Gewerkschaften | Nummer 323 - Mai 2001

Gewerkschaften im neoliberalen Lateinamerika

Arbeitsregimes im Transformationsprozess Lateinamerikas – eine Buchrezension

Dieter Boris

Wie fast überall sind Gewerkschaften und andere Organisationen unmittelbarer Produzenten auch in Lateinamerika seit dem Einsetzen der neoliberalen Globalisierung in die Defensive geraten. Dies drückt sich in vielen Momenten der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit aus. Allerdings ist das nicht überall in gleicher Intensität und Totalität zu beobachten, sondern abhängig von der politischen Konstellation, der gewerkschaftlichen Tradition, der Branche und der jeweiligen Betriebsgrößenklasse. Diese durchaus plausible und in mehreren Jahresberichten der „Interamerikanischen Entwicklungsbank“ ausführlich beschriebene Ungleichzeitigkeit der Einführung „neoliberaler Strukturreformen“ – und hier insbesondere des „Nachhinkens“ der „neoliberalen Reformen“ des Arbeitsrechts – ist das Thema und die Hauptthese der Studie von Rainer Dombois und Ludger Pries.
Das Buch ist das Ergebnis eines seit Beginn der 90er Jahre andauernden Diskussions- und Arbeitsprozesses der Autoren. Im Zentrum des Forschungsprojekts stand die empirische Studie dreier relevanter Branchen (Automobil-, Textil- und Telekommunikationsindustrie) in Brasilien, Kolumbien und Mexiko. Die in ausgewählten Betrieben vorgenommenen empirischen Erhebungen wurden zwischen 1994 und 1997 durchgeführt.

Abhängige oder unabhängige Variable

Abgesehen von der genannten Zentralthese insistieren die Autoren auf der Bedeutung der gesellschaftlich-institutionellen „Settings“, in denen wirtschaftspolitischen Umbrüche stattfanden, und jenach deren Beschaffenheit die Arbeitnehmervertretungen keineswegs nur als passive Opfer, sondern auch als „Mitgestalter“ im Bereich der Arbeitsbeziehungen in Erscheinung treten. Die Veränderung der „Industriellen Beziehungen“ wird nicht nur als „abhängige Variable“, sondern auch „als Filter dieses Transformationsprozesses, also als ‘unabhängige Variable’, die genuin die Veränderung der Rahmenordnung beeinflusst und mitprägt“, wahrgenommen.
Nach zwei einleitenden Kapiteln, die zum einen die Fragestellungen zuspitzen und begründen und das Forschungsdesign beschreiben und zum anderen der Skizzierung des neoliberalen Umbruchs in Lateinamerika im Allgemeinen gewidmet sind, wenden sich die Autoren den Einzelfall- bzw. Länderstudien zu: Mexiko, Kolumbien und Brasilien. In einem abschließenden Kapitel werden generalisierte Schlussfolgerungen aus den Einzelstudien gezogen.

Das Beispiel Mexiko

Der mexikanische Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass hier die neoliberale Wende relativ früh und abrupt, aber weiterhin unter den Auspizien eines korporatistischen Regimes durchgeführt wurde, welches einerseits ein solches Vorgehen überhaupt erst ermöglichte, andererseits „eigentlich“ auf den Rückzug des Staates aus den Arbeitsbeziehungen hinzielte. Dieser Widerspruch fand seinen Ausdruck und seine Bewegungsform in der Schwächung der offiziellen Gewerkschaften und in einem neuen betrieblichen Korporativismus, der teilweise auch ohne Partei- bzw. Staatseinmischung auskam und eine „produktivistische Sozialpartnerschaft“ anstrebte. Das formell bislang kaum veränderte Arbeitsrecht wurde vielfach unterlaufen, und eine Neuregelung der Arbeitsverhältnisse steht – jetzt erst recht nach dem definitiven Ende der PRI-Herrschaft – ganz oben auf der politischen Agenda des Landes. Zwar ist noch nicht völlig ausgemacht, ob die Neufassung des Bundesarbeitsrechts (von 1931) nun eine eher neoliberal-gewerkschaftsfeindliche oder eine sozialstaatliche, gewerkschaftliche Rechte respektierende Prägung erfahren wird, doch scheint angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kongress und des neoliberalen Impetus des neuen Präsidenten Fox die letztere Variante als unwahrscheinlich.

