Getrunkene Geschichte
Eine Reportage über den Wandel der Pulquerías in Mexiko-Stadt
„Zutritt für Minderjährige, Frauen, Polizisten und Uniformierte untersagt“. Die Aufschrift welche über der Schwingtüre der Pulquería La Reforma de la carambola (Die Reform des Schwindels) prangt, erinnert noch an die Zeiten, als diese Lokale den Männer vorbehalten waren und Frauen mit einem eigens dafür eingerichteten Separee vorlieb nehmen mussten. Wie bei den meisten Pulquerías springt auch hier ins Auge, dass der Kneipenraum mit Keramikfliesen ausgestattet ist und von seiner Beschaffenheit her an eine Nasszelle erinnert. Ebenfalls charakteristisch für diese Lokale sind Devotionalien der mexikanischen Nationalheiligen, der Jungfrau von Guadalupe, sowie eine Jukebox. An der Theke sind die typischen Pulquegläser, catrinas genannt, zu sehen. Darin wird das alkoholische Getränk, welches durch Fermentation von so genanntem Honigwasser, das durch einen Einschnitt in die Agave gewonnen wird, serviert. Der Pulquero Jaime Vázquez Ayala verkauft heute nicht den milchig-weißen, unverändert belassenen Pulque, sondern curados. So wird der mit einem bestimmten Aroma angereicherte Pulque bezeichnet. „Heute haben wir leider nur curados mit Tomate oder Mango im Angebot“, meint Jaime. „Doch es lohnt sich, am Samstag in die Reforma de las carambolas zu kommen. Dann servieren wir nämlich unsere Hausspezialität, den ‚Brautkuss‘ – ein curado mit Erdbeeren und Rahm.“ Jaime hat das Lokal, welches sich seit 1951 im nördlichen Stadtteil Azcapotzalco befindet, von seinem Vater übernommen. Antonio, ein Mittsiebziger aus dem Quartier und ehemaliger Gipser, ist Stammkunde bei Jaime. Als er noch werktätig war, nahmen die Pulquerías für ihn einen wichtigeren Stellenwert ein. Fast täglich suchte er eine solche Kneipe auf, meistens mittags. Wie er erzählt, schmeckt hingegen seinen Söhnen und Enkeln der Pulque nicht mehr – sie bevorzugen Bier. In der Tat ist es nur noch eine Minderheit der Einwohnerschaft Mexiko-Stadts, welche regelmäßig eine Pulquería aufsucht. Viele Lokale fristen eher ein Nischendasein und zeichnen sich oft durch ein eigentümliches Ambiente aus. Im Recreo de Manzanares in der Nähe des Marktes und Rotlichtviertels Merced treffen wir auf ein stimmungsvolles Nebeneinander von MarktverkäuferInnen, Prostituierten und tanzfreudigen älteren Leuten. Im Triunfo im östlichen Stadtteil Iztapalapa war bis vor Kurzem ein unter dem Spitznamen „Pelón“ bekannter Obdachloser heimisch. Da er praktisch den ganzen Tag in der Pulquería zu verbringen pflegte, wurde er zu einer Art „Kneipenoriginal“.
In den 40er und 50er Jahren wurden diese Lokale jedoch von weit mehr Leuten frequentiert, erinnert sich der heute 85jährige ehemalige Maurer Julio. Er erzählt, dass diese Kneipen einen Ort des Zusammenlebens darstellten, wo Domino und Rayuela gespielt und die Alltagsprobleme diskutiert wurden; einmal sei dort sogar ein Baustreik organisiert worden. Julio, der in einer Kleinbauernfamilie aufgewachsen ist und in seiner Jugend in die Stadt einwanderte, lernte den Pulque bereits als Kind kennen. Während seiner Arbeit auf dem Bau bildete der nahrhafte Agavensaft einen wichtigen Bestandteil der Mahlzeiten. Oft wurde die Tagesrationen auch gar nicht in den Lokalen, sondern direkt auf den Baustellen verkauft. Julio erinnert sich: „Der Pulque motivierte zur Arbeit, sogar die Architekten ließen sich von den Bauarbeitern bisweilen dazu überreden, davon zu probieren. Wir pflegten ihnen zu sagen: ‚Herr Ingenieur, nur zu, genehmigen Sie sich einen Schluck Pulque und ein Taco mit Chilli und Bohnen.’ Ihnen schmeckte die Mahlzeit der Armen.“ Auch heute noch stellen manche Pulquerías, wie z.B. auch Jaimes Lokal, einen molcajete auf, einen Mörser mit einer pikanten Sauce, die zu den Tortillas gegessen wird – was den Pulquekonsum steigert. So erzählt auch Julio, dass viele Arbeiter zum Mittagessen etwa einen Liter Pulque konsumiert hätten, einer seiner Kollegen habe jeweils einen Behälter von fünf Litern herbeigeschleppt. Er stuft seinen eigenen Konsum als moderat ein, doch betont er, dass der Alkoholismus unter vielen seiner Arbeitskollegen ein gravierendes Problem dargestellt habe. Einige seien nach der Mahlzeit nicht mehr zur Arbeit zurückgekehrt. Kein Wunder, immerhin enthält Pulque zwischen zwei und sechs Prozent Alkohol. Julio erzählt weiter, wie in den 40er Jahren in einigen Pulquerías noch ein Stempelkartensystem existiert habe, mit dem Arbeiter auf Pump konsumieren konnten. Diejenigen, die ihre Schulden bei den Pulqueros nicht begleichen konnten, hätten sogar mit Bauwerkzeugen bezahlt. Später jedoch sei im Zusammenhang mit dem Alkoholismus der Pulque von anderen, „weit ungesünderen“ Spirituosen abgelöst worden, meint Julio.
