Film | Nummer 308 - Februar 2000

Grabbeltisch im Kino

Interview mit Martin Rejtman, Regisseur von “Silvia Prieto”

„Das Leben ist ein Grabbeltisch“ – unter dieser Überschrift berichteten wir vor einem Jahr im Rahmen unseres Berlinale-Schwerpunktes über den argentinischen Film „Silvia Prieto“ von Martín Rejtmann (Vgl. LN 296). Jetzt kommt die irrwitzige und gleichzeitig frappierend alltägliche Geschichte endlich in die deutschen Kinos.

Bettina Bremme

„Silvia Prieto“ erzählt die Story einer Handvoll Twenty- und Thirtysomethings in Buenos Aires, die sich ziellos durch’s Leben wurschteln. Alle Ansätze, etwas zu verändern oder sich gar für eine Sache oder jemanden zu begeistern, scheitern nicht nur an einer Unmenge absurder Zufälle, sondern zuallererst an den ProtagonistInnen selbst. Da werden abgelegte Liebhaber mit der gleichen Nonchalance an die beste Freundin vermittelt, wie man auch häßliche Lampenständer oder andere ungeliebte Geschenke weiterreicht. Im Gegensatz zu vielen anderen argentinischen Filmen, wo Psychologie und Symbolik ganz groß geschrieben werden, läßt Martín Rejtmann jegliche Bedeutungsschwere im Ansatz verpuffen. Die entscheidenden Entwicklungen ergeben sich nicht aus einem dramatischen Konflikt, sondern aus einer Verkettung absurder Zufälle und aktionistischer Übersprungshandlungen. Beispielsweise ist das einzige, was die Titelheldin aus der Fassung bringt und in eine Identitätskrise schlittern läßt, die Tatsache, daß sie durch einen Telefonanruf erfährt, daß es noch andere Frauen gibt, die ebenfalls Silvia Prieto heißen.

LN: Martin, in vielen anderen argentinischen Filmen spielt die Suche nach der Identität, nach den kulturellen Wurzeln eine ziemliche Schlüsselrolle. In ‘Silvia Prieto’ dagegen lassen die Personen sich vom Zufall treiben. Bist du diesen Diskussionen über Identität überdrüssig?

Martin Rejtmann: In der Tat habe ich sämtliche Diskurse satt (lacht). Ganz besonders im Kino, wo der Diskurs immer so evident und offensichtlich ist. Wenn der Diskurs so aufgedrückt wird, bleibt der Film immer ein Stück weit auf der Strecke, verschwindet fast. Und was übrig bleibt, das einzige, was man wahr nimmt, ist der Diskurs. Und das finde ich immer sehr schade. Denn das Kino ist etwas Interessanteres, Lebendigeres als ein Diskurs.

Viele argentinische Filme – zum Beispiel die von Solanas oder Subiela – stecken voller Psychologie und Symbole. Auch in deinem Film taucht eine Vielzahl von Objekten auf – zum Beispiel Grillhähnchen, häßliche Puppen oder Lampenständer aus Flaschen. Diese Dinge sind zwar auffällig plaziert, haben jedoch gleichzeitig alle keinen offenkundigen Sinn: Eine Art Anti-Psychologismus oder Anti-Symbolismus?

Ja, das stimmt. Es gibt eine solche Vielzahl von Objekten, um ihnen die Bedeutung zu nehmen, um den Sinn aller Elemente, die in einem Film auftauchen, zu nivellieren, damit alles auf einem gleichen Niveau erscheint. Eine Person, ein Objekt: in dem Film haben sie fast den gleichen Wert. Sie sind alle Elemente eines Rasters von Dingen, die passieren.

Ist die Tatsache, daß alle Objekte und Personen mehr oder weniger die gleiche Bedeutung haben, für dich ein cinematographisches Spiel, oder ist das auch deine eigene Vision?

