Argentina | Argentinien | Nummer 617 - November 2025

Gewinner und Verlierer der Technik

Andrés César spricht über KI und ihre Auswirkungen auf die Arbeitswelt

Als Dozent an der Universidad Nacional de la Plata in Argentinien forscht Andrés César, wie Künstliche Intelligenz (KI) und technischer Fortschritt Arbeit verändern und wie Länder in Lateinamerika damit umgehen. Im Interview mit LN spricht er darüber, welche Chancen KI bietet und warum die Auswirkungen von neuen Technologien davon abhängen, welche Rolle wir der KI zugestehen.

Interview von Annabelle Köchling
Andrés César lehrt an der Universidad de la Plata in Buenos Aires. (Foto: Annabelle Köchling)

Warum erforschst du Automatisierung und Künstliche Intelligenz in Lateinamerika?
Technische Veränderungen bedeuten enormen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte und bringen Veränderungen in der Gesellschaft mit sich – wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir uns anpassen. Viel wird erleichtert, aber es gibt auch Herausforderungen. Auf kurze Sicht ist es nicht offensichtlich, dass unsere Art, mit Technologie umzugehen, für alle von Vorteil ist. Der Arbeitsmarkt wird beeinflusst und es bestehen Asymmetrien im Zugang zu Technik. In der Regel haben Arbeiter*innen mit höherer Bildung einen Vorteil. Auch bei den Firmen ist es so, dass die mit dem größten Kapital einen Vorteil haben. Das verursacht unterschiedliche Dynamiken in der Gesellschaft und der Wirtschaft. Das finde ich unter anderem so interessant, weil ich in Argentinien lebe – ein Land so ungleich wie der Rest von Lateinamerika. Man ist sich der Asymmetrien bewusst und es ist wichtig zu verstehen, dass unsere Wirtschaften sich noch entwickeln.

Wie sehen diese Asymmetrien aus?
Nicht alle haben den gleichen Zugang zu Technologie. Zum Beispiel sind Menschen in ländlichen Gegenden und in der Peripherie von Großstädten eher ausgeschlossen. Auch wenn heute die meisten Menschen ein Handy mit Internetzugang besitzen, geht es hier um Technologien, die sich auf den Arbeitsmarkt auswirken – etwa der Computer am Arbeitsplatz oder spezielle Automatisierungstechnologien, die auf bestimmte Industrien oder Servicebereiche konzentriert sind. Hier ist eine große Gruppe von Menschen wegen ihres Bildungsniveaus und Wohnorts ausgeschlossen. Darüber hinaus ist auch interessant, das aus demographischer Perspektive zu betrachten. Im Gegenteil zu meiner Generation, die sich Stück für Stück an den technischen Wandel anpassen konnte, geht er für Personen wie meine Eltern sehr schnell. Sie sind an einem Punkt ihres Erwerbslebens, an dem es viele technische Veränderungen gibt, mit denen sie nicht mitkommen.

Lässt sich ein Einfluss neuer Technologien auf die Berufswahl junger Menschen erkennen?
Dazu gibt es bisher wenig Forschung, aber es ist ein fundamentales Thema. Ich denke, die Schulen tun ihr Bestes, um Kindern die neuen Fähigkeiten beizubringen. Dennoch finde ich, dass es nicht genug ist. Die Technik entwickelt sich so schnell, dass Bildungssysteme und Politik nicht hinterherkommen. Vor allem in Ländern mit viel Bürokratie und Problemen im Zugang zu qualitativer Bildung. Es gibt große Disparitäten zwischen öffentlicher und privater Bildung. Das schafft wiederum Asymmetrien.

Inwiefern kann sich technischer Fortschritt auf den Gendergap, also die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, auswirken?
Sowohl in entwickelten Ländern als auch in Entwicklungsländern ist zu beobachten, dass Männer stärker in den Naturwissenschaften und in technischen Karrieren vertreten sind. Zwar nimmt der Frauenanteil zu, aber es besteht ein Unterschied, der schwer zu beseitigen ist. Auf der anderen Seite haben Frauen Vorteile in den sozialen Fähigkeiten. Die sind immer gefragter. Wenn Technologie dazu führt, dass soziale Fähigkeiten mehr wertgeschätzt werden, könnte das den Gendergap beeinflussen. Aber das muss mit politischen Entscheidungen einhergehen.