Das Beispiel Kolumbien

Im Unterschied zu Mexiko (und Brasilien) waren für Kolumbien auf Grund seiner wirtschaftlichen Entwicklung und Wirtschaftspolitik die Anpassungszwänge während der 80er Jahre weniger hart. Die kontinuierliche Allianz von ökonomischen Machtgruppen, der „politischen Klasse“ und der Technokraten kontrastiert aber mit der großen politischen Instabilität, die sich in einem schon sprichwörtlich hohen Ausmaß von Gewaltanwendung in Politik und Alltagsleben ausdrückt. Die ohnehin gering institutionalisierten, dezentral-betrieblich ausgelegten Arbeitsbeziehungen mit klar dominanter Machtposition der UnternehmerInnen wurden im Verlauf der „apertura“ (Öffnung) noch einmal zu deren Gunsten verschoben. Das „Konzept des Betriebs als Produktionsgemeinschaft“ (225) setzte sich weit gehend durch. Konfliktorientierte Gewerkschaften (mit internen Demokratie- und Legitimationsdefiziten) konnten marginalisiert werden (228). Vor allem der gesamtpolitische Hintergrund der hochgradigen Polarisierung, des Guerillakriegs und der enormen Gewaltintensität führt nach Auffassung der Autoren (fälschlicherweise) dazu, dass „Arbeitskonflikte leicht als grundlegende gesellschaftliche Konflikte interpretiert“ (230) werden. „Erst ein Ende des bewaffneten Konflikts und die Pazifizierung der politischen Auseinandersetzungen dürften den Raum schaffen für starke demokratische Gewerkschaften und ein stabiles System der Arbeitsbeziehungen als Form der gesellschaftlichen Selbstregulierung.“ (231)

Das Beispiel Brasilien

In Brasilien wurden die neoliberalen Politiken relativ spät, inkonsequent und am unvollständigsten umgesetzt. In diesem Fall war es weder die ökonomische Krise der 80er Jahre, noch ein ordnungspolitischer Wechsel, sondern die Revitalisierung der Gewerkschaftsbewegung (novo sindicalismo) und der damit eng verbundene Demokratisierungsprozess, die eine grundlegende Veränderung der traditionell korporativistisch-autoritären Arbeitsbeziehungen seit Ende der 70er Jahre einläuteten. Daher müsste man für Brasilien weniger von einem „Nachhinken“ als vielmehr von einem „Vorauseilen“ sprechen. Freilich ist mit den verschiedenen Ansätzen zur neoliberalen Politik seit Beginn der 90er die neue Gewerkschaftsbewegung (die mit traditionellen Gewerkschaftsgruppierungen und -verbänden koexistiert) in den Sog der entsprechenden wirtschaftspolitischen Maximen und Zwänge geraten. Hier geht es – nach Auffassung der Autoren – nun um die Frage, ob und in welchem Maße sich die alte und die neue Gewerkschaftsbewegung einem eher traditionellen, paternalistisch ausgerichteten Korporativismus zuordnet, auf ein neoliberales „collective bargaining“ vorwiegend auf Betriebsebene zurückgeworfen wird, oder ob sie in der Lage ist, auf Branchenebene oder betrieblichem Niveau „produktivistische Konzertierungen“ (296f.) zu Stande zu bringen. Trotz unterschiedlicher systemimmanenter Reaktionsvarianten zeigt letztlich auch dieses Beispiel, dass die neoliberale Öffnung und Globalisierungspolitik selbst jene gewerkschaftliche Strömungen unter erheblichen Anpassungsdruck setzt, die von einem relativ hohen Niveau von Autonomie und Klassenbewusstsein ausgegangen waren.
Insgesamt hinterlässt das interessante, sehr materialreiche und – für die BRD – auch originelle Werk einen zwiespältigen Eindruck. Wer ausführliche Informationen zur gegenwärtigen gewerkschaftlichen Situation in den ausgewählten Ländern sucht, wer sich über die Spannbreite möglicher Reaktionen auf eine ähnliche Ausgangskonstellation Kenntnisse verschaffen will und wer sich bezüglich der These vom bloß vermittelten Zusammenhang von neoliberaler Wirtschaftspolitik und betrieblicher Wirklichkeit auf der Ebene der Arbeitsbeziehungen auf den „neuesten Stand“ bringen möchte, der oder die wird mit Gewinn zu dem Buch von Dombois und Pries greifen können.
Wer allerdings ein wenig genauer hinschaut, wird Widersprüche und fragwürdige Interpretationen entdecken. Obwohl die Verfasser im Prinzip an mehreren Stellen einräumen, dass sich generell die Positionen der Gewerkschaften mit und nach der neoliberalen Wende verschlechtert haben, sind sie auf Grund ihres Ansatzes ständig darum bemüht, diese Einsicht auf vielfältige Weise zu relativieren. Fixiert auf ihren Ausgangspunkt, dass die Arbeitsbeziehungen nicht nur abhängige, sondern auch unabhängige Variable seien, also dass diese mitgestaltet werden können und ihrerseits auf die Gesamtpolitik zurückwirken, vergessen sie gelegentlich die elementare Tatsache, dass das Kapital-Arbeits-Verhältnis nie ein Verhältnis Gleichberechtigter – gewissermaßen auf horizontaler Ebene – war und sein kann. Es ist nur ein Verhältnis auf einer schiefen Ebene, in grundsätzlicher Asymmetrie zwischen den prinzipiellen Protagonisten.

