Gewöhnung an die Wohnungslosen
Die verfehlte Wohnungspolitik in Argentinien
Das Zentrum der Weltstadt Buenos Aires hat eine neue Zweckbestimmung. Wenn gegen zehn Uhr abends die letzten Geschäfte die Gitter herunterlassen, warten schon die nächtlichen Nutzer der Ladentüren, Hausflure und Treppenstufen ein paar Meter weiter. Die meisten der Menschen, die sich hier allnächtlich auf dem unbequemen Steinboden zur Ruhe legen, haben sich noch nicht an ihr Schicksal gewöhnt, sie leben erst seit kurzer Zeit auf der Straße.
Der Basiswarenkorb in Argentinien wird aktuell auf 716 Peso (200 US-Dollar) im Monat beziffert. Dieses Geld benötigt eine vierköpfige Familie, um neben dem Lebensnotwendigen auch weiterhin die Miete oder die Grundstückssteuer, Strom, Gas und Wasser und die Erziehung der Kinder zu bezahlen. Inzwischen fehlt es weit mehr als der Hälfte der ArgentinierInnen an diesem bisschen Einkommen. Man wird zu Jahresende 20 Millionen Arme in einer Bevölkerung von insgesamt 37,5 Millionen EinwohnerInnen zählen.
Lediglich 4,5 Millionen davon werden als so genannte strukturelle Arme in den Statistiken geführt. Das ist die Bezeichnung für diejenigen, die bereits in Armut geboren sind und nicht die Chance hatten, sich daraus zu befreien. Die restlichen 15,5 Millionen Menschen hatten einmal das, was man rückblickend kaum mehr als „Perspektiven“ bezeichnen kann. Sie hatten die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen, vielleicht zu studieren und sind heute die „neuen Armen“, wie sie in Anlehnung an den Begriff „Neureiche“ sarkastisch genannt werden. Ein Land, das vor wenigen Jahren noch als dünn besiedelt galt, ist inzwischen überbevölkert, legt man die entsprechenden Indikatoren zu Grunde: Auswanderung, hohe Kindersterblichkeit und bedingte Wohnungsnot.
Jeder Fünfte der arbeitsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos gemeldet. Die Chancen einer Neuanstellung gehen ebenso wie die Möglichkeit, die „Durststrecke“ in seinen eigenen vier Wänden zu überstehen, gegen null.
Bisher war man enger zusammengerückt. Überbelegung ist seit Jahren eine Folge der wirtschaftlichen Rezession. Das Haus der Eltern bot immer noch Platz für ein oder zwei erwachsene Kinder und deren Familien. Und der Familienbesitz aus besseren Zeiten war eine sichere Anlage gewesen, bisher.
Casa tomada
Eine schäbige Einzimmer-Wohnung im Hafenviertel La Boca kostet immerhin noch 250 Pesos, ein einträgliches Geschäft für die Besitzer der so genannten conventillos. Und trotz der hohen Arbeitslosigkeit gerade in den klassischen Arbeitervierteln, wird die Eintreibung der Miete rücksichtslos verfolgt. Wer in seiner Wohnung lebt, ohne Miete zahlen zu können, gilt umgehend als Besetzer. Der argentinische Neoliberalismus, zugeschnitten auf die Interessen der Besitzer, hat auch in dieser Beziehung vorgesorgt: die Verringerung des Mieterschutzes bei gleichzeitiger Vereinfachung der Prozeduren für die Räumung ermöglicht ein schnelles repressives Vorgehen. Mit der Aufrechterhaltung dieser Spielregeln, die von der Justiz gestützt und geschützt werden, verschärfen sich die Konflikte. Mindestens 15.000 Menschen sind in den letzten sechs Monaten in Buenos Aires auf die Straße gesetzt worden.
Zum ersten Mal in der Geschichte Argentiniens verlieren die Städte an Bevölkerung. Dabei fehlt es nicht an Wohnraum. In Städten wie Buenos Aires stehen Häuser und Fabrikgebäude leer und verkommen. Einige davon sind besetzt, aber eine Besetzer-Szene bildet sich nur langsam, dazu sind die neuen Erfahrungen zu unmittelbar, das Vorgehen noch sehr spontan und aus der puren Not heraus. Von den landesweit 150 besetzten Betrieben sind nur 20 organisiert. Das größte Problem ist, dass die ArbeiterInnen nur etwa 20 Prozent der ehemaligen Produktionskapazität erreichen können, weil ihnen das Kapital fehlt, das ins Ausland abgezogen wurde. Nur durch permanente Proteste und Verhandlungen mit den Behörden können sich die selbstverwalteten Betriebe halten.