Für mich ist Kino machen kein Spiel, eine Geschichte erzählen ist kein Spiel. Es hat immer mit einer Vision zu tun. Es gibt immer eine merkwürdige Spannung – wie eine Leere, die man kreiert – das ist kein Spiel. Ein Spiel ist etwas vollkommen Leichtes, wo in einem bestimmten Moment eine Spannung geschaffen wird zwischen dem Spiel und dem Zuschauer, was eine Frage hervorruft. In einem Film dagegen gibt es immer eine Frage.

Was für eine Bedeutung hat die Persönlichkeit der Filmfiguren – und welche hat für dich der Zufall?

Das ist ein großes Thema: Was ist die Persönlichkeit, wer ist man? Was definiert eine Person? Ich denke, daß ist etwas, was man nie endgültig definieren kann, das ist etwas, was immer offen bleibt, was sich konstant ändert. Unter verschiedenen Umständen kann man anders sein. Und das, was darunter liegt, ist etwas, was wir nie wissen. Das macht alles beklemmender, aber gleichzeitig auch interessanter.

Wie siehst du deine Arbeit in der argentinischen Filmlandschaft?

Sehr weit außerhalb, komplett außerhalb. Mit der alten Generation von Regisseuren habe ich absolut nichts zu tun – mit den traditionellen Regisseuren.

Magst du sie nicht?

Nein, es ist nicht, daß ich sie nicht mag. Es gibt keinen Kontakt. Wir kennen uns nicht einmal. Es interessiert mich auch nicht, zu dieser Welt zu gehören. Ich habe das Glück, auch Bücher zu schreiben, und daher die Möglichkeit, nirgendwo fest zu sein – weder in der Literatur, noch im Kino. Denn für die Leute vom Kino bin ich ein Schriftsteller, und für die Literaturszene ein Filmemacher. Ich kann nirgendwo sein. Das finde ich sehr angenehm. Denn sich mit einer Gruppe zu identifizieren, bedeutet das Abgleiten in bestimmte Ideen und Geschmäcker. Ich dagegen ziehe einen individuelleren Weg vor, insbesondere in der Kunst. Bei anderen Dingen ist das anders. In der Kunst ist es besser, sich mit den Leuten zusammen zu tun, mit denen man Affinitäten hat. Für „Silvia Prieto“ tat ich mich beispielsweise mit Leuten zusammen, die aus ganz anderen Welten kamen als dem Kino – die von der Musik kommen, von der plastischen Kunst.

Wie habt ihr die ganzen Silvia Prietos gefunden, die am Schluß auftauchen? Heißen die Frauen tatsächlich alle Silvia Prieto?

Ja. Wir haben zunächst über das Telefonbuch gesucht, aber da gab es nur zwei – wie auch in dem Film. Jetzt gibt es vier oder fünf in Buenos Aires. Und dann fingen wir an, alle anderen Prietos anzurufen, die im Telefonbuch standen. Auf diese Weise tauchte eine weitere auf. Dann gingen wir die Wahlregister durch. Und da erschienen viele weitere – in Buenos Aires und der Provinz ringsum. Übrigens gibt es auch in Miami eine Silvia Prieto.

Wie reagierten die Silvia Prietos auf die Einladung, in dem Film mitzuspielen?

Im Film sieht man es ein bißchen. Als wir mit ihnen Kontakt aufnahmen, waren sie am Anfang etwas mißtrauisch und verstanden nicht so recht, worum es ging. Danach hatten wir das Glück, daß die Schauspielerin, die die andere Silvia Prieto spielt, sehr bekannt ist – sie arbeitet viel für das Fernsehen. Als wir dann erzählten, daß auch sie bei dem Treffen dabei sein würde, wurde es wesentlich leichter. Denn sie wußten dann, daß es sich um etwas Reelles und keinen Scherz handelte. Es gibt nämlich viele Fernsehprogramme in Argentinien, die so etwas wie versteckte Kamera machen. Die Silvia Prietos kamen also an den Drehort und blieben zwei oder drei Stunden da – wovon man im Film fünf Minuten sieht. – Es war gut. Ich glaube, sie treffen sich weiter.

„Silvia Prieto“; Regie: Martín Rejtmann; Argentinien 1998; Farbe, 92 Minuten.
Der Film startet am 2. März 2000

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