Kann Technologie dazu beitragen, sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken?
Auf kurze Sicht gesehen generiert sie mehr Ungleichheit. Nicht nur zwischen Regionen, die geographisch und wirtschaftlich schon ungleich sind – Regionen, in denen die Technologie sich entwickelt, wachsen schneller. Sondern auch innerhalb der Regionen haben manche Personen Vorteile, wenn sie dank der Technik mehr verdienen. Manager*innen, Firmenchef*innen und Kapitaleigentümer*innen können in Firmen investieren und profitieren mehr als Angestellte. Die Herausforderung besteht darin, dass die Allgemeinheit von diesen Gewinnen etwas hat. Da muss die Politik handeln, indem sie Steuersysteme fortschrittlicher gestaltet und Geld intelligent ausgibt. Vor allem zugunsten der öffentlichen Bildung und Wissenschaft, sodass benachteiligte Personen bereits in der Schule Zugang zu Technik haben. Sodass sich der Arbeitsmarkt stetig wandelt und soziale Klassen aufsteigen. Ich glaube, wenn Regierungen schlau, verantwortungsbewusst und planungssicher agieren, kann das gelingen.

In manchen Ländern sieht man, dass Technologie auch zu einem größeren informellen Sektor führen kann. Wie das?
Für viele junge Menschen, die zuvor einen Job im formellen Sektor in aufstrebenden Unternehmen gefunden haben, gibt es jetzt weniger Möglichkeiten, weil viele dieser Jobs automatisiert werden. Also enden sie im informellen Sektor, bei Onlinehändlern oder Serviceapps. Das erhöht oft den Druck, mehr zu arbeiten, um genug Geld zu verdienen. Außerdem sind sie nicht sozialversichert. Es gibt also Gewinner und Verlierer des technischen Wandels.

Eigentlich könnte der technische Fortschritt uns die Arbeiten abnehmen, die keinem gefallen.
Klar, alles, was nicht gesund ist oder sehr repetitiv. Allerdings entstehen auf kurze Sicht eher Probleme – insbesondere, dass wenige Unternehmen mächtiger werden. Es ist gefährlich, wenn es keinen Wandel hin zu qualitativer Arbeit für alle gibt.

Du hast zu Brasilien, Mexiko, Argentinien und Chile geforscht. Inwiefern unterscheiden sich diese Länder in der Automatisierung?
Es gibt Unterschiede in der Einbindung in die internationale Wertschöpfungskette. Mexiko zum Beispiel ist stark mit den USA verbunden. Die haben viele Produktionsprozesse, zum Beispiel Montagearbeiten von Autos, dorthin verlagert. In Argentinien und Brasilien ist das anders, sie produzieren hauptsächlich für den nationalen Markt. Was aber Informations- und Kommunikationstechnik, Entwicklung und Wirtschaftswachstum angeht, sind die Tendenzen ähnlich.