Haus ohne Hüter
Unauffälliger gehen Land- und Hausbesetzungen vor sich. Etwa eine halbe Million der EinwohnerInnen Buenos Aires’ lebt auf besetzten Grundstücken oder in besetzten Häusern. Das sind im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Metropolen wenige, aber verglichen mit der Situation vor 20 Jahren bedeutet das einen Zuwachs um ein Vielfaches. Die ArgentinierInnen, die den Vergleich mit Ländern wie Peru oder Bolivien gern abtaten, sind schneller verarmt als alle lateinamerikanischen Nachbarn. Wenngleich sie noch nicht die Ärmsten sind, kommen immer mehr ArgentinierInnen dort an. Und selbst auf der untersten Ebene der Gesellschaftspyramide werden weiterhin Unterschiede gemacht. In den wachsenden Elendsvierteln herrscht der „Clientelismo“, ein Phänomen, dass sich die Parteien für die Wahlen zu Nutze machen. Fehlende staatliche Verteilungssysteme werden von scheinbar karitativen, hintergründig aber parteipolitisch operierenden Organisationen ersetzt. Der Staat und sogar internationale Organisationen lassen über sie die Notpakete in den Vierteln verteilen. Und die Organisationen vor Ort geben es an die eigene Klientel.
Auf ähnliche Weise funktionierte der staatliche soziale Wohnungsbau. Eingeführt während der Militärdiktatur, diente dieser Finanzierungsfonds eigentlich dem Wohnungsbau für Einkommensschwache. 900 Millionen US-Dollar standen jährlich für die staatliche Bautätigkeit im Wohnungssektor zur Verfügung.
Weil staatliche Wohnungsbauprogramme meist durch private Bauunternehmen und mit beträchtlichen Gewinnspannen für alle Beteiligten – also auch die staatlichen Auftraggeber – durchgeführt wurden, entstanden Haustypen, die erst für die untere Mittelschicht erschwinglich waren.
Nachdem die Entscheidung über die Verteilung der Wohnungen dezentralisiert wurde, kam 1994 ein alternatives Programm zustande, das andere Wege förderte und auch den Teil der Bevölkerung erreichte, der nicht vollständig mittellos, aber auch nicht in der Lage ist, sich ein richtiges Dach über dem Kopf zu leisten.
Diese Projekte hatten Erfolg und trugen zu einer eigenständigen Entwicklung des Wohnungsmarktes bei. Zu eigenständig, werden wohl jene politischen Mandatsträger gefunden haben, die die Programme oder wenigstens die Budgets so drastisch zusammenstrichen, dass kaum etwas übrig blieb. Denn die Demonstration politischer Macht und der Kauf von Wählerstimmen geht weiterhin einfacher durch die Vergabe fertiger Wohnungen und die Entmündigung der Bevölkerung.
Wie gewohnt?
Und selbst jetzt werden weiterhin schlüsselfertige Sozialwohnungen gebaut. In Córdoba sollen noch in den nächsten Monaten 12.000 neue Wohnungen entstehen. Ein Kredit der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) macht es inmitten der profunden Wirtschaftskrise möglich, die BewohnerInnen der Elendsviertel, die sich im überschwemmungsgefährdeten Flusstal des Rio Suquia befinden, umzusiedeln. Jedoch sind die 4.000 Arbeitsplätze in privaten Bauunternehmen, mit denen der Bevölkerung das Projekt als Wirtschaftsmotor verkauft werden soll, schlecht bezahlt und zeitlich befristet.
Es werden erneut eintönige Siedlungen mit Kleinsthäusern entstehen, wieder ohne dass die zukünftigen BewohnerInnen auch nur gefragt wurden, was oder wohin sie wollen. Die Zahlungsmoral bei derartigen Umsetzungen ist seit jeher gering, doch gerade jetzt ist es illusorisch, dass die „Kredite“ von den neuen EigentümerInnen zurückgezahlt werden.
Die offensichtlichen Gewinner scheinen jene zu sein, die neue Wohnungen auf diese Weise zugesprochen bekommen. Sie festigen mit der Umsiedlung jedoch ihre soziale Isolation, da sie irgendwo an die Peripherie verbannt werden, weit weg von ihren früheren Lebensbereichen in Zentrumsnähe.
Die weniger offensichtlichen, aber wahren Gewinner sind die privaten Unternehmer und ihre Helfer, die erneut am Bedarf vorbei ins Land hinein bauen, während Häuser im Zentrum leer stehen. Sie bekommen ihr Geld, während sich der Staat weiter verschuldet. Dabei versorgen sie lediglich ein Dreißigstel der Stadtbevölkerung, während mehr als einem Drittel der Menschen dort selbst für einfachste Grundversorgung – oder die Miete! – die Mittel fehlen.