Wie der berühmte Liedermacher Chava Flores im Jahr 1957 in „Sábado Distrito Federal“ sang, versammelten sich die Bauarbeiter in den Pulquerías, während die Büroleute die Cantinas aufsuchten. Dennoch berichten Zeitzeugen wie Julio und Antonio, dass die Klassifizierung der Pulquerías als Bar der einfachen Leute nicht vollständig zutrifft. Auch höhere Angestellte und Akademiker suchten die Lokale bisweilen auf, vor allem die prestigeträchtigeren Pulquerías, welche über ein wesentlich schmuckeres Inventar verfügten als die heutigen, wie historische Fotos belegen. Während Arbeiter, Straßenverkäufer und Marktwarenträger den weißen Pulque tranken, wählten die etwas wohlhabenderen Gäste den kostspieligeren curado. Heutzutage ist die Klientel in der Reforma de carambolas durchmischt. „Man trifft sowohl auf Arbeiter wie auch auf Angestellte und Akademiker und bisweilen sogar auf rateros (Kleinkriminelle, Anm. d. Aut.)“, meint Jaime augenzwinkernd. Auch Sportler zählen zu den Gästen. So soll der Fussballnationalspieler Cuauhtémoc Blanco bis vor ein paar Jahren ein gelegentlicher Kunde in Jaimes Pulquería gewesen sein, wie Antonio stolz berichtet.
Was war ausschlaggebend dafür, dass ein derart wichtiger Ort des Zusammenlebens heute in Mexiko-Stadt nur noch vereinzelt anzutreffen ist? Bereits nach der Mexikanischen Revolution setzte ein allmählicher Rückgang des Pulquekonsums ein. Im Zuge einer Hygiene-Kampagne erschwerte ein Ausstattungsreglement aus dem Jahr 1928 unter der Regierung Calles (1924 bis 1928) die Eröffnung neuer Pulquerías. Auch wurde von den Medien der als unhygienisch geltende Gebrauch des acotote, ein Werkzeug, mit welchem die Bauern das Honigwasser aus den Agaven zu saugen pflegten, kritisiert. Das im Gegensatz zum Pulque als sauber angesehene Bier gewann in jenen Jahren vermehrt an Bedeutung. Eine Großstadtlegende besagte zudem, dass dem Honigwasser zur Fermentation eine so genannte muñeca, ein Bündel mit Exkrementen, beigefügt werde. Die Verbreitung dieses Mythos wurde lange Zeit von der Bierindustrie gefördert. Schlussendlich setzte sich das Bier als führendes alkoholisches Getränk durch.
Der Rückgang des Pulquekonsums liegt jedoch nicht nur in den sich wandelnden Trinkpräferenzen der MexikanerInnen. Auch der sukzessive Rückgang der für den Pulque verwendeten Agavensorten, insbesondere in deren Kerngebiet, den Llanos de Apan im Bundesstaat Hidalgo, trug wesentlich dazu bei. Der Agavenanbau ist nicht mehr rentabel, da die langwierige Aufzucht dieser Pflanzen im Schnitt acht bis zwölf Jahre dauert, bis man mit der Gewinnung des Honigwassers (eine Prozedur, die raspar genannt wird) anfangen kann. Sechs Monate lang ist diese „Ernte“ möglich, danach stirbt die Pflanze. Ein weiterer Umstand, der die Wirtschaftlichkeit der Pulqueproduktion schmälert, ist, dass Pulque – im Gegensatz zu den aus anderen Agavensorten und Produktionsweisen gewonnenen Spirituosen Tequila und Mezcal – kaum lagerungs- und transportfähig ist, und sich somit nicht für den Export eignet.