Inwiefern könnten Automatisierung und KI etwas an der Nord-Süd-Dynamik in der Welt verändern?
Das ist ein großes Thema in akademischen Kreisen. Es gibt Beispiele, wo Industrien oder Firmen in Mexiko viel verlieren, weil Produktionsketten US-amerikanischer Firmen aufgrund der Politik und Kosten in die USA zurückgehen. Das kann die Entwicklung einiger Regionen in Mexiko, die vorher eingebunden waren, verzögern. Auf der anderen Seite sieht man in Südostasien eine bessere Integration und, dass diese Länder weiter in globale Wertschöpfungsketten eingebunden sind. Sie können sogar Stück für Stück ihren Mehrwert steigern und Löhne erhöhen. Aber immer beobachtet man, dass die Gewinner große Unternehmer*innen sind und Profit weiter konzentriert in deren Händen in zentralen Ländern bleibt. Zwar kann es zu einem Übertragungseffekt auf andere Sektoren, Regionen, Industrien kommen, doch trotz einzelner Knotenpunkte, die Innovationen, Entwicklung und Forschung fördern, sind wir noch weit entfernt vom Niveau der einkommensstarken Ländern, in denen die meisten Innovationen entstehen.
Es kann also sein, dass sich Ungleichheiten zwischen Norden und Süden noch verschärfen. Meine Hoffnung ist aber, dass es auf lange Sicht zu einer Angleichung kommt, auch wenn es darauf keine Garantie gibt, solange sich strukturell nichts ändert. Ich denke da an Finanzoasen oder an Steuerhinterziehung derjenigen, die am meisten Einkommen erzielen. Und wir haben noch nicht von Rohstoffpreisen gesprochen und Materialien, die für Handys, Autos und Computer benutzt werden. Deren Extraktion ist technologieintensiv und oft kommen die Materialien aus dem Globalen Süden. Das hat alles einen enormen intergenerationalen Preis – Flüsse trocknen aus, der Amazonas wird abgeholzt, viele strukturelle Probleme können Entwicklung auf lange Sicht beeinträchtigen. Das geht alles nicht ewig. Was passiert dann nach dieser ganzen Zerstörung? Wer übernimmt die Verantwortung?

Die bekannteste KI ist wohl ChatGPT. Manche unterstellen ihr, sie sei linksgerichtet. Inwiefern könnte das eine Chance für die Gesellschaft sein?
Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel mit einer großen Chance vor uns. Wir lernen gerade noch, wie wir mit Sprachmodellen umgehen. Heute benutzen wir sie für Alltagsprobleme und nicht, um soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen. Kurzfristig gesehen fällt es mir schwer, dem eine positive Wirkung auf die Entwicklung von Wirtschaft zuzugestehen. Im Bildungsbereich vielleicht eher. Aber auch hier gilt: Wenige Menschen sind in Lateinamerika in technischen Berufen beschäftigt. Die meisten arbeiten im Handel, in persönlichen Dienstleistungen oder im Primärsektor. Da sehe ich wenig positiven Einfluss durch die neuen Technologien. Wenn Technik aber besser genutzt wird, um zum Beispiel Klima- oder Risikoereignisse vorherzusagen, indem Daten besser verwertet werden, kann das in manchen Industrien punktuell Vorteile haben.

Was wäre dein Wunsch, wie wir als Menschheit KI nutzen?
Als Orientierung, ohne sie zu missbrauchen, und wie für alles, indem wir ein Gleichgewicht finden. Es ist wichtig, dass wir kritisch denken. Das ist Teil unserer menschlichen Fähigkeiten, die uns von KI unterscheiden. Damit wir Transformationen erreichen und uns besser mit uns und unserer Arbeit fühlen, mit unserer Umwelt. Damit wir gerechte Gesellschaften schaffen. Das alles ist nicht offensichtlich. Und wenn du als Kind nicht kritisch zu denken gelernt hast, ist es als Erwachsener noch schwieriger. Deshalb sind Bildung und gute Lehrer so wichtig – nicht nur in der Schule, auch in der Familie und im barrio. So lernen wir, mit digitalen Hilfsmitteln vernünftig umzugehen, denn die Welt und die Realität sind außerhalb der Bildschirme.

Andrés César

ist Dozent an der Universidad Nacional de la Plata in Buenos Aires, Argentinien. Am Centro de Estudios Distributivos, Laborales y Sociales („Zentrum für Verteilungs-, Arbeits- und Sozialforschung“) forscht er zu den Auswirkungen von Handel und technischem Fortschritt auf den Arbeitsmarkt und die Einkommensverteilung. Im Sommer hat César im Rahmen des Förderprogramms Global Faculty Program einen akademischen Aufenthalt am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin absolviert.


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