Brasilien | Nummer 426 - Dezember 2009

Gewalt und Spiele

Debatte um Sicherheit in Rio de Janeiro im Vorfeld der Olympischen Spiele 2016

Im Oktober kam es zu einem neuen Höhepunkt der Gewalt in Rio de Janeiro. Nachdem ein Polizeihubschrauber von Drogengangs abgeschossen wurde, starben in den darauf folgenden Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Drogendealern über 40 Menschen. Während die Politik vor allem im Hinblick auf die 2016 anstehenden Olympischen Spiele eine Mischung aus „harter“ und „weicher“ Linie durchsetzen will, werden beide Ansätze von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert.

Martin Hagner

In Rio de Janeiro hat die Regierung bereits mit der Umsetzung der Baupläne für die olympischen Spiele 2016 begonnen. Unter anderem werden die Verbindungsstraßen zwischen den vier Zentren für die Wettkämpfe ausgebaut und im Stadtteil Deodoro, einem dieser Zentren, soll das olympische Dorf entstehen. Dafür sollen über 20 Favelas dem olympischen Dorf weichen. Und es wird auch an anderer Stelle gebaut: Mit dem Argument, die angrenzende Natur zu erhalten, werden an dreizehn Favelas Mauern errichtet.
Bereits im März hatte der Gouverneur des Bundesstaat Rio de Janeiro, Sergio Cabral, den Mauerbau zum „Schutz der Natur“ angekündigt und umgerechnet 17 Millionen Euro für den Bau aus dem staatlichen Fond zur Erhaltung der Natur zur Verfügung gestellt. Ein öffentlicher Diskurs war im Vorfeld nicht geführt worden. Dabei gab es bereits ein Vorgängerprojekt: Das Programm für so genannte ecolimites, also Naturgrenzen, gibt es schon seit 2002. Damit soll verhindert werden, dass die Favelas in Rio de Janeiro weiter in den Stadtwald hineinwachsen. Denn in der Stadt gibt es an den Hängen der Berge durchaus noch Regenwaldbeständen.
Bisher wurde die Grenze zum Wald mit Pfeilern abgesteckt und regelmäßig auf wilde Bebauung überprüft – eine Methode, die diesen Zweck erfüllt. Doch Cabral wollte die Mauer. Damit stieß er jedoch auf Widerstand der Favela-BewohnerInnen. „Auch wir sind gegen die Bebauung der Waldgebiete. Auch wir wollen die Zerstörung der Natur stoppen. Aber dafür wollen wir uns mit dem Gouverneur zusammensetzen und über unsere Vorschläge sprechen, damit alles, was gemacht wird, im Konsens geschieht“, sagte im April Antono Ferreira, Sprecher der Vereinigung der BewohnerInnen der Rocinha, in einem Interview mit der Tageszeitung O Globo. Rocinha ist das älteste und eines der größten Armenviertel Südamerikas.
Die Vereinigung der BewohnerInnen der Rocinha forderte eine Diskussion mit dem Gouverneur Sergio Cabral, bevor der Bau der 2.800 Meter langen Barriere in ihrem Viertel begonnen wird. Als auf dieses Gesprächsangebot nicht eingegangen wurde, organisierten die BewohnerInnen ein Plebiszit, an dem sich 1.056 BewohnerInnen der Rocinha beteiligten. Doch dieses wurde vom Bürgermeister Rio de Janeiros, Eduardo Paes, kurzerhand für „zweifelhaft“ und somit wertlos befunden.
„Eine Mauer ist keine Lösung. Eine Mauer ist ein Symbol der Trennung. In diesem Fall soll sie die Ärmsten der Stadt isolieren und ihnen den Zugang zum Wald verbieten“, sagte Antonio Ferreira. „Auch wir haben das Recht den Wald zu betreten und uns dort und im Rest der Stadt frei zu bewegen. Die Mauer verhindert keine neuen Bebauungen, sie verstärkt Vorurteile“, fügte er empört hinzu. Dennoch begann die Stadt am 27. März unter dem Schutz der berüchtigten Polizeispezialeinheiten Bope mit dem Bau der drei Meter hohen Betonmauer an der Favela Dona Marta. Insgesamt ist der Bau von vierzehn Kilometern Mauern geplant – in Dona Marta sollen es rund 700 Meter werden.
