Nummer 289/290 - Juli/August 1998 | Sport

Gooool Brasil!

Brasiliens MusikerInnen singen über Fußball

Fußball und Musik – das scheint eine schwierige Beziehung zu sein.
Das Genre des Fußballerliedes, da heißt von Fußballern vorgebrachtes Gesangesgut, singende Fußballerinnen sind mir bisher nicht bekannt,
gehört sicherlich zum Grausamsten, das je zur Bestrafung
menschlicher Ohren erfunden wurde.

Thomas W. Fatheuer

Erinnern wir uns an Gerd Müller, der mit „Dann macht es Bumm“ Ernst Jandl Konkurrenz machen wollte. Dazu eine kleine Kostprobe:

Alle Mann – gehen ran
Sie sind da, ja,ja,ja
Heute geht’s rund – fürchterlich
Doch wenn’s kracht, dann denke ich…

Lassen wir’s gut sein, schließlich erwarten wir ja nicht ernsthaft, daß die kickenden Jungens große Sänger oder Denker sind. Da aber Schuster heutzutage nicht mehr bei ihren Leisten bleiben, ist in den letzten Jahre eine Unzahl derartigen Liedgutes in Vinyl gepreßt worden. Dazu kommen noch etliche Vereinshymnen, alles zusammen eine beträchtliche Produktion des Horrors. Aber gibt es einen einzigen wirklich guten Fußballsong, von einer anständigen Rockgruppe — deutsch oder englisch? Mir fällt keiner ein, was nicht heißt, daß es das nicht gibt, aber, wenn dann doch eher als Rarität.
Bis April 1998 jedenfalls hatte ich noch nie eine müde Mark für eine Fußballplatte ausgegeben. Kostproben aus Funk und Fernsehen haben mich darin nur bestätigt. Dann aber sah ich an einem Zeitungskiosk eine CD der brasilianischen Fußballzeitschrift Placar. „Agita Brasil“ wird versprochen – mit den großen Hits des Fußballs. Und die Liste der Namen ist wirklich beeindruckend: Daniela Mercury, Jorge Ben Jor, Skank, Gabriel o Pensador, dazu noch ein Textheft. Ich habe meinen Kauf nicht bereut.
Teils handelt es sich bei den Liedern um alte WM-Hits, teils um Kompositionen von Berühmtheiten der Musica Popular Brasileira (MPB) wie „Aqui é o país de Futebol“ von Milton Nascimento. Aber auch die alten Hits haben flotte Arrangements bekommen und ergeben insgesamt eine gut hörbare Mischung mit ein paar wirklichen Perlen. An erster Stelle der berühmte Hit von Jorge Ben Jor „Filho Maravilha“, eine Hymne an den Dribbelstar des FB Flamengo, der Anfang der siebziger Jahre die Herzen der Fans entzückte. Der Song ist ein Beispiel dafür, wie herrlich sich Fußball singen läßt. Natürlich sind die meisten Texte eher simpel, Refrains wie „Gool Brasil“ oder „A taca do mundo é nossa, com brasilero, nao há quem possa“ (Die Hymne von 1958) sind offensichtlich auch in Brasilien die Regel.
Nur ein kleiner Wehrmutstropfen: leider fehlt das vielleicht beste Fußballied, „O futebol“ von Chiquo Buarque. Im Einleitungstext vermerken die Herausgeber, daß trotz der auf der CD zusammengeführten Songs Fußball doch ein eher seltenes Thema der MPB ist. Die klassischen Sambasänger etwa wurden und werden nicht müde, die berühmten Sambaschulen wie Portela oder Mangueira zu besingen, aber vom Fußball ist nichts zu hören. Um so größer der Verdienst der Placar-Leute, die dieses kleine Juwel zusammengestellt haben.
Etwas ganz Besonderes ist der Beitrag von Gabriel o Pensador, dem populärsten (und ziemlich verpoppten) Rapper Brasiliens. Es ist das einzige sozialkritische Fußballlied und wurde eigens für die Placar-CD komponiert. Hier ist es — exklusiv in den LN!