Noch 1953 soll in Mexiko-Stadt mehr Pulque als Milch konsumiert worden sein, doch bereits damals befand sich der Pulquekonsum im Rückgang. Waren in jenem Jahr 1201 Pulquerías registriert, so gab es 1986 bloß noch 544. Heute wird die Anzahl der Pulquerías in Mexiko-Stadt auf etwa 100 geschätzt, wobei bei all diesen Zahlen in Betracht gezogen werden sollte, dass es auch nicht registrierte und versteckte Pulquerías, die so genannten toreos, gibt. Viele Pulquerías haben zudem die Tendenz, schrittweise auf den Verkauf von Bier und Spirituosen umzusteigen, so dass sie allmählich zu gewöhnlichen Kneipen mutieren. Auch in der anfangs beschriebenen Reforma de las carambolas sind nicht mehr viele Leute anzutreffen. „Die Pulque-Generation stirbt nach und nach aus“, meint der Pulquero Jaime. „Unter der Woche sind es meist ältere Stammkunden, am Wochenende auch jüngere Leute.“ Er ist der Meinung, dass neben der bereits genannten Diffamierungskampagne und den Agrarproblemen auch die Behörden mitverantwortlich für das Eingehen vieler Pulquerías seien. Die Umsetzung vieler Vorschriften wie z.B. die Schaffung von Parkplätzen und Brandschutzmassnahmen sei für Betreiber dieser kleinen Lokale oft ein Ding der Unmöglichkeit.
In den dörflich geprägten Randzonen des Bundesdistrikts ist die Situation noch eine andere. So wird in San Bartolo, im äußeren Westen der Haupstadt, der Pulque nicht in als Schankstuben deklarierten Orten serviert, sondern in Privathäusern. Nur die Einheimischen wissen, wo man solche toreos vorfindet. Ein als Dr. Peña bekannter Einheimischer bietet im Innenhof seines Hauses Tlachique an, süßen Pulque mit niedrigem Fermentationsgrad. Dort findet ein gemütliches Beisammensein mit Kartenspielen statt. „Glaube mir, der Pulque ist bekannt für seine aphrodisierende Wirkung“, meint Dr. Peñas Kollege mit dem Spitznamen Fillo schelmisch und gibt damit einen weiteren Mythos um das Agavengetränk zum Besten. Eine andere Legende besagt, dass der Pulque beinahe den Nährwert von Fleisch hat. Trotz des dort noch positiven Bildes des Agavengetränks räumt Fillo ein, dass auch in diesen Zonen der Stadt der Rückgang des Agavenanbaus spürbar ist. Seiner Meinung nach gibt es auch immer weniger junge Leute, welche die Tätigkeit des raspar weiterführen.
Problematisch ist auch, dass die Pulquerías ihr „Schmuddel-Image“ nie vollständig ablegen konnten. Viele MexikanerInnen haben selten oder nie einen Fuss in ein solches Lokal gesetzt, da die Pulquerías nach wie vor den Ruf besitzen, unhygienisch und gefährlich zu sein. Jedoch trifft das Klischee der anrüchigen Spelunke längst nicht auf alle Pulquerías zu. Seit geraumer Zeit haben sich einige auch zu Trendlokalen unter jungen Leuten, insbesondere StudentInnen, entwickeln können, vor allem im Stadtzentrum und im südlichen Stadtteil Xochimilco. Während gewisse Pulquerías nur noch wenige Stammkunden haben, kennen andere Lokale wie Las Duelistas (Die Duellantinnen) oder La hija de los apaches (Die Tochter der Apachen) des bekannten ehemaligen Boxers „Pifas“ solche Probleme kaum. Auch das La Risa (Das Lachen) im Stadtzentrum kann sich nicht über einen Mangel an Gästen beklagen. Zudem sind die Pulquerías längst keine Männerdomäne mehr, jüngere Frauen sind ebenso anzutreffen. Die Studentin Ximena kommt öfters hierher, bis vor kurzem noch jeden Freitag. Sie bevorzugt die curados, meint aber, dass der Geschmack des Agavensafts vielen MexikanerInnen einfach nicht mehr mundet. Auch die beiden Verkäufer José Luis und Manuel, beide 22 Jahre alt, kommen etwa alle zwei Wochen hierher. Sie hingegen bevorzugen den weißen Pulque. Drei weitere Studenten, Alfredo, Saúl und Eric, sind der Ansicht, dass der Pulque wieder gefördert werden müsse. „Es ist schließlich das Nationalgetränk Mexikos“, meinen sie. An einigen Orten ist also ein Schwund der Pulquerías zu beobachten, während sich anderenorts diese traditionellen Kneipen zu Trendlokalen unter jüngeren Leuten mausern. Doch die Einstellung gegenüber dem prähispanischen Getränk hat sich verändert. Von der jüngeren Generation wird es oft als etwas Urtümliches und „Exotisches“ betrachtet, während für ehemalige Arbeiter wie Antonio und Julio der Pulque ein Bestandteil der Ernährung und die Lokale ein wichtiges Element des Arbeitsalltags darstellten. Dieser wohl unaufhaltsame Bedeutungswandel bringt aber eben auch die Chance mit sich, die Tradition der Pulquerías in Mexiko-Stadt aufrecht zu erhalten.