Literatur | Nummer 321 - März 2001

Glanz und Elend eines mexikanischen Lebens

Martha Cerda erzählt von einer jungen Arbeiterin aus der mexikanischen Provinz, die in der Metropole ihre Träume verwirklichen will

Aus der Perspektive ihres ungeborenen Kindes, das nicht zur Welt kommen will, wird der Lebens- und Leidensweg einer Frau dargestellt, die nach Mexiko-Stadt fährt, um ein berühmter Star zu werden und nach langen Irrwegen schließlich enttäuscht im Alkoholismus endet. Eine Geschichte voller Tragik, Ironie und magischem Realismus, an deren Aussagekraft auch das etwas ins Kitschige gehende Ende nichts zu ändern vermag.

Sara Ferraro, Tindaro Ferraro

Mexiko-Stadt, 1943: Eine junge Frau schlendert durch die Straßen der Metropole, den Kopf voller Illusionen und Träume von einer Karriere als Sängerin oder Filmstar. Dank ihrer aufgemalten Seidenstrumpfnaht, ihrer falschen Haarteile und der gepolsterten Schultern schafft sie es, der Schauspielerin María Félix zum Verwechseln ähnlich zu sehen. Schon halten einladend die ersten Limousinen an, doch als sie gerade einsteigen will, erhält sie aus dem Innern ihres Bauches einen fötalen Fußtritt.
Das frühreife ungeborene Kind, das sich soeben bemerkbar gemacht hat, begreift jedoch schnell, dass es durch seine Existenz die hochfliegenden Träume seiner Mutter zerstören würde. Dies sind die Träume einer mittellosen ehemaligen Fabrikarbeiterin aus der Provinz, die die Suche nach dem besseren Leben, das sie in zahlreichen romantischen Filmen gesehen hat, in die Stadt getrieben hat. Auch die werdende Mutter ihrerseits tut ihr Bestes, um das störende Wesen, das sie an ihre einfache Herkunft kettet, zu verdrängen. Eine Heirat mit dem Vater des Kindes, dem Sohn der Fabrikbesitzerin, ist aus Standesgründen nicht möglich, und ein sozialer Aufstieg bliebe einer allein erziehenden armen Frau wohl verwehrt. Das Kind zieht sich deshalb in einen Winkel der Gebärmutter zurück und wartet auf einen geeigneteren Augenblick, um geboren zu werden.
Währenddessen geht in der Außenwelt, die Mutter und Kind nur über ein altes Radiogerät und gelegentliche Zeitungsschlagzeilen erreicht, der Zweite Weltkrieg zu Ende. Doch die Frau nimmt ebenso wenig Notiz von der Welt wie diese von ihr. Die Jahre vergehen, und weder meldet sich der Vater des Kindes, noch erfüllen sich ihre Karrierewünsche. Mit Ausnahme eines kurzen Zwischenspiels als Sekretärin eines Ministers und einigen kleineren Auftritten als Statistin verläuft ihr Leben zwischen aufgemalten Nähten und billigen, schäbigen Unterkünften, bis schließlich nach Jahren ihr wachsender Bauch sämtliche Hoffnungen zunichte macht.
Die Kluft zwischen ihren von der Werbung und von romantischen Schnulzen genährten Illusionen und ihrem realen Leben wird immer größer, sodass sie, enttäuscht und resigniert, schließlich völlig dem Tequila verfällt. Nur das Kind nimmt die Veränderungen der Außenwelt noch wahr, doch hält es ein Blick durch den mütterlichen Bauchnabel auf die unwirtliche Realität eines Armenviertels davon ab, zur Welt zu kommen.
Im Leben der Mutter spiegelt sich auch die mexikanische Geschichte wider: In dem Maße, wie die Mutter nach einem hoffnungsvollen Neubeginn in der Großstadt apathisch, heruntergekommen und resigniert endet, löst sich auch der mexikanische Traum von Wohlstand und Aufschwung auf wie die Palmolive-Seife aus der Werbung, die das Kind aus seiner Bauchperspektive wahrnimmt. Die Mutter bleibt ebenso abgewirtschaftet und verschuldet zurück wie der mexikanische Staat.
Als sich der Lebensüberdruss vollends der Mutter bemächtigt, bringt ein heftiges Erdbeben das Kind doch noch auf die Welt. Auf Grund dieser Erschütterung geraten Raum und Zeit durcheinander, sodass die Zeit der 40er Jahre wieder entsteht.
Dadurch fällt dem altklugen Neugeborenen plötzlich die verschwundene Korrespondenz seines verschollenen Vaters in die Hände. In diesem zweiten Teil des Buches, in dem durch Einsicht in die Briefe des Vaters dessen Perspektive gewonnen wird, beginnt die Geschichte sich im kitschigen Fahrwasser einer telenovela zu bewegen: Studium, Beruf und Familie haben das Muttersöhnchen Héctor Jahrzehnte lang daran gehindert, seine Geliebte aufzusuchen. Damit verflüchtigt sich leider der von Ironie umwehte tragische Erzählton, der den ersten Teil des Buches bestimmte. Dieser Teil lebte gerade von der Kontrastwirkung zwischen lebensverklärendem Bolero und der Härte des alltäglichen mexikanischen Existenzkampfs, aus dem sich die Protagonistin nicht herauszureißen vermag.
Trotz dieser Unstimmigkeit zwischen erstem und zweitem Teil legt uns die mexikanische Autorin Martha Cerda mit Das Leben ist ein Bolero ein lesenswertes und vielschichtiges Werk vor. Während der kurzen Spanne eines Abends lässt das Werk, das einige Elemente des magischen Realismus enthält, LeserInnen die Kluft zwischen der Illusion der telenovela und der harten Realität eines Frauenlebens an der Peripherie von Mexiko-Stadt nachfühlen.
Martha Cerda wurde 1945 in Guadalajara, Mexiko, geboren und ist unter anderem Gründerin und Leiterin des mexikanischen SchriftstellerInnenverbandes Sociedad General de Escritores Mexicanos. Das Leben ist ein Bolero (im Original Toda una vida) ist ihr bisher einziger Roman, der auf Deutsch vorliegt.

Martha Cerda: Das Leben ist ein Bolero. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2000, 223 S.

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