Aussage zwingen zu können. Bei Weigerung drohe ihnen sofort ein Prozess. „Es geht ja nicht nur um Echeverría, sondern um eine ganze Reihe von Verantwortlichen“, so Álvarez Garín. Da sei zum Beispiel der Fall des heutigen Präsidenten des Senats, Manlio Fabio Beltrones. Er ist ehemaliger persönlicher Sekretär von Fernando Gutiérrez Barrios, seinerzeit Direktor des berüchtigten Inlandgeheimdienstes DFS.