Nicaragua | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

Gesetz zum Schutz der Frauen

Verschärftes Vorgehen gegen Gewalttäter führt zu Konflikten in Nicaragua

Seit über einem Jahr versucht die sandinistische Regierung unter Daniel Ortega, die steigende Zahl von Gewaltverbrechen im familiären Milieu in den Griff zu bekommen. Es fallen so viele nicaraguanische Frauen und Mädchen ihren Ehemännern, männlichen Familienangehörigen oder Außenstehenden zum Opfer, dass man von einem femicidio (Femizid) spricht. Abhilfe verspricht das Gesetz 779 – doch seine Wirksamkeit ist sehr umstritten.

Marc-Thomas Bock

Die 28-jährige Marktverkäuferin Massiel B. aus Barahona, einem Armenviertel in Managua, wollte am Abend des 19. Juli im Hof ihrer Wellblechbehausung eine Zigarette rauchen, bevor sie sich wieder dem gefüllten Wäschetrog zuwandte. Unbemerkt näherte sich ihr Lebensgefährte Luis R. von hinten. Er hatte den Revolver Kaliber 38 schon vor geraumer Zeit gekauft und Massiel in der Vergangenheit immer dann damit bedroht, wenn es Streit gab. Nun hatte er den Revolver in ein braunes Oberhemd gewickelt. Der Schuss sollte weder Lärm machen noch die Nachbarn alarmieren. Er trat also hinter seine arglose Lebensgefährtin, hielt die Waffe an ihr Genick und drückte ab. Danach floh er auf seinem Moped. Nur wenige Stunden später wurde er gefasst.
Jeden Tag werden in Nicaragua Frauen und Mädchen geschlagen, verbal oder physisch misshandelt oder aber einfach eingesperrt. Und nicht immer werden, wenn es zur Tötung einer Frau kommt, Täter wie Luis R. gefasst. Oft gehen körperliche Misshandlungen mit Vergewaltigungen einher. Im ersten Halbjahr 2013 wurden 483 Fälle von extremer Gewalt gegen Frauen zur Anzeige gebracht, allein in den Monaten Mai bis Juli wurden 83 Mädchen unter 14 Jahren vergewaltigt. Neun von ihnen sind jetzt schwanger. Jegliche Abtreibung, auch therapeutische, steht in Nicaragua unter Strafe, Kurpfuscherei ist an der Tagesordnung. Verblutende Frauen werden von der verängstigten Verwandtschaft als häusliche Krankheitsfälle deklariert. Fast alle Vergewaltigungen werden von Männern aus der Familie begangen, manchmal erstreckt sich der Missbrauch über Jahre.
Obwohl die nicaraguanische Polizei über eine recht effiziente Abteilung zum Schutz von Frau und Kind mit eigenen Einsatzfahrzeugen verfügt und es ein weitverzweigtes Netzwerk von Aktionsgruppen gegen häusliche Gewalt an Frauen gibt, hat sich in den vergangenen Jahren im zweit­ärmsten Land der westlichen Hemisphäre nicht viel zum Positiven verändert. Die Dunkelziffer, und hier sind sich sandinistische Regierung und die Opposition um die Liberale Unabhängige Partei (PLI) ausnahmsweise einig, liegt um ein Vielfaches höher als die offizielle Statistik. So führte die gestiegene Mordrate an Frauen schließlich im Juni 2012 zur Einführung des Gesetzes 779, dem Gesetz zum Schutz der Frau.
Dabei handelt es sich um ein sehr rigides Rechtsmittel, das seitdem heiß umstritten ist: Männer können bereits im Verdachtsvorfeld auch bei ano­nymer Anzeige festgenommen werden, dürfen das Haus vor und nach Schuldspruch nicht mehr betreten und kommen nicht in den Genuss der Unschuldsvermutung. Auch eine juristisch begleitete Aussprache (Mediation) zwischen Mann und Frau wird nicht gestattet. Lorna Morori, Soziologin mit Forschungsschwerpunkt häusliche Gewalt, verteidigt die Härte des Gesetzes: Nach jahrelangen leidvollen Erfahrungen mit voreingenommenen Polizist_innen, gleichgültigen Jurist_innen und reuelosen Tätern sei damit die Tendenz gestoppt, „die Opfer ein zweites Mal zu Opfern zu machen“, weil ihnen vielfach eine Mitschuld am Geschehen unterstellt werde. Auch die Universitätsdozentin Maria Moreno und der Parlamentsabgeordnete Carlos López meinen, dass die Mediation vor Einführung des Gesetzes 779 sehr oft zu Lasten der oftmals völlig eingeschüchterten oder schamerfüllten Opfer gegangen sei.
„Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache mehr, sie ist Angelegenheit der öffentlichen Ordnung“, so Maria Moreno und spielt damit auf den Umstand an, dass das Gesetz 779 zwar juristisch noch umstritten, sein Inkrafttreten jedoch mehr als überfällig gewesen ist. Viele Befürworter_innen des Gesetzes gehen davon aus, dass das Gesetz ohne den Einfluss der nicaraguanischen Polizeichefin Aminta Granera heute noch nicht ausformuliert wäre.
