Kolumbien | Nummer 307 - Januar 2000

Gewaltloser Widerstand inmitten des Krieges

Bericht von einem Besuch in der Friedensgemeinde San José de Apartadó

Aktive Neutralität wird mit dem Tode bestraft. Das müssen die BewohnerInnen des kleinen Dorfes San José de Apartadó im Nordosten Kolumbiens am eigenen Leib erfahren, seit sie sich 1997 zur Friedensgemeinde erklärt haben. Auf Einladung des Bischofs von Quibdo besuchten im Juli 1999 Franziska und Helmut Göbels, Mitglieder der aktion pro colombia e.V. des Bistums Aachen, mit einer international besetzten Kommission die Region. Ihr Bericht schildert die ausweglose Situation eines Dorfes, die für ganz Kolumbien gilt: Keiner kann sich dem Konflikt entziehen.

Franziska Suffenplan-Göbels

Unser Weg führt uns zunächst nach Apartadó, einer kleinen Stadt nahe der karibischen Küste. Von dort aus geht es etwa zwölf Kilometer über eine steinige Schlaglochpiste in die Berge. Mit dabei sind Angela und Schwester Derly von der kirchlichen Untersuchungskommission Justicia y Paz. Bevor wir die Hauptstraße in Richtung San José de Apartadó verlassen, stimmt Derly ein Gebet an und bittet uns, ein Vaterunser auf Deutsch vorzubeten. Dreimal sehen wir unter den Bananenstauden neben der Piste schwerbewaffnete Trupps von Paramilitärs liegen, sogenannte Gruppen zur Selbstverteidigung.
Am Ortseingang von San José de Apartadó informiert ein großes Schild über die Besonderheit dieses Dorfes: Ein Teil der BewohnerInnen – etwa 1.300 der ursprünglich 3.000 hier lebenden Campesinos – hat sich zu einer sogenannten Friedensgemeinde zusammengeschlossen. Inmitten des Krieges möchten sie Widerstand leisten, indem sie sich als neutral erklären. Das bedeutet, daß sie allen bewaffneten Akteuren jegliche Hilfestellung oder Zusammenarbeit verweigern, sich also weder auf die Seite der Guerilleros noch auf die von Militärs und Paramilitärs stellen. Ein mutiger Plan in einem Land, in dem ein Menschenleben nicht viel wert ist.

„Etwas anderes aufbauen…“

Die Begegnung von David und Goliath kommt mir in den Sinn, aber David war immerhin mit einer Steinschleuder bewaffnet. Die einzigen Waffen dieser Campesinos sind ihr Mut, ihre Entschlossenheit und ihre Gemeinschaft. Damals hat David gesiegt. Aber nach allem, was ich bisher hier in Kolumbien erlebt und gehört habe, scheint es fast vermessen, an einen guten Ausgang dieser Konfrontation zu glauben.
Schon bevor wir das Gemeindezentrum betreten, um uns dort mit einigen führenden Personen der Friedensgemeinde zu treffen, werden meine Zweifel bekräftigt: Ein Denkmal erinnert an 50 Menschen, die seit Gründung der Friedensgemeinde im März 1997 ermordet worden sind, weil sie „etwas anderes aufbauen“, inmitten des Krieges eine Insel des Friedens schaffen wollten. Die sechs Gemeindevertreter, mit denen wir uns dann treffen, berichten, daß die letzten neun Morde in diesem Mahnmal noch nicht berücksichtigt sind und daß 52 der 59 Toten auf das Konto der Paramilitärs gehen, sieben auf das der Guerilla.
Im Gespräch mit den sechs führenden Persönlichkeiten des Dorfes und den drei Vertretern von Justicia y Paz, die die Campesinos durch ihre ständige Anwesenheit im Dorf zu schützen versuchen, erfahren wir, wie die Idee zur Gründung der Friedensgemeinde entstanden ist: Die Gegend von Apartadó und Turbo zählt seit den 70er Jahren zu den strategisch besonders bedeutsamen Regionen im bewaffneten Konflikt, weil sie den Korridor zu den benachbarten Gebieten Cordoba, Chocó und Antioquia bildet. Damals konnte sich die Guerilla hier eine Vormachtstellung erkämpfen. In den 80er Jahren versuchte das Militär Boden zurückzugewinnen, die Zivilbevölkerung geriet mehr und mehr zwischen die Fronten. Diese Situation verschärfte sich zu Beginn der 90er Jahre mit dem Auftauchen der Paramilitärs.

Justicia y Paz

Im September 1996 überfällt eines Nachts eine paramilitärische Truppe San José de Apartadó. Führende Persönlichkeiten des Dorfes, Männer und Frauen, werden niedergemetzelt. Just in dieser Nacht hatte sich das Militär aus dem Dorf zurückgezogen, in dem es seit August ständig präsent war. Aus Angst vor weiteren Attacken verlassen viele Campesinos ihre Häuser und fliehen in andere Regionen oder finden Zuflucht bei der Kirche. Die wenigen, die den Mut haben zu bleiben, ziehen sich in die umliegenden Berge zurück.
Anfang 1997 überfallen erneut 40 Paramilitärs das Dorf, treiben die Menschen auf dem Sportplatz zusammen und bedrohen sie. Einige werden herausgegriffen und verschleppt. Man findet sie am nächsten Tag an der Straße nach Apartadó – tot, entstellt. Seit diesem Massaker übernahmen die Paramilitärs die absolute Kontrolle über das Dorf und die Straße nach Apartadó: Sie konfiszierten Lebensmittel, kontrollierten von jedem, der das Dorf verließ, die Personalien – mit dem Gewehr in der einen und einer Todesliste in der anderen Hand. Weitere DorfbewohnerInnen flohen.
Für die Zurückgebliebenen wurde das Leben immer unerträglicher. Auf eine Initiative von Bischof Duarte Cancino und Padre Leonidas von der Pastoral Social gründeten die Bauern am 23. März 1997 die Friedensgemeinde von San José de Apartadó – in der Hoffnung, daß die bewaffneten Akteure ihre Haltung respektieren: Es dauerte ganze fünf Tage, bis die paramilitärischen Todeskommandos wieder im Dorf ihr Unwesen trieben.
Das jüngste Massaker geschah am Ostersonntag 1999. Ein paramilitärisches Killerkommando überfällt das Dorf um 23.15 Uhr, wirft Granaten, sucht nach führenden Personen des Dorfes und tötet auf bestialische Weise drei Menschen: dem 16jährigen Gabriel Graciano schneiden sie die Kehle durch, Daniel Pino wird mit einer Machete der Bauch aufgeschlitzt und Anibal Jimenez wird vor den Augen seiner beiden Kinder erschossen. Acht Tage später dringen paramilitärische Truppen in die Dörfer einer anderen Friedensgemeinde – San Francisco de Asis – ein, töten zwölf Campesinos und verschleppen weitere zwölf. Für beide Gemetzel hat Carlos Castaño, der Oberbefehlshaber der Paramilitärs, die Verantwortung übernommen.

Unter ständigem Druck

„Woher nehmt ihr trotz all dieser niederschmetternden Erfahrungen die Kraft zu dieser Art von unbewaffnetem Widerstand?“ frage ich unsere Gesprächspartner: Die Antwort einer jungen Frau läßt mir keine Ruhe: „Es ist die Gewißheit, daß Gott ein Gott der Befreiung ist, und das Wissen, daß es Menschen gibt, denen unser Schicksal nicht gleichgültig ist, die ihre Stimme für uns erheben.“
Bevor wir wieder auf die Hauptstraße treffen, beobachte ich auf dem Rückweg im Vorbeifahren, wie einige Paramilitärs ein Gehöft, das oberhalb der Piste liegt, durchsuchen. Diese verdammte Hilflosigkeit!
Als wir in Apartadó zu Mittag essen, macht uns Derly auf einen neuen Jeep mit getönten Scheiben und Antenne, aber ohne Nummernschild aufmerksam, der gegenüber parkt. „Das sind die Autos, in denen die Todeskommandos der Paramilitärs unterwegs sind.“, erklärt sie und fügt hinzu: „Ich betrete kein Restaurant oder Geschäft, ohne den Ausgang im Auge zu behalten und achte darauf, daß ich nicht immer auf demselben Weg zu unseren Treffen fahre. Ich kann mich an diese Situation nicht gewöhnen, ständig so angespannt zu sein. Wenigstens haben wir die Möglichkeit, alle paar Monate mal die Gegend zu verlassen, um uns zu erholen. Die Campesinos aber leben hier ständig unter diesem Druck.“
Einige Wochen nach unserer Rückkehr nach Deutschland erreicht uns ein dringender Hilferuf der Campesinos von San José de Apartadó: Die Paramilitärs verbreiten das Gerücht, die DorfbewohnerInnen von San José würden mit der Guerilla paktieren. Eine solche Verleumdungskampagne ist für gewöhnlich die Vorbereitung für ein neues Massaker.

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