Einige Tage vor Bekanntgabe des Baus war es in Favelas der Südzone zwischen rivalisierenden Drogenbanden zu Schießereien gekommen. Bei den folgenden Polizeieinsätzen verlagerten sich die Schußwechsel auch in die angrenzenden noblen Wohnviertel. Dies löste Panik in der reichen Bevölkerung aus. daraufhin sah sich die Politik unter Zugzwang. Der Bürgermeister Eduardo Paes befand sich in dieser Zeit in Denver, um für Rio als Standort für die Olympischen Spiele zu werben. Dann ging die Entscheidung zum Mauerbau sehr schnell.
Doch die dreizehn Favelas, an denen gebaut wird, weisen mit Abstand nicht das größte Wachstum unter den über 1.000 Favelas in Rio de Janeiro auf. Dona Marta ist sogar flächenmäßig geschrumpft. So wird schnell klar, wo das eigentliche Problem seitens der Stadt gesehen wird: Die Favelas mit Mauer liegen fast alle in direkter Nachbarschaft zu reichen Vierteln und in der Nähe der Strände der Südzone der Stadt. Die Sorge um die Natur scheint somit nur ein vorgeschobener Grund zu sein, um die reicheren Viertel vor den vermeintlich kriminellen FavelabewohnerInnen zu schützen.
Auch von der Opposition kam Kritik: In einer öffentlichen Sitzung im Rathaus von Rio beschuldigten die Oppositionsparteien die Regierung Cabral, ImmobilienspekulantInnen unter dem Vorwand des Naturschutzes Vorteile zu verschaffen. MaklerInnen und SpekulantInnen beklagen schon seit längerem, dass Immobilienpreise in der Nähe von Favelas aufgrund mangelnder Sicherheit niedriger seien als im Rest der Stadt. Und auch das UN-Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte stellte Anfang Mai eine Anfrage an die brasilianische Regierung zum Bau der Mauern. Diese blieb zunächst unbeantwortet. Paulo Vannuchi, Chef des Sekreteriats für Menschenrechtsfragen, welches der Bundesregierung untergeordnet ist, äußerte sich vorsichtig zu der Anfrage: „Eine Mauer ist nie eine gute Sache.“
Doch die Proteste zeitigten immerhin ein wenig Wirkung: Nach Beginn des Baus in Rocinha trafen sich führende Gemeindemitglieder der Rocinha hinter verschlossenen Türen mit Sergio Cabral. Im Konsens wurde der Streit über die Mauer beigelegt. Die VertreterInnen konnten die Errichtung einer medizinischen Notfallstation und das Anlegen eines Naturparks durchsetzen. Außerdem soll die Mauer an einigen Stellen nur einen statt drei Meter hoch errichtet werden. Der Bau der Mauern wird gegen Ende des Jahres beendet sein.
Gouverneur und Bürgermeister hatten aber noch ein weiteres Projekt, um die angespannte Sicherheistlage in den Favelas in den Griff zu bekommen: so genannte „befriedende Polizeieinheiten“. Kurz nach seinem Amtsantritt hatte Bürgermeister Paes die Ausbildung und Einführung der neuen Polizeieinheit angekündigt und vom Gouverneur Cabral, der mit seiner Politik der sozialen Säuberung als Hardliner gilt, abgesegnet. Cabral hatte bereits 2007 mit der Äußerung, Mütter in den Favelas würden nur „Kriminelle in die Welt setzen“ für Empörung gesorgt. Die „befriedende Polizeieinheit“, kurz UPP genannt, soll in die Militärpolizei von Rio integriert werden. Diese in den Favelas permanent anwesende Polizeieinheit trägt in der Regel so genannte nicht-tödliche Waffen.
Der Polizeikommissar und Gewerkschafter Vinicius George widerspricht im Interview mit den LN (siehe LN 425) einer verharmlosenden Ansicht über diese Art von Waffen. „Der Taser kann sehr wohl töten. Man muss sehr vorsichtig damit umgehen“, erklärt er. Und Marcelo Freixo, Abgeordneter des Landtags von Rio de Janeiro, kritisiert: „Der Umgang mit den Waffen ist entscheidend. Das Problem liegt im Konzept, das Polizisten von ihrem Verhältnis zur Waffe haben.“
Marcelo gibt ein Beispiel: „Das Pfefferspray. Das ist eine nicht-tödliche Waffe, ein Instrument, um Gefahr von Dir zu halten. Es gab aber Fälle, in denen ein Gefängniswärter, im Moment, als ein Gefangener abtransportiert und in den Gefangenentransporter gesperrt werden sollte, den Transporter erstmal komplett mit Pfefferspray einsprühte. Der Gefangene ist fast erstickt.“
Marcelo würde dieses Problem deshalb grundsätzlicher angehen. „Das Problem liegt in der Ausbildung der Polizei, in der Kontrolle der Polizei, im Konzept der öffentlichen Sicherheit.“ Und Vinicus fragt: „Was ist die Ordnung? Was für eine Ordnung will man. Das ist die Frage.“
Die UPP wurde Mitte Februar offiziell eingeweiht. Vorerst in Dona Marta in Botafogo, in welcher seit November 2008 Operationen der Militärpolizei stattfanden, in der Cidade de Deus, das drei Monate zuvor von Militärpolizei und der Spezialeinheit Bope gestürmt worden war, sowie in Batan in Realengo, ein Viertel, das zuvor von Milizen kontrolliert worden war (siehe LN 425). Die UPP wurde auch in Chapéu Mangueira und Babilônia in Leme, zwei Favelas, die ebenfalls eingemauert werden sollen, installiert. Derzeit ist geplant, die UPP in 43 weiterer Favelas einzusetzen.
Der Bundesjustizminister, Tarso Genro, begrüßt die Einrichtung der UPP: „Wir brauchen für 50 der 100 problembelasteten Viertel diese befriedende Politik. Und wenn dann die Olympischen Spiele vorbei sind, dann werden wir Rio de Janeiro eine komplett andere Situation hinterlassen“, ist er überzeugt. Und dazu brauche es der UPP, der befriedenden Polizeieinheit.
Die jüngst mit der jährlichen Auszeichnung für Menschenrechte von Human Rights First in New York geehrte Leiterin der Menschenrechtsorganisation Justiça Global, Sandra Carvalho (siehe LN 382), äußerte sich in einem Interview mit O Globo skeptisch: „Das Projekt UPP bedeutet bis jetzt lediglich Polizeipräsenz auf den Hügeln, welche eine Zustand der Besetzung erleben. Das wird weder die Sicherheit verbessern, noch wird die Gewalt abnehmen. Die armen Viertel zu kriminalisieren wird das Problem des Drogenhandels nicht lösen.“
Justiça Global hatte nach der Polizeiaktion mit 40 Todesopfern gemeinsam mit 20 weiteren Organisationen eine Protestnote herausgegeben, in der die dem Hubschrauberabschuß folgende Polizeiaktion als „Vergeltungsmaßnahme“ scharf kritisiert wird. „Dies ist eine Racheaktion ohne eine ernsthafte Strategie zur Bekämpfung des Drogenhandels“, empört sich Camila Ribeiro, ebensfalls Mitarbeiterin bei Justiça Global. Sie fürchtet, dass die Olympischen Spiele 2016 in Rio diese Situation noch verschlimmern werden. „Die Vorbereitungen auf die Spiele“ zeigten, so Camila Ribeiro, dass sich die „Tötungspolitik intensiviert“.

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