KASTEN:
Brazuca

Fußball lernt man nicht auf der Schule
Im Land des Fußballs, die Sonne geht für alle auf,
aber sie scheint nur für wenige.
Und sie schien durch das Fenster der Hütte
in der Favela, wo ein Junge namens Brazuca lebt,
der kein Essen im Topf hatte,
der aber mit seinen Beinen Kunststücke vollbrachte
und die Leute verrückt machte.
Er war noch jung, da sagten sie schon, er sei ein neuer Pelé,
der mit dem Ball am Fuß macht, was er will
Er schoß die Freistöße besser als Zico oder Ma-
radonna
und dribbelte besser als Mané, jeh.
Und Brazuca wird größer, er erweckt das Interesse von Unter-
nehmern
Und da gibt es einen, der hat ein Poster von Romario im Schrank
Aber wie er spielt, das ist für
den A…
Sein Name ist Zé Batalha und er arbeitet, seit er klein ist
Für einen Hungerlohn, der seine Mutter und seinen jüngeren Bruder ernährt
Keiner von beiden studiert, denn fürs Volk gibt’s keine Bildung

Im Land des Fußball läuft’s schlecht
Aber Brazuca ist gut mit dem Ball, er wurde Profi,
Landesmeister, brasilianischer Meister,
Er kam in die Nationalmannschaft, lernte die Welt
kennen
Und die ganze Welt lernte ihn kennen mit der 10
Wie er auf dem Platz kommandiert als ob er Bil-
lard mit den Füßen spiele,
Mit Ruhe, mit Klasse, ohne Fehlpässe
Was ihn immer teurer machte
Und heute ist der bestbezahlteste Star in Europa
Kapitän der Nationalmannschaft bei der WM
Während sein Bruder Zé Batalha
und alle seine Kumpels von der Favela
aus der er kommt nur arbeiten
Schwitzen, in die Ecke gestellt
Versuchen sie, was Schöneres hinzukriegen
Als das Zeug, das er in seinem Henkelmann hat
Angeschlagen, von dem was er einstecken muß
Verwechselt mit einem Banditen,
Im Abseits, Bleib stehen
Ohne zu protestieren, um nicht die rote Karte zu
bekommen
Zé Batalha vor der Mündung des Maschinenge-
wehrs, auf den Knien
Versucht alles zu erklären mit dem Revolver im
Nacken,
Ich bin Arbeiter, Bruder von Brazuca
Er betet, hält den Atem an
Und dann bei der WM, Elfmeter für die Natio-
nalmannschaft
Der Ball auf dem Punkt, Brazuca wird schießen
Der Finger am Abzug, Zé Batalha wird sterben
Der Schiedsrichter pfeift, al-
les wie es sein muß
Noch ein Tor und Brasilien
ist Weltmeister
Und noch Körper auf dem
Boden
Das Land ist glücklich über jenes Tor
Alle sind zufrieden, alle umarmen sich
Viele weinen sogar, eine Feier
mit Stolz, in diesem Lande des Weltmeisters zu leben
Und in der Favela am anderen Tag, keiner arbeitet
Und es ist der Tag, um Zé Batalha zu begraben
Aber niemand ist da, um seinen Körper zu tragen
Nicht mal um für den Toten zu beten
Alle sind da mit der Flagge in der Hand
Und erwarten die Mannschaft am Flughafen
Weltmeister!
Der Scheinheiligkeit, der Gewalt, der Erniedri-
gung
Weltmeister!
Der Ignoranz, der Verzweifelung, der Unterer-
nährung
Weltmeister!
Der Feigheit, des Elends, der Korruption,
Weltmeister!
Der Mißachtung, des Hungers, der Prostitution.

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