Ist die Gewalt gegen Frauen gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern ein globales Problem, so hat die in Nicaragua schlicht femicidio genannte Misshandlung und Tötung von Frauen sehr klar benennbare Ursachen: Die im ersten Halbjahr 2013 teilweise bestialisch getöteten 48 Opfer waren fast alle – wie der Großteil nicaraguanischer Frauen – Alleinverdiener_innen in ihren Familien. Bei einer extrem hohen männlichen Arbeitslosigkeit käme es, so die Soziologin Lorna Morori, zwangsläufig zu einer Einschränkung des Selbstwertgefühls bei vielen Männern und einem damit einhergehenden Verlust ihrer Rolle als Familienernährer. Auch der Umstand, dass Frauen oft zu lesen und schreiben vermögen, viele ihrer Männer hingegen nicht, trage zu einer gefährlichen Aufladung des machismo bei. „Nicaraguanische Frauen sind gerissen und stark“, so kann man manche Bauern halb abergläubisch, halb verächtlich sagen hören. Was dann bleibt, ist die bloße Berufung auf die eigene physische Stärke. Und so wird die bröckelnde Autorität des Mannes durch Schläge kompensiert, werden ärmste und beengte Wohnverhältnisse zu Brutstätten sexueller Übergriffe.
Doch nicht jedem scheinen diese Zusammenhänge folgerichtig. Der Weihbischof von Managua, Silvio José Baéz, gehört zu den schärfsten Kritikern des Gesetzes. Es verstoße gegen die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, es zerstöre die Familie durch Misstrauen und Furcht. „Nicht alle Gesetze sind moralisch integer und gerecht“, meinte er jüngst in einer Predigt. Das fehlende Rechtsbewusstsein und die offensichtlich gestörte Moral der Täter scheinen ihm hingegen nicht erwähnenswert. Und tatsächlich sollte durch eine Allianz aus katholischen Amtsträgern und oppositionellen Anwälten gegen das Verbot der Mediation vor dem Obersten Gerichtshof (CSJ) geklagt werden. Auf den Spruchbändern der Unterstützer_innen steht dann auch geschrieben: „779 – weibliche Rache dafür, ein Mann zu sein“.
Die Anwälte Bismarck Dávila und Marlon Loáisiga fordern zunächst die Möglichkeit einer Aussprache zwischen Mann und Frau, wenn es sich um einen nachgewiesenen Ersttäter handelt. Doch der Oberste Gerichtshof gab die Entscheidung darüber einfach an die Spruchkammer der Natio­nalversammlung weiter. Und diese befand, das Gesetz 779 sei zwar verfassungskonform, man empfehle jedoch eine Änderung des Artikels 46. In minderschweren Fällen häuslicher Gewalt solle zukünftig wieder eine Mediation möglich sein.
Elia Palacios, Sprecherin des nationalen Netzwerkes Frauen gegen Gewalt bringt ihre Unzufriedenheit über diese institutionelle Schwäche der Entscheidungsfindung empört zum Ausdruck: „Wir sind mit dieser Unentschiedenheit nicht zufrieden. Mit diesem Schiedsspruch der Nationalversammlung wird nichts erreicht, man gibt die heiße Kartoffel an die Spruchkammer weiter und fährt damit fort, Frauen juristisch nicht konsequent zu schützen.“ Wie Recht sie damit hat, beweisen die vielen Fälle aus den Jahren vor Einführung des Gesetzes. Zahlreiche Männer, die ihre Frauen damals zum ersten Mal misshandelten, gelobten zwar Besserung, schlugen nach einer juristischen Verwarnung aber umso härter zu, sobald sie wieder zuhause waren. Doch nun, nach „779“, trennen sich auch immer mehr junge Frauen aus einfachen Verhältnissen von ihren prügelnden oder vergewaltigenden Partnern und behalten das als Putzkraft oder Marktverkäuferin selbstverdiente Geld. Sie schaffen sich ihre eignen, ausschließlich weiblichen Netzwerke, die sie bei der Kindererziehung oder bei Alltagsproblemen unterstützen. Dass es sich dabei nicht um eine feministische Protestbewegung, sondern um eine aus der Not heraus geborene zivilgesellschaftliche Reaktion eines ganzen, von Gewalt betroffenen Bevölkerungsteils handelt, haben inzwischen auch Menschen ohne eigene Gewalterfahrung erkannt.
Die Uniprofessorin Moreno brachte die Situation der bedrohten Mädchen und Frauen Nicaraguas auf den Punkt, als sie vor kurzem schrieb: „Immer wenn wir von uns selber sprechen, denken wir zuerst an eine Frau, an eine Schwester, an eine Nichte, unsere Töchter, an unsere Mütter, die auf die eine oder andere Art im privaten wie öffentlichen Bereich leiden müssen, weil sie Frauen sind.“ Und der Abgeordnete Carlos López macht klar, dass ohne breite Bildungs- und Aufklärungsarbeit in Schulen und Universitäten ein Gesetz allein wohl nicht ausreichen werde, die gesellschaftliche Problematik des femicidio zu lösen. Aber dennoch: Das Gesetz 779 mag vielleicht noch nicht seine letzte juristische Ausformung erfahren haben; doch hat seine Ratifizierung signalisiert, wie eine Gesellschaft die in ihr verbreitete Gewalt gegen Frauen auf legislativem Wege nicht länger hinzunehmen, sondern konsequent zu verfolgen bereit ist.

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