Herrschaftsverhältnis ausgeblendet

Wer freilich von Dingen wie „Ausbeutung“, „Herrschaft“ oder Ähnlichem nicht sprechen will, kann immerhin die Erlangung „wirtschaftlicher Bürgerrechte“ als Zukunftsperspektive für die Unterprivilegierten ins Auge fassen. Wer klassenantagonistisch orientierte Gewerkschaften nur noch als Relikte früherer Verirrungen und als Belege von Modernisierungsrückständen wahrzunehmen vermag, der kann sich auch beruhigen: der Neoliberalismus, den es so eh gar nicht gibt(1), ist nicht so schlimm oder dramatisch – alles lässt sich „gestalten“. Mittlerweile gibt es ja auch die zweite Phase der „neoliberalen Reformen“ mit sozialen Abfederungen und einer Wiederaufwertung staatlicher Verantwortung, hier hat die Politik und Gestaltungskraft wieder ihr Recht gewonnen. Entwarnung kann gegeben werden. Politisch ist alles möglich. „Angesichts der allzu einseitigen Betonung von ökonomischen Faktoren und Marktkräften im Rahmen der neoliberalen Wende lautet eine – gar nicht so neue und vielleicht doch wieder neu zu entdeckende – Erkenntnis: politics do matter!“ (321).

Ausgewogene Position

In einer parallelen Veröffentlichung resümiert Dombois seine „ausgewogene“ Position ähnlich: „Insgesamt wäre es verfehlt, die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Lateinamerika seit dem verlorenen Jahrzehnt nur als Verlust an bisherigen Sicherungen und Garantien zu sehen. Es sind zugleich auch neue Optionen und Spielräume für Interessenpolitiken und Regelungsprozeduren entstanden.“(2) Diese sind aber innerhalb der „neoliberalen Globalisierung“ minimal und beziehen sich mehr oder weniger auf das gemeinsame, sozialpartnerschaftliche Streben nach „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Standortpflege“.

(1) Vgl. hierzu schon die Diskussion in den Lateinamerika Nachrichten 1996 (Nr. 261-266/67).
(2) Dombois, Rainer (2000): Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaften im Transformationsprozess Lateinamerikas, in: Hengstenberg, Peter u.a. (Hg.): Zivilgesellschaft in Lateinamerika. Interessenvertretung und Regierbarkeit, Frankfurt/M., S. 275.

Dombois, Rainer und Ludger Pries (1999): Neue Arbeitsregimes im Transformationsprozess Lateinamerikas. Arbeitsbeziehungen zwischen Markt und Staat, Westfälisches Dampfboot, Münster, 